H. Duchhardt u.a. (Hgg.): Vision Europa

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Titel
Vision Europa. Deutsche und polnische Föderationspläne des 19. und frühen 20. Jahrhunderts


Herausgeber
Duchhardt, Heinz; Morawiec, Malgorzata
Reihe
Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abteilung für Universalgeschichte 60
Erschienen
Anzahl Seiten
143 S.
Preis
€ 24,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hans-Jürgen Bömelburg, Nordost-Institut Lüneburg

Die Publikation ist Teil des am Institut für Europäische Geschichte in Mainz angesiedelten Forschungsprojekts zu „Deutschen und ostmitteleuropäischen Europa-Plänen“. Sie enthält im Kern Referate einer Sektion des Historikertages aus dem Jahre 2002. Der zeitliche – von etwa 1789 bis zum Zweiten Weltkrieg – und räumliche Zuschnitt auf Deutschland und Polen wird von den Herausgebern mit der Arbeitshypothese begründet, dass in Gesellschaften, die erst spät zur nationalen Einheit fanden, der Europadiskurs besonders ausgeprägt gewesen sei, da hiermit eine Projektion politischer Wünsche auf ein föderatives Subjekt verbunden gewesen sei, das die nationale Einheit substituiert habe (S. XI). Innerhalb des gesteckten Zeitrahmens werden zwei Schwerpunkte gesetzt, einerseits die europäische „Sattelzeit“ zu Beginn des 19. Jahrhunderts, deren Übergangsgesellschaften insgesamt reich an Europaprojekten gewesen seien und zweitens die Zwischenkriegszeit. Ihren Reiz erhält diese Anordnung auch dadurch, dass Europaprojekte in den Nationen Europas parallelisiert und kontrastiert werden, die für sich jeweils in Anspruch nahmen, „Herz“ oder „Zentralraum“ Europas zu sein.

Wolf D. Gruner zeichnet die internationalen und insbesondere deutschen Europa-Pläne seit den 1780er-Jahren nach, die zwischen einem einheitlichen europäischen Nationalstaat und einer erneuerten Gleichgewichtsordnung mit schiedsgerichtlichen Elementen changierten. Erstere vertraten insbesondere Anhänger eines napoleonischen Europa, letztere fanden nach Immanuel Kant seit 1814 bei Protagonisten und Publizisten im Umfeld des Wiener Kongresses Interesse (Friedrich von Gentz, Karl Christian Friedrich Krause). „Europäische Föderation“, „europäischer Völkerbund“, „europäisches Gleichgewicht“ und eine Schiedsidee zählten seitdem zu den festen Strukturelementen der Europa-Vorstellungen. Zugleich besaß nach Gruner in diesen Vorstellungen die Ordnung in Deutschland, im „Zentralstaat von Europa“ (S. 25) ein herausgehobenes Gewicht, wobei die deutschen bündischen Konzepte nach 1815 auch in den Europaplänen ihren Niederschlag fanden.

In ihrer Darstellung zum polnischen Europa-Diskurs geht M. Morawiec einen anderen Weg: Nicht die Vielzahl der Europapläne, sondern zwei konkrete Beispiele, Wojciech Jastrzebowskis (1799-1882) „Die Müßigkeit des polnischen Soldaten oder der Gedanke vom ewigen Bündnis der zivilisierten Völker“ (1831) und Stefan Buszczynskis (1821-1892) „La décadence de l’Europe“ (1867) werden vorgestellt. Zu beiden im deutschen Sprachraum kaum bekannten Autoren und deren Europakonzeptionen trägt Morawiec zahlreiche Informationen zusammen, wobei auch die Differenz zwischen den historischen Europakonzepten in Deutschland und Polen fassbar wird. Alle polnischen Konzepte seit Adam Czartoryskis Entwürfen zu Beginn des 19. Jahrhunderts gehen – gleichgültig ob monarchischer oder republikanischen Provenienz – von den (Sprach-)Nationen als soziale Bausteine eines künftigen Europa aus, ohne bestehende Staatsgrenzen oder Gleichgewichtskonzepte intensiver auszuführen.

