R. Wilczek: Nihilistische Lektüre des Zeitalters

Titel
Nihilistische Lektüre des Zeitalters. Ernst Jüngers Nietzsche-Rezeption


Autor(en)
Wilczek, Reinhard
Anzahl Seiten
207 S.
Preis
€ 24,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniel Morat, Seminar fuer Mittlere und Neuere Geschichte, Universität Göttingen

Friedrich Nietzsche, dessen Todestag sich am 25. August diesen Jahres zum hundertsten Mal jährt, gehört ohne Zweifel zu den einflussreichsten Philosophen der Moderne. Neben Marx und Hegel hat wohl kein Denker des 19. Jahrhunderts die (Ideen-)Geschichte des 20. Jahrhunderts so geprägt wie er. Besondere Brisanz erhielt die Geschichte der Nietzsche-Rezeption in Deutschland dabei vor allem durch den Ge- bzw. Missbrauch, den Nietzsches Denken - in erster Linie seine Begriffe des 'Übermenschen' und des 'Willens zur Macht' - im Nationalsozialismus erfuhr. Während diese Popularität im 'Dritten Reich' Nietzsche in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik zunächst als politisch diskreditiert erscheinen liess, entideologisierte sich die Nietzsche-Rezeption in den letzten Jahren zunehmend und liess, nicht zuletzt auf dem Umweg über Frankreich und Italien, auch in Deutschland ein differenziertes Nietzsche-Bild entstehen, das dem Denker seine Rezeption nicht mehr umstandslos zur Last legt. Im Rahmen dieser mittlerweile weitverzweigten Nietzsche-Forschung sind neben breit angelegten Wirkungsgeschichten 1 auch zahlreiche philosophische, philologische und ideenhistorische Einzelstudien entstanden, die die Nietzsche-Rezeption in je spezifischen Kontexten oder bei einzelnen Personen untersuchen.

Eine solche Einzeluntersuchung hat nun auch der Germanist Reinhard Wilczek vorgelegt, der sich in seiner Wuppertaler Dissertation der Nietzsche-Rezeption Ernst Jüngers gewidmet hat. Wilczek geht zurecht davon aus, daß in der nicht minder verzweigten Jünger-Forschung der prägende Einfluss Nietzsches auf Jünger allgemein anerkannt, um nicht zu sagen: ein Gemeinplatz ist (wurde er schliesslich auch von Jünger selbst stets eingestanden). Um so mehr verwundere es aber, so Wilczek, daß bisher noch keine detaillierte Einzelstudie diesen Einfluss zu ihrem zentralen Gegenstand gemacht habe. Denn solange eine solche Untersuchung fehle, komme der pauschale Verweis auf Jüngers Nietzsche-Nachfolge zumeist nicht über "spekulative Analogiebildungen" hinaus, "die sich philologischer Nachprüfbarkeit teilweise völlig entziehen" (S. 11). Wilczek selbst geht es deshalb um die "Suche nach übergreifenden ideengeschichtlichen Strukturmomenten und Leitlinien des Lesens, die sich philologischer Schlüssigkeit und Transparenz verpflichtet fühlen"(ebd.). Der ideengeschichtliche Ansatz sei dabei durch ein "Instrumentarium poetologischer Hermeneutik" (ebd.) zu ergänzen. Leider bleibt Wilczek aber eine genauere Erörterung dieses poetologischen Instrumentariums wie seiner Methode überhaupt schuldig. Es ist zwar verständlich, sich gegen die Übermacht der erdrückenden Jünger-Literatur mit dem Argument methodischer Innovation zur Wehr setzen zu wollen. Wilczeks zum Teil harsche, zumeist in den Fussnoten geäusserte Kritik an anderen Jünger-Exegeten bekommt aber einen etwas schalen Beigeschmack, wenn der stete Verweis auf fehlende oder zu leistende philologische Nachprüfbarkeit und methodische Genauigkeit durch die eigene Arbeit nur bedingt Rückendeckung erhält. Denn - dieses Urteil sei hier vorweggenommen - Wilczek gelingt der Nachweis der "poetologischen Relevanz" (ebd.) der eigenen Fragestellung und die Einlösung des Anspruchs, über "spekulative Analogiebildungen" hinauszukommen, mit seiner eigenen Studie nur sehr partiell.

