: Rückblick auf die Natur. Eine Geschichte des Menschen und seiner Umwelt. München 1997 : Luchterhand Literaturverlag (und Limes Verlag), ISBN 3-630-87993-4 246 S. DM 38,00

: Flüsse und Kloaken. Umweltfragen im Zeitalter der Industrialisierung (1870-1914). Stuttgart 1997 : Klett-Cotta, ISBN 3-608-91822-1 454 S. DM 148,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Zeller, University of Pennsylvania, Dept. of History and Sociology of Science

Zwei Buecher, ein Thema: Sowohl Sieferle als auch Bueschenfeld betreiben Umweltgeschichte, also beschaeftigen sich mit dem historischen Verhaeltnis des Menschen zu seiner natuerlichen Umwelt. Doch ausser dieser grundsaetzlichen Uebereinstimmung scheinen beide Arbeiten wenig gemein zu haben. Waehrend Sieferle in einem kleinen Buechlein eine Umweltgeschichte der longue durée anstrebt und Menschheitsepochen im Jahrtausendschritt durcheilt, interessiert sich Bueschenfeld vorrangig fuer die Abwasserproblematik im deutschen Kaiserreich. Hinzu kommt, dass Sieferle mit seinen Veroeffentlichungen aus den achtziger Jahren und dem Status als Universitaetsprofessor zu den einschlaegigen Namen des Fachs gehoert; Bueschenfelds Arbeit hingegen ist die ueberarbeitete Version seiner 1995 an der Universitaet Bielefeld eingereichten Dissertation.

Trotz all dieser Unterschiede erscheint ein Vergleich beider Buecher reizvoll und lohnend. Er kann naemlich nicht nur den Stand der umweltgeschichtlichen Forschung in Deutschland schlaglichtartig beleuchten, sondern auch das Verhaeltnis von Einzelstudien und Ueberblicksdarstellungen beleuchten und weitere Wege der Umweltgeschichte aufzeigen.

Charakteristisch fuer die hierzulande betriebene Umweltgeschichte ist ein hoher Grad an Selbstreflexivitaet ueber ihre Methoden und Inhalte; und die beiden vorzustellenden Werke machen in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Die Autoren verorten ihre Arbeit in den fachspezifischen Debatten, etwa um ein Eigenrecht der Natur und die entsprechenden Folgen fuer historisches Arbeiten.

Bueschenfeld stellt darueber hinaus die Frage, inwieweit Fragen und Ergebnisse der Umweltgeschichte fuer aktuelle politische Probleme nuetzlich sein koennen. Eine der Staerken seines Buches besteht darin, diese und die anderen Eingangsfragen immer wieder zu stellen und anhand des jeweiligen Erkenntnisfortschritts neu zu beantworten. Seine Problemstellung speist sich ausserdem aus dem aktuellen soziologischen Theorem einer "reflexiven Modernisierung" in der Nachfolge Becks. Bueschenfeld beschreibt Wasserverschmutzung als geeignetes umwelthistorisches Forschungsfeld, da durch die Ableitung privater und industrieller Abwaesser in das "naturgegebene Element" Wasser menschliche und natuerliche Umwelten zusammentreffen. Fuer seine Untersuchung verlagert er den Fokus von den in der Stadtgeschichte haeufiger untersuchten privaten Kloaken und menschlichen Produkten auf industriell erzeugte Abwaesser, besonders die der Kaliindustrie. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht dabei die Frage, welche Gewaesserbelastung als ertraeglich und hinnehmbar angesehen wurde. Dieses  soziale Kriterium der Toleranz von Abfallmengen entsteht in einem Aushandelungsprozess zwischen Politik, Wirtschaft und Wissenschaft. Als Mittel und Ziel solcher Loesungsversuche untersucht Bueschenfeld den Grenzwert, also diejenige Menge von Abfallstoffen, die noch als zulaessig (im juristischen Sinn von zugelassen und im sozialen Sinn von tolerierbar) gilt.

Die Analyse von Entstehung und Verwendung dieses Grenzwertkonzeptes macht die Staerke und Originalitaet des Buches aus. Bueschenfeld zeigt, wie dieses scheinbar innerwissenschaftliche und vorgeblich in die politische Sphaere importierte Kriterium zuallererst ein Produkt sozialer Prozesse und jeweiliger Interessen ist. Damit ist sein Werk nicht nur fuer Umwelt-, Technik- und Wissenschaftsgeschichte ein wichtiger Beitrag, sondern erweitert die Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Kaiserreichs um die Untersuchung eines auf den ersten Blick nachrangigen Feldes.