Mit einem in der Europapublizistik weithin unbekannten Werk, den „Vereinigten Staaten von Europa“ von Franz Heinrich Plötzer (1912), beschäftigt sich Heinz Duchhardt. Gegeben werden Informationen zu Werk und Autor und eingegangen wird insbesondere auf den Aspekt des gemeinsamen europäischen Feindbildes, in diesem Fall die Projektion einer „gelben Gefahr“.

Eine parallele Behandlung polnischer und deutscher Europakonzepte wird wieder für die Zwischenkriegszeit realisiert: Stephanie Zloch stellt die – zumeist sehr unterkühlten – polnischen Reaktionen auf europäische Einigungsbewegungen in der Zwischenkriegszeit vor und Wieslaw Bokajlo beschreibt die zuletzt von polnischer Seite intensiv beforschten polnischen Konzepte eines föderativen „Dritten Europa“ zwischen deutscher und sowjetischer Machtsphäre. Dem steht für die deutsche Diskussion ein Beitrag von Jürgen Elvert zum „Irrweg Mitteleuropa“ gegenüber, dessen sprechender Titel bereits die sich zwischen Hegemonialträumen und Vorstellungen eines Großwirtschaftsraums bewegenden deutschen Planungen von Friedrich Naumann bis zur NS-Ideologie bewertet.

In diesem Nebeneinander von Beiträgen aus der polnischen und deutschen Historiografie wird implizit die Problematik gänzlich anders strukturierter historiografischer Bewertungsmaßstäbe sichtbar: Während Bokajlo mit viel Empathie die polnischen Föderationspläne nachzeichnet, die doch auch stets von einer Dominanz polnischer Interessen über die „weniger entwickelten“ ukrainischen oder slowakischen Nachbarn geprägt waren und die nicht von ungefähr in die Beteiligung an der Aufteilung der Tschechoslowakei Ende 1938 mündeten, sieht Gruner in den deutschen Mitteleuropakonzepten ausschließlich imperialistische Chimären. Sicher muss, wenn zwei dasselbe tun, dies nicht immer dasselbe bedeuten, doch hätten diese konträren Bewertungen eine Reflexion durch das deutsch-polnische Herausgeberpaar verdient.

Über solche inhaltlichen Aspekte hinaus sind auch auf der redaktionellen Seite des Bandes Schwächen festzustellen. So kann nur der des Polnischen Mächtige erahnen, dass sich hinter „Podlole“ die ukrainische Region Podolien verbirgt (S. 45). Zudem springen die Texte für ein und dieselbe Großregion beliebig zwischen „Ostmitteleuropa“, „Mittelosteuropa“ und „Ost-Mitteleuropa“ hin und her. Generell lassen zahlreiche Ausdrucksschwächen und Stilbrüche darauf schließen, dass es keine Endredaktion gab.

Inhaltlich schwerer wiegt eine konzeptionelle Festlegung. Gefragt werden muss, ob die Beschränkung auf Europaentwürfe und -konzepte ohne Berücksichtigung von deren „Zwillingsbruder“, dem antieuropäischen Denken 1, wirklich weiterführt. Die Frage der zeitgenössischen Relevanz der Europapläne könnte jedenfalls nur unter Berücksichtigung auch des antieuropäischen Diskurses geklärt werden. Sicher besitzt eine Erforschung europäischer Visionen einen größeren forschungspolitischen „Appeal“, doch verdienen auch die Nachtseiten europäischen Denkens eine Reflexion.

Als eine kultur- wie verfassungshistorisch fruchtbare Weichenstellung der Herausgeber erscheint dagegen die Konzentration auf die Großregion „Mitteleuropa“ (ohne die damit im Deutschen häufig verbundene Begrenzung auf die deutschsprachigen Teile!). Nationales und europäisches Denken stehen hier in einem spezifischen Wechselverhältnis, das weitere vergleichende Forschungen verdient.

Anmerkung:
1 Burgdorf, Wolfgang, „Chimäre Europa“. Antieuropäische Diskurse in Deutschland (1646-1999), Bochum 1999.

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