Die zu Beginn formulierte These, daß Nietzsches Diagnose von der "Heraufkunft des europäischen Nihilismus" die "Leitlinie der Nietzsche-Rezeption Jüngers" (S. 12) darstelle, verfolgt Wilczek in drei Hauptkapiteln, die sich nach den von ihm ausgemachten drei zentralen Phasen von Jüngers Nietzsche-Rezeption einteilen. Die erste Rezeptionsphase reiche von den frühen Kriegsbüchern bis zum 'Abenteuerlichen Herzen' von 1929 und zeichne sich in erster Linie durch eine Adaption der vitalistischen und dionysischen Grundzüge von Nietzsches Philosophie aus. Diese Phase untersucht Wilczek näher, indem er sich den von Nietzsche inspirierten "dionysischen Gestalten" (S. 33) im Frühwerk Jüngers - dem Tänzer, dem Spieler, dem Abenteurer und dem Barbar - zuwendet. Außerdem erfolgt hier eine Auseinandersetzung mit der einflussreichen Studie von Rainer Grünter über Jüngers Dandysmus 2. Während Wilczek das Frühwerk also in erster Linie durch Nietzsches Dichotomisierung des Apollinischen und des Dionysischen geprägt sieht, rückt für ihn in der zweiten Rezeptionsphase, in deren Zentrum der 'Arbeiter' von 1932 steht, verstärkt die Auseinandersetzung mit dem Nihilismus in den Mittelpunkt. Durch eine Übertragung von Nietzsches 'Willen zur Macht' auf seine Technikmetaphysik und durch die Konstruktion eines Arbeiter-Übermenschen entwerfe Jünger hier die Vision einer Überwindung des Nihilismus durch den Nihilismus. Jüngers "Einbeziehung der Technik als zentrale Kraft der Moderne" stelle dabei die "entscheidende Neuerung gegenüber seinem Lehrmeister Nietzsche" (S. 103) dar. Von dieser - selbst nihilistischen - Technikeuphorie habe sich Jünger aber schon in den 30er Jahren wieder distanziert. Denn in der dritten Rezeptionsphase, die Wilczek mit den 'Marmorklippen' von 1939 beginnen und mit dem 'Waldgang' von 1951 enden läßt, entwickele Jünger eine zunehmend scharfe Kritik am technokratischen Totalitarismus, wie er ihn im Nationalsozialismus als dem, so Wilczek, "realgeschichtlichen Nihilismus" (S. 130) verkörpert sehe. Diese Wandlung Jüngers zum "distanzierten Beobachter und Analytiker des Nihilismus" (S. 140) beinhalte auch eine "Neubewertung der späten Willensphilosophie Nietzsches" (S. 137) und eine "Abkehr Jüngers von Nietzsches vitalistischer Haltung" (S. 143). Jüngers Schriften seit 1951 behandelt Wilczek dann nur noch kursorisch in einem kurzen Ausblick, da das Nihilismusthema und der direkte Bezug zu Nietzsche mit den beiden Essays 'Über die Linie' von 1950 und 'Der Waldgang' von 1951 mehr oder weniger abgeschlossen sei und in späteren Texten nur noch eine Art schwachen Nachhall erfahre.