Der Untersuchungszeitraum Bueschenfelds orientiert sich im Titel an den politischen Eckdaten des deutschen Kaiserreichs. (Eine solche Periodisierung ist fuer Prozesse und Probleme umwelthistorischer Relevanz selten nuetzlich, und der Autor ignoriert sie denn auch mehrfach.) Innerhalb dieser Jahrzehnte etablierten sich Disziplinen und Subdisziplinen in den Naturwissenschaften, griff die Popularisierung ihrer Erkenntnisse Platz, institutionalisierte sich die Staedtehygiene als Objekt kommunaler Gesundheitsvorsorge, und es fand die Pettenkofer-Koch-Debatte um den Ursprung und die Uebertragbarkeit von  Krankheiten statt. Leser von Richard EvansA "Tod in Hamburg" sind ueberdies mit dem Szenario einer staedtischen Choleraepidemie vertraut. All diese Aspekte verwebt Bueschenfeld vor dem Hintergrund der Industrialisierung der Landwirtschaft auf der Grundlage von Kaliduengern zu einer teilweise dichten Untersuchung. Da die zeitgenoessischen Konflikte oft in Prozesse muendeten und Gerichte somit als Aushandelungsarenen dienten, sind auch rechtshistorische Untersuchungspfade notwendig.

Die Untersuchung gewinnt aber in erster Linie durch die Syntheseleistungen des Autors. Fuer kommunale und wissenschaftliche Akteure konstatiert er ein "facettenreiches historisches Umweltbewusstsein", auch wenn es die Zeitgenossen nicht so nannten. Damit untergraebt er die im Konzept der "reflexiven Modernisierung" unterstellte Neuartigkeit der Umweltkrise nach grossen Katastrophen wie Tschernobyl oder Seveso; vielmehr wurde die  Industriegesellschaft bereits im Kaiserreich "sich selbst zum Thema und Problem", stellt Bueschenfeld fest. Seine Betrachtung des Grenzwertkonzepts ist originell und duerfte der Umweltgeschichte einige Impulse anbieten. Dem Autor zufolge fuehrten Vorstellungen eines limitierenden Faktors bereits dann zu einem Mentalitaetswandel, als sie noch gar nicht erprobt waren. Der Grenzwert bot naemlich eine Strategie zur Eingrenzung der Modernisierungsrisiken an, ja es bestand sogar die Hoffnung, ein unschaedliches Mass der Naturbelastung erreichen zu koennen. Die Phase der Umsetzung setzt er in den Jahren nach 1910 an.

Es gehoert allerdings zu den Unschaerfen dieser Untersuchung, wenn Bueschenfeld nach einer Analyse der Aushandelungsprozesse ueber Grenzwerte schreibt, dass die Wissenschaftlichkeit dieses Konzepts nun "entzaubert" (389) sei oder Grenzwerte als Produkte interessengeleiteter Wissenschaft "enthuellt" (383) seien. Denn in seiner Untersuchung der Ausgangskonstellationen hatte er bereits erfolgreich die Vorstellungen einer "reinen" Wissenschaft als naiv postuliert. Bueschenfeld haette seine Ergebnisse verstaerken koennen, wenn er die jeweiligen gegebenen und genutzten Handlungsspielraeume von Akteuren aus Wissenschaft, Politik und Wirtschaft in der Endanalyse nochmals staerker akzentuiert haette, anstatt bloss dekouvrierend aufzutreten. Abgesehen von sprachlichen Ausrutschern, die auf die Abwesenheit eines Lektors hindeuten ("buergerinitiativ organisierter Protest", S. 360), praesentiert Bueschenfeld seine Argumente in zugaenglicher Form, auch wenn gelegentliche Wiederholungen stoerend wirken. Merkwuerdig ist, dass in seiner Historiographie des fruehen Heimatschutzes in Rollins und Knaut zwei einschlaegige Autoren fehlen.

Mit groesserem Anspruch tritt Sieferles "Rueckblick auf die Natur" auf. Er versucht das etwas angestaubte Genre der Universalgeschichte - mittlerweile als "master narrative" verpoent - zu bereichern und verspricht "eine Geschichte des Menschen und seiner Umwelt". Er wendet sich nicht an ein Fachpublikum professioneller Historiker, sondern an eine breitere, historischen Fragen aufgeschlossene Leserschaft. Von den palaeolitihischen Jaeger- und Sammlergesellschaften holt der Autor in einem weiten Bogen aus und erreicht schliesslich die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Das ist gewagt, und aus seiner Adlerperspektive sucht Sieferle einen roten Faden. Er findet drei Untersuchungsfelder, anhand derer er die 223 Seiten seiner Darstellung gliedert. Die Gruende fuer eben diese Auswahl werden nicht gegeben.

Die erste Problemzone bilden die Energiesysteme der jeweiligen Gesellschaften (hier waere anzumerken, dass die untersuchten Objekte umso westlicher und umso europaeischer werden, je naeher die Darstellung der Gegenwart kommt und auch diese Einschraenkung nicht begruendet wird). Wer mit Sieferles Arbeiten, insbesondere "Der unterirdische Wald", vertraut ist, stoesst hier auf wenige Ueberraschungen. Das Solarsystem, also die auf unmittelbarer Sonnenenergie beruhenden vormodernen Gesellschaften, werden von expansiveren, fossilen Energiesystemen abgeloest.

