Titel
Die Anarchie der Vorstadt. Das andere Wien um 1900


Autor(en)
Maderthaner, Wolfgang; Musner, Lutz
Erschienen
Frankfurt am Main 1999: Campus Verlag
Anzahl Seiten
238 S., 21 Abb.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Kaspar Maase, Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft, Universität Tübingen

Wer sind die Schöpfer unserer Moderne? Welcher sozialen Konstellation verdanken sich die kulturellen Entwicklungen um 1900, die dem folgenden Jahrhundert prägende Impulse verliehen? In den Büchern stehen die Namen von großen Männern: Künstlern, Denkern, Wissenschaftlern, Unternehmern und Politikern. Dieses Bild versucht der gelungene Essay von Maderthaner und Musner zu korrigieren. Gelungen heißt: Beleuchtung sprechender Details, anregende Deutungen, zugespitzte und nicht selten prägnant formulierte Verallgemeinerungen, das Ganze verknüpft zu einer starken These, die die Gedanken des Lesers in Bewegung setzt noch da, wo sie Widerspruch herausfordert. So erging es zumindest dem Rezensenten, und deswegen unterschlägt er seine Einwände auch nicht: weil sie auf einen starken Text antworten. Ein Essay, an dem niemand Anstoß nimmt, wäre besser ungedruckt geblieben.

Als Objekt ihrer Revision haben die Autoren eine gefeierte Metropole des Fin de siècle gewählt: Wien um 1900. Sie kontextuieren die Moderne der Freud und Mach, Schnitzler und Schiele, Loos und Kraus, Mahler und Schönberg, Lehár und Kálmán durch eine Lektüre der Stadt von den Rändern her. Bekanntlich trennt ein Gürtel prachtvoller Ringstraßen das Zentrum von einem Kranz aus Vorstädten. Mit dem räumlichen Abstand wächst auch die soziale Entfernung der Quartiere zum Kern. Aber, so die überzeugende Grundannahme, architektonische Distanzierung und distinktive Exklusion verweisen auf die mentale, psychokulturelle Präsenz der Ränder im Zentrum. Ausgrenzungen verbinden ebensosehr wie sie trennen. In Gestalt von Imaginationen, reizvollen Schreckbildern und Harmlosigkeit beschwörenden Folklorismen ist das Andere des Bürgertums, sind Elend und Aufruhr gegenwärtig in den Zitadellen der modernisierenden Eliten.

Die Autoren rekonstruieren die Wiener Moderne aus der Perspektive "der Vorstadt", von Existenzbedingungen und Lebensstrategien jener Unterschichten her, die im 19. Jahrhundert, meist aus ländlichen Verhältnissen und oft aus den nicht deutschsprachigen Provinzen, an die Peripherie zogen und hier eine Kultur eigener Prägung entwickelten. Einzelne Kapitel behandeln die planerischen Konzepte, die den baulichen Status der Vorstädte wie ihren Ort in der bürgerlichen Stadtwahrnehmung bestimmten, sowie Unruhen und Kriminalität, Elend, Prostitution und soziale Beziehungen, Zeitmuster und entstehende Massenkultur in der Vorstadt. Stets werden zwei Ebenen thematisiert, die Realitäten des Unterschichtdaseins und ihr - imaginiertes, projektives - Bild in den Köpfen der Modernisierer; die Titelformulierung von der "Anarchie der Vorstadt" bringt die Sicht der "besseren Gesellschaft" plakativ, aber durchaus treffend auf den Punkt.

Zur Rekonstruktion von Arbeitskämpfen und Straßenunruhen werden archivalische Quellen herangezogen, sonst speist sich die Darstellung aus gedruckten Quellen: Berichte der bürgerlichen wie der Arbeiterpresse, Sozialreportagen und Feuilletons, Autobiographien und schöne Literatur. Der Leser profitiert von der Plastizität und Lebendigkeit der Schilderungen, aus denen die Autoren immer wieder unerwartete Befunde zur Textur vorstädtischer Existenz herausheben. Im tiefsten Elend fehlen nicht Heiligen- und Herrscherbilder, die ästhetisch einen Horizont jenseits der erdrückenden Misere eröffnen. "Es ist dem Menschen unmöglich, eine Bleibe, ein 'Heim' zu finden, in dem er leben kann, ohne etwas, das mehr ist als er selbst ... erst der verdinglichte Bezug zum Imaginären ermöglicht überhaupt ein Überleben" (140), verallgemeinern Maderthaner/Musner überzeugend.