Diese Entscheidung, die Untersuchung 1951 abzubrechen, vermag nicht wirklich zu überzeugen, denn Jüngers Auseinandersetzung mit dem Nihilismus und der Technik dauerte noch mindestens bis zum Essay 'Der Weltstaat' von 1960 und den 'Adnoten zum Arbeiter' von 1964. Doch das Problem von Wilczeks Studie liegt nicht primär in dieser Auslassung am Ende, es liegt vielmehr in der Anlage und der Durchführung der Arbeit als ganzer. Denn anstatt eine neue, erweiterte Perspektive auf das Werk Jüngers durch die Fragestellung nach der Nietzsche-Rezeption zu werfen, erscheint diese Problemstellung von Anfang an als thematische Einengung, die Jünger nur noch dort wahrnimmt, wo er als Nietzsche-Rezipient erscheint. Gleichzeitig erliegt die Arbeit aber der klassischen Gefahr, plötzlich alle umstrittenen Fragen mit dem eigenen Zugriff klären zu wollen. So meint Wilczek etwa, die in seinen Augen zu einseitige (weil zu 'ideologische') Interpretation des 'Arbeiter' einzig auf die "mangelhafte Rekonstruktion seiner geistesgeschichtlichen Bezüge zu Nietzsche" (S. 118) zurückführen zu können. Dabei überdehnt er die Erklärungskraft des Nietzsche-Arguments nicht selten und scheitert gerade dann an seinem eigenen Anspruch der philologischen Nachprüfbarkeit. So etwa, wenn er bei der Interpretation der Novelle 'Sturm' von 1923 selbst ins Spekulative abrutscht: "Dieses Gliederungsprinzip [der Novelle], der Wechsel von kontemplativer Reflexion und kriegerischer Handlung dürfte dem von Nietzsche geprägten Begriffspaar des 'Dionysischen und Apollinischen' folgen." (S. 55; Hervorhebung D.M.) Die thematische Engführung spiegelt sich außerdem in der schmalen Quellenbasis. Denn entgegen seiner Beteuerung bleibt Wilczek die von ihm selbst eingeforderte "Einordnung in einen übergeordneten geistesgeschichtlichen Nexus" (S. 49) schuldig. Er bezieht zwar einzelne Bezugspersonen von Jüngers Denken in seine Argumentation mit ein, wie etwa Oswald Spengler, Gottfried Benn, Hugo Fischer, Martin Heidegger und Friedrich Georg Jünger, und thematisiert am Beispiel von Hermann Rauschning und Walter Schubart auch die zeitgenössische Rezeption von Jüngers Schriften. Doch auch diese Verweise bleiben auf einer sehr schmalen Textbasis und erlauben ihrerseits keine Verortung in einem breiteren ideen- und intellektuellenhistorischen Feld, wie sie ja eigentlich ausgehend von der breiten Forschungsliteratur leicht möglich gewesen wäre. (Die zentrale Arbeit von Steven Aschheim etwa wird von Wilczek zwar an einer Stelle zitiert, er zieht sie aber nicht heran, um eine vergleichende oder einordnende Perspektive auf die Spezifik von Jüngers Nietzsche-Rezeption zu eröffnen.) Gleichzeitig kommt Nietzsches Denken selbst nur in den Dimensionen zur Sprache, in denen es auch von Jünger aufgegriffen wurde. Im Sinne einer Relationierung der beiden Figuren wäre es aber durchaus interessant gewesen, auch über die Positionen Nietzsches etwas zu erfahren, die Jünger nicht rezipiert hat.

Diese thematische und methodische Engführung Wilczeks geht einher mit einer mangelnden Distanz zu seinem Gegenstand. Zum einen äussert sich dies in der Sprache, die zum Teil so deutlich am Vorbild Jüngers orientiert ist, daß die Unterscheidung von Paraphrase fremder Gedankengänge und eigenem Argument stellenweise verschwimmt. So etwa, wenn Wilczek von der "höhere[n] Wirklichkeit menschlichen Daseins und ihre[m] absoluten, metaphysischen Wert" (S. 162) spricht, von einer seit Jahrtausenden unveränderten "Grundfrage, die an den Menschen herantritt" (S. 178), oder von "Nietzsches Verdienst [...], diesen [dionysischen] Grundzug des Lebens wiederentdeckt und gegen pseudomoralisierende Tendenzen des Zeitalters verteidigt zu haben" (S. 40). Zum anderen kommt die mangelnde Distanz in offen apologetischen Äusserungen zum Ausdruck, die Jünger gegen den politischen Vorwurf in Schutz nehmen sollen, rechter Ideologe oder gar Protofaschist gewesen zu sein. Besonders problematisch ist dabei, daß Wilczek hier den (uneingelösten) Anspruch methodischer Genauigkeit und "wissenschaftlicher Sorgfaltspflicht" (S. 87) ins Felde führt, um unverhohlen Gesinnungspolitik zu betreiben. So gibt er zwar durchaus zu, daß es in Jüngers Frühwerk "bedrückende Parallelen zu rechtsradikaler Gesinnungsliteratur dieser Epoche" (S. 65) gebe und daß auch der 'Arbeiter' "eine gewisse inhaltliche Nähe zu rechtsextremistischen Anschauungen der Weimarer Zeit" (S. 117) aufweise. Es dürften aber "Jüngers publizistische Tätigkeit dieser Zeit nicht mit seinen literarischen Veröffentlichungen aus dem gleichen Zeitraum vermischt werden" (S. 74), und auch dem 'Arbeiter' fehle letztlich der "appellative Charakter eines politischen Manifests" (S. 117): "Es ist zwar zutreffend, daß der 'Arbeiter' radikale Lösungen vorschlägt, aber dieser Radikalität fehlt jede politische Programmatik." (ebd.) Im Übrigen rühre die "oftmals übertriebene und unangemessene Ideologisierung des 'Arbeiters'" nur aus der Tatsache, "daß Jüngers Geschichtsutopie am Vorabend der nationalsozialistischen Machtergreifung von 1933 veröffentlicht wird", was wiederum "viele Interpreten dazu verführt [hat], politische Zusammenhänge zu sehen oder zu konstruieren, die es in den supponierten Formen aller Wahrscheinlichkeit wohl nie gegeben hat" (S. 106).