Welche kulturellen Selbstorganisation die jeweiligen Gesellschaftsformen aufwiesen, bildet den zweiten Teil der Untersuchung. Er ist am wenigsten mit den Fragestellungen der Umweltgeschichte verknuepft und bietet einen breiten Ueberblick ueber die Herausbildung von Hierarchieformen. Fragen und Antworten sind anthropologischen Zuschnitts, und fuer den nach quellengesaettigter Analyse suchenden Historiker erscheinen Antworten auf die Frage, warum denn die neolithische Revolution stattgefunden hat, notwendigerweise mehr oder minder spekulativ.

Am ertragreichsten sind Sieferles Ausfuehrungen zur Geschichte der Landschaft. Er beschreibt den physischen Landschaftswandel, indem er Veraenderungen durch agrarwirtschaftliche und industrielle Nutzung als einschneidende Entwicklungen untersucht. Im Gegensatz zu landlaeufigen und im Kern romantisierenden Vorstellungen verweist er darauf, dass sich Landschaften auch ohne und vor der Einwirkung des Menschen dynamisch veraenderten, indem Vegetationsformen auf Klimaveraenderungen reagierten oder einzelne Pflanzen in neue Gebiete vordrangen. Die Meliorationsanstrengungen in der von ihm so genannten "Agri-Kulturlandschaft" und nachfolgende Landschaftsypen misst Sieferle an der Elle der oekologischen Vielfalt, also der Anzahl distinkter biologischer Lebensraeume. Weil die landwirtschaftliche Landschaft "bunter" wurde, ist sie ihm auch wertvoller. Fuer die Industrialisierung konstatiert der Verfasser zunaechst eine gewachsene Vielfalt, dann jedoch werde die Landschaft immer gleichfoermiger. Mit der "Gewalt eines Naturprozesses" setzte dann nach dem Qualitaetssprung des 50er- Jahre-Syndroms, das Sieferle von Pfister uebernimmt, die Ueberformung zur "totalen Landschaft" ein. Der geometrische Funktionsstil habe sich nach dem Zweiten Weltkrieg durchgesetzt, eine aesthetische Homogenisierung von Stadt  und Land sei angebrochen und in der "programmatisch geschichtslosen" Bundesrepublik habe dieser Prozess am weitesten gegriffen.

Mit einem Ausblick auf den Verlust der Nationalkulturen im Zeitalter der Globalisierung endet das kleine, sperrige Buch. Auf einer fachhistorischen Ebene erscheint vor allem die Hinwendung zur Landschaftsgeschichte als bedeutsam. Gleichzeitig zeigt es die Moeglichkeiten und Grenzen eines universalgeschichtlichen Ansatzes auf, in dem neue Befunde allgemeinverstaendlich praesentiert werden koennen, der Ertrag fuer die Fachdiskussion jedoch begrenzt bleiben muss. Deutlich wird aber auch, dass Sieferle seine wissenschaftlichen Bemuehungen mit einer persoenlichen Agenda vermischt. In der Darstellung vermischen sich immer wieder deskriptive und normative Elemente, wird historische Analyse zusehends zum Futter fuer Zeitkritik. Es sind genau diejenigen Argumentationsmuster von Verlust und ohnmaechtigem Zuschauen, die Sieferle andernorts als Kennzeichen der konservativen Kulturkritik ausgemacht hat und nun selbst in seinen Tiraden gegen "Baumarktplunder" verwendet. Nicht umsonst nennt er sein zweites  Kapital anspielungsreich "Kulturarbeiten" - so lautete auch der Titel der einflussreichen aesthetischen Arbeiten von Paul Schultze-Naumburg zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Die Neigung zum beinahe schon kulturpessimistischen Hochsitz der Betrachtungsebene enthebt manche Schlussfolgerungen des Buches einer geschichtswissenschaftlichen Rezeption. Die allgemeinen Darstellungen Sieferles zum historischen Mensch-Umwelt-Verhaeltnis tragen bisweilen den Stil einer Ueberblicksvorlesung. Allgemeiner stellt sich im Vergleich mit Bueschenfelds detailreicher Arbeit die Frage, ob denn die Umweltgeschichte  hierzulande schon reif fuer solche synthetisierenden Arbeiten ist. Anhand der beiden rezensierten Buecher muss man dies wohl verneinen. Vielmehr zeigt sich, dass Untersuchungen, die zwischen dem grossen Wurf und nicht generalisierbaren Mikrostudien angesiedelt sind, weiterhin wichtige Beitraege zur Umweltgeschichte leisten koennen. Damit hat sie wohl eher eine Chance, sich als feste Groesse in den historischen Wissenschaften zu etablieren.

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