Stets laufen empirische Schilderungen auf Analytisch-Begriffliches hinaus. Geboten wird eine Fülle (manchmal Überfülle) verdichtender, erhellender und Einspruch provozierenden Interpretationen der Vorstadtkultur und ihrer inneren wie 'äußeren' (aus der Wechselwirkung mit dem Zentrum resultierenden) Dynamik. Ab und zu läuft die Deutungsmaschinerie leer und umwölkt einen fragwürdigen oder unverständlichen Aussagekern mit berauschendem semantischem Nebel. Was könnte gemeint sein mit der "tendenziell autonomen, sich selbst bestimmenden und reproduzierenden Kraft" von Popularkultur unterm Feudalismus (128)? Inwiefern "inszeniert das Kino ... die Unveränderbarkeit der eigenen Existenz, da sein symbolisches Universum äußerlich bleibt und in der Realität nicht zugänglich ist" (133) - das gilt für jede symbolische Repräsentation, auch die revolutionäre. Doch den Preis zahlt man gern, wenn man dafür z.B. das Kapitel über "Kompression und Dekompression" als Matrix von Arbeit und Vergnügung bekommt.

Die eindrucksvollen Quellen schaffen allerdings ein Problem. Sie bilden die Vorstadt ab durch Filter und Prismen einer Sicht auf das Populare als das Andere - das Andere nicht nur der bürgerlichen Ordnung, sondern auch des disziplinierten und bildungswilligen Proletariats. Doch obwohl dieser Aspekt zu den erklärten Ausgangspunkten der Autoren gehört, hat das keine Folgen für die Quellenkritik. Resultat ist ein exotisiertes und romantisiertes Bild des Vorstadtlebens, prangend in kräftigen Farben und harten Kontrasten. Auf der einen Seite Elend, Geschichtslosigkeit und Entfremdung, auf der anderen Kriminalität, Gewaltbereitschaft und Exzess, die aber im Horizont einer "Kultur der Widersetzlichkeit" seltsam entwirklicht und antikapitalistisch konvertierbar erscheinen. Es entfällt der größte Teil des Alltags der vielen Familien, die nach Ehrbarkeit und Respektabilität strebten, den Kindern einen guten Start zu geben suchten oder einfach bemüht waren, ohne Anecken durchzukommen. Die empirischen Passagen zeigen Derartiges durchaus, eine "'Ökonomie des Überlebens', die neben der materiellen Subsistenzsicherung ein Minimum an Alltagspoesie, Überlebensästhetik und einer intimen Kompensation unerträglicher Lebensbedingungen anstrebt" (139). Doch insgesamt dominieren Extreme, das Spektakuläre und "Anarchische"; es regiert eine ausgeprägte binäre Polarisierung, die Vorstadt erscheint im Ergebnis eines antibürgerlich motivierten 'Othering' als absolute "Gegengesellschaft" (201).

Zentral für die Argumentation ist die Periode der "Transgression" 1890 bis 1910, als sich in Wien eine "demokratische Massenpolitik" herausbildete. Ein eindrucksvolles Kapitel stellt zwei Exponenten des neuen Typs von Politik als "Zwillinge des Popularen" gegenüber: den auf das Kleinbürgertum sich stützenden Bürgermeister Lueger und seinen sozialdemokratischen, von Arbeitern gewählten Opponenten Franz Schuhmeier. Beide Volkstribunen improvisierten perfekt auf der Klaviatur des "Wiener Gemüts"; sie wussten Stereotypen und Wissensbestände, Sehnsüchte und Aggressionen ihrer Klientel aus "kleinen Leuten" zu einer stark personengebundenen Gefolgschaft zu bündeln. Die "Massen" wurden so zum bestimmenden Faktor der Kommunalpolitik.

Die Ambivalenz der neuen Formation wird angesprochen; Antisemitismus und Antiintellektualismus spielten eine prominente Rolle bei der "Geburt der Demokratie". Doch machen die Autoren eine ebenso säuberliche wie problematische binäre Unterscheidung, indem sie die Betrachtungsebene wechseln. Die sozialdemokratisch geführten Massen werden gleichgesetzt mit der Parteiprogrammatik sozialer Integration und politischer Emanzipation, und damit verschwinden Juden- und Intellektuellenfeindschaft sowie die aggressiv ausgrenzenden Züge proletarischen Wir-Bewusstseins in der Utopie "künftiger Nobilitierung des Proletariats als sozialer und kultureller Träger eines neuen homogenen Stadtganzen." (207) Niemand wird die qualitative Differenz zwischen Luegers Christlichsozialen und der Sozialdemokratie leugnen. Historische Kulturforschung kann jedoch nicht die fragwürdigen Gemeinsamkeiten ausblenden, die der "zwillingshafte" Zugriff auf dieselben mentalen Reservoirs popularer Welt- und Selbstsicht impliziert. Hier folgt die postmoderne Arbeiterbewegungsgeschichtsschreibung der Autoren einem Modell einander ausschließender Lager, das bereits durch den Blick für Gemengelagen, Ungleichzeitigkeiten und klassenübergreifende Muster in der Arbeiteralltagskultur überwunden schien.