Unabhängig davon, daß schon der Rede von den "Parallelen" und der "Nähe" Jüngers zur "rechtsradikalen Gesinnungsliteratur" eine verharmlosende Tendenz innewohnt, da sie es nicht erlaubt, Jüngers Texte selbst als rechtsradikale Gesinnungsliteratur zu lesen, zeugen diese Äusserungen von einem profunden Unverständnis der Historizität auch literarischer Produktion. Der 'Arbeiter' ist schliesslich nicht ganz zufällig 1932 entstanden, und wo sonst sollte man ihn historisch einordnen, als "in den Kontext der faschistischen Machtergreifung" (ebd.)? Außerdem sollte gerade eine Untersuchung zu Jüngers Nietzsche-Rezeption den engen Zusammenhang erkennen können, der in den 20er Jahren zwischen Jüngers literarischem Schaffen und seinem politischen Engagement geherrscht hat. Denn was bedeutet Jüngers 1929 ausgesprochene Forderung nach der mit dem Flammenwerfer zu vollziehenden "grosse[n] Säuberung durch das Nichts" 3 anderes als die aktivistische Adaption eines ästhetischen Nihilismus? Auch Wilczeks Bemühen, Jünger frühzeitig vom radikalkonservativen Aktvisten zum Chronisten und Visionär umzudeuten, und ihn von Anfang an von den Nationalsozialisten und deren vulgärem Nietzscheanismus abzugrenzen, folgt vorschnell Jüngers Selbststilisierung und unterzieht sich nicht der Mühe eines eigenen Urteils.

Es liessen sich weitere Beispiele ähnlich apologetischer Äusserungen anführen, die insgesamt dazu führen, daß nach der Lektüre von Wilczeks Studie das eigentlich Alarmierende nicht ihre methodischen Unzulänglichkeiten sind, sondern vielmehr die Tatsache, daß Wilczek seine Forderung nach einer "philologisch fundierten, differenzierten Haltung" und nach einem "kritisch-verfeinerten Zugang" (S. 163) durch seine normative Einseitigkeit selbst diskreditiert. Ein Fortschritt der neueren Jünger-Literatur bestand gerade darin, die ideologische Aufgeregtheit vergangener Kontroversen hinter sich gelassen und eine nüchternere Perspektive eingenommen zu haben. 4 Reinhard Wilczek ist hinter diesen Standard zurückgefallen und hat unter dem Anspruch wissenschaftlicher Objektivität ein Stück Gesinnungsliteratur vorgelegt. Das von ihm selbst aufgeworfene Forschungsdesiderat einer kontextualisierenden Analyse von Jüngers Nietzsche-Rezeption konnte er auf diese Weise nicht füllen.

Anmerkungen:
1 Vgl. hier in erster Linie die grundlegende Arbeit von Steven E. Aschheim: The Nietzsche Legacy in Germany 1890-1990, Berkeley 1992. Als wohl neuestes, vielleicht auch abgerundetstes Produkt der Nietzsche-Forschung vgl. jetzt Rüdiger Safranski: Nietzsche. Biographie seines Denkens, München 2000.
2 Vgl. Rainer Grünter: Formen des Dandysmus. Eine problemgeschichtliche Studie über Ernst Jünger, in: Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte 46/1952, S. 170-201.
3 Jünger, Ernst: "Nationalismus" und Nationalismus, in: Das Tagebuch 10/1929, S. 1552-1558, hier: S. 1556.
4 Vgl. etwa die neuere Arbeit von Elliot Y. Neaman: A Dubious Past. Ernst Jünger and the Politics of Literature after Nazism, Berkeley / Los Angeles / London 1999.

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