Die Neigung, historische Wirklichkeiten unter ausschließende Kategorien zu subsumieren, bestimmt auch das Verhältnis von Vorstadt und Moderne. Die Kultur der Peripherie fassen die Autoren mit dem Begriff des Popularen, und in der Transgressionsperiode um 1900 sehen sie den Übergang vom "Feudal-Popularen" zur "Popularmoderne". Es ist recht problematisch, "Volkskultur" von der frühen Neuzeit bis zur Hochindustrialisierung durch ein Modell zu charakterisieren, das dann innerhalb einer Generation in ein neues Modell übergeht. Doch wird man das Vorgehen für legitim halten gerade wegen des eingeplanten Widerspruchs. Die größte Herausforderung bildet für den Rezensenten die Tendenz, das Populare als strikten Gegensatz zur Moderne zu konzipieren.

Das oder die Moderne wird nicht eindeutig definiert, und es gibt Ansätze, dem Popularen im positiven Sinn moderne Züge zuzusprechen. Doch beim genaueren Hinschauen entpuppt sich deren Rationalität als die des Kampfes gegen eine Moderne, die im wesentlichen mit Kapitalismus, Homogenisierung, Disziplinierung, Kolonisierung, Fremdbestimmung gleichgesetzt wird. Neben der Prägnanz der feudalpopularen "anarchisch-organischen Volkskultur" (126) bleibt das Populärmoderne blass; es zerfällt schließlich in ausgedünnte Reste des "alten Potentials der Differenz und der Subversion", verbunden mit einem utopischen "Mythos von Gemeinschaft" (126) auf der einen Seite, negative Folgen industriekapitalistischer Urbanisierung andererseits: Anonymisierung, Nivellierung, Fragmentierung. Geradezu regressiv wirkt die Polarisierung in der Entgegensetzung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, die das Buch durchzieht. Die Kultur der Vorstadt wird - bis 1900! - gleichgesetzt mit Oralität geradezu dörflichen Charakters, sich verteidigend gegen die Gewalt von "Schrift und Wissenschaft ... [als] signifikanten Emblemen der Moderne." (36)

Nun hat die Forschung sich schon lange von der Vorstellung einer ausschließlich oralen 'Volkskultur' verabschiedet und untersucht für die gesamte Neuzeit das spezifische Ineinander mündlich wie schriftlich kommunizierten Wissens in allen Schichten; im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts blühten populäre Massenpresse und Massenliteratur auf - doch es geht hier nicht um empirische Argumente, sondern um die axiomatische Vorentscheidung, das Populare mit einer organisch-widerständigen Vormoderne gleich und einer eindimensional als Verlust und Zwang beschriebenen kapitalistischen Moderne entgegen zu setzen. Das resultiert in der Verklärung feudaler Dorfgemeinschaft und definiert die unterbürgerlichen Schichten aus der kulturellen Moderne heraus; nur als deformierte Opfer haben sie hier Platz. Dem Volkskundler ist das Paradigma aus der Fachgeschichte schmerzlich vertraut.

Dabei präsentieren die Autoren durchaus Belege für die Kompetenz der Vorstadt zur produktiven Bewältigung moderner Lebensanforderungen und für die Ausstrahlung popularer Praxen in die Gesellschaft hinein, insbesondere in Vergnügung und Freizeit. Doch sie schreiben die Vorstadt nur als das marginalisierte Andere in die Moderne ein, wirksam einzig in fragmentierten Mythen, in Utopien wiederzugewinnender Ganzheit und Authentizität sowie als populistisch gehandhabte Verfügungsmasse der Eliten, die sich weiterhin als Schöpfer der Moderne betrachten dürfen. Letzteres bleibt allerdings, da ist den Autoren zuzustimmen, ein durchaus zweifelhafter Ehrentitel.

Mit Maderthaner/Musner muss sich auseinandersetzen, wer die Weichenstellungen für das 20. Jahrhundert studiert, die vor dem Ersten Weltkrieg vorgenommen worden. Als Parallellektüre - damit die Funken richtig stieben - empfiehlt sich der von Dietrich Mühlberg herausgegebene Band "Arbeiterleben um 1900" (Berlin 1983), der die entgegengesetzte Antwort auf die Frage nach dem Beitrag der unterbürgerlichen Massen zur Grundlegung der kulturellen Moderne gibt. Und hoffentlich wird das intellektuelle Vergnügen nicht vergällt durch die teilweise sinnentstellenden Druckfehler, die der in dieser Hinsicht notorische Verlag dem Leser zumutet. Wenn unsere Großväter gewusst hätten, dass die von ihnen auf den Weg gebrachte Moderne auch Lektorate und Korrektoren wegrationalisieren würde, hätten sie vielleicht einen Moment innegehalten.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
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