Titel
Policey im Alltag. Die Implementation frühneuzeitlicher Policeyordnungen in Leonberg


Autor(en)
Landwehr, Achim
Reihe
Studien zu Policey und Policeywissenschaft
Erschienen
Frankfurt am Main 2000: Vittorio Klostermann
Anzahl Seiten
Preis
€ 44,00
Francisca Loetz, Institut fuer Sozial- und Wirtschaftsgeschichte

Historische Implementationsforschung ist ein Begriff, der deutschen Historikerinnen und Historikern bislang wohl noch eher ungeläufig ist. Dies dürfte sich mit der Freiburger Dissertation Achim Landwehrs zur Policey des württembergischen Leonberg ändern. Denn Landwehr weiß der alten Frage, wie politische Herrschaft in der Frühen Neuzeit mittels gesetzlicher Regelungen ausgeübt worden ist, wichtige neue Gesichtspunkte abzugewinnen. Bislang hat die Forschung sich vornehmlich mit der Frage beschäftigt, welche Rolle die vielen, im Namen des "gemeinen Nutzens" vor allem im 17. und 18. Jahrhundert erlassenen Policeyordnungen für die Entwicklung des Staates gespielt haben. Landwehr legt dar, warum dieser Ansatz verfehlt ist. Wer im historischen Rückblick zu evaluieren versuche, wie stark Normen durchgesetzt worden seien, impliziere bereits, daß gute Policey als Mittel staatlicher Repression gedient habe. Ein solcher präjudizierender Ansatz sei korrekturbedürftig. Die Policeyordnungen seien nicht nach ihren Erfolgsquoten zu beurteilen, sondern nach der Wirkung, die sie entfaltet hätten. Landwehr fragt daher nach dem "Umgang" der Betroffenen mit den gesetzlichen Vorgaben. Zugespitzt ließe sich formulieren, daß Landwehr sich vom Problem der Relevanz der Policey für den frühneuzeitlichen Staat abwendet und sich stattdessen auf dasjenige ihrer gesellschaftlichen Relevanz konzentriert. Am Beispiel der Stadt und des Amts Leonberg stellt er dar, daß politische Herrschaft nicht auf einem dialektischen Verhältnis von Obrigkeit und Untertanen beruhte, sondern sich aus einem "polyektischen" Beziehungsnetz von (durchaus asymmetrischen) Spannungsverhältnissen zwischen Normgebern, Normvermittlern und Normadressaten entwickelte, die auf der Makro-, Meso- wie auch Mikroebene miteinander verbunden waren.

Die Implementationsforschung arbeitet, so Landwehr, "mit der Figur der 'black box', auf deren einen Seite das Programm eingegeben wird und auf deren anderer Seite ein nicht vorhersagbares Ergebnis erscheint. Der dazwischen liegende Prozeß bleibt bei einer oberflächlichen Betrachtung zunächst undurchschaubar" (S. 33). Trotz vereinzelt lästiger Wiederholungen in der Argumentation und einer typographisch nicht immer ganz sauberen Photoreproduktion seiner extrem verkleinerten Druckvorlage ist Landwehrs Arbeit bereits beim erstem Blick alles andere als undurchschaubar: Auf der einen Seite gibt er in Auseinandersetzung mit dem Forschungsstand konzeptionell wie empirisch sauber entwickelte Fragestellungen ein, um auf der anderen Seite zu fundierten und thesenartig zusammengefaßten Ergebnissen auf wiederum empirischer sowie konzeptioneller Ebene zu gelangen. Dazwischen liegt nach der Beschreibung der institutionellen Rahmenbedingungen die Auswertung vielfältiger policeylich relevanter Vorgänge (Gottesdienstbesuch und Sonntagsheiligung, Ehekonflikte, Schule, Feldmarkierungen, Fleischproduktion, Nachtruhe und Brandschutz), die Landwehr für die Zeit von rund 1575 bis 1750 den Visitiationsprotokollen der Rug- bzw. Vogteigerichte und Kirchenkonvente entnimmt. Dankenswerterweise rundet ein Namens- und Sachregister die Arbeit ab. Dieses wird jedoch die Benutzerinnen und Benutzer manchmal im Stich lassen. Zentrale Begriffe wie (Makro-, Meso-, Mikrostruktur), Normeinsetzung oder zirkulärer Prozeß sind nicht aufgenommen worden. Dafür sind Begriffe wie Gotteslästerung (unvollständig) erfaßt, obwohl sie für die Argumentation nicht weiter von Belang sind.

Mit seinem "konventionellen", aber neu beleuchtetem Thema trägt Landwehr zu der jüngeren Policeyforschung des Frankfurter Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte bei, dem er sich auch offensichtlich verbunden fühlt. Stand jedoch am Anfang des Frankfurter Projekts noch das Stichwort der Normdurchsetzung, zieht Landwehr es vor, eigenständig von Normeinsetzung zu sprechen. Im Anschluß an Alf Lüdtkes Konzept von "Herrschaft als sozialer Praxis", das Landwehr vorwiegend mit den theoretischen Überlegungen Michael Manns, Michel Foucaults und Pierre Bourdieus untermauert, lehnt er binäre Frage- und Erklärungsmuster ab, um sie durch ein zirkuläres Modell zu ersetzen. Policey erfolgt nach Landwehr nicht im Gegensatz von Norm und Praxis, sondern entsteht vielmehr "zwischen Norm und Praxis": In einem kreislaufartigen Prozeß wirkten Normgeber (Landesfürst), Normvermittler (weltliche und geistliche Amtleute) und Normadressaten (Untertanen) mit unterschiedlichen Chancen gegenseitig aufeinander ein und handelten so Policey miteinander aus. Normen konnten je nach Regelungsgegenstand abgelehnt, begrüßt, instrumentalisiert oder den Umständen angepaßt werden. Hierfür gibt Landwehr besonders für die Normadressaten viele überzeugende empirische Beispiele. In Antwort auf die genannten Handlungsoptionen erfolgten, so Landwehr ferner, Rückkoppelungseffekte, wenn Landesfürst und Amtspersonen weitere policeyliche Maßnahmen ergriffen. Für diese Formen reaktiver Herrschaft müssen allerdings meistens Indizien als Beleg herhalten. Wenn etwa eine Policeyordnung in ihrer Arenga darauf verweist, daß man aus den gemachten Erfahrungen gelernt habe und deswegen eine neue, den Umständen besser angepaßte Regelung treffen werde, bleibt die historische Neugier auf der Strecke. Was genau verbirgt sich hinter der Rhetorik der Gesetzestexte, auf welche konkreten Vorfälle nimmt der Landesherr tatsächlich Bezug? Vermutlich hätte da die Korrespondenz der Amtleute mit der Landesverwaltung, wie sie etwa André Holenstein für Baden oder Karl Härter für Mainz untersuchen, einige Antworten liefern können. Es ist daher schade, wenn Landwehr aus verständlichen arbeitsökonomischen Gründen darauf verzichtet hat, die weiteren Bestände des umfangreichen Stadtarchivs zumindest punktuell zu sichten. Einige Visitationsprotokolle weniger, dafür gezielte Recherchen zu konkreten und damit abgrenzbaren Einzelfragen im ergänzenden Bestand des offensichtlich umfangreichen Stadtarchivs wären möglicherweise mehr gewesen. Freilich wiegt Landwehr diese Schwäche mit der Analyse des Supplikationswesens zum Teil wieder auf, denn aus der Antwort des Landesfürsten auf die Anliegen der Bittsteller werden zumindest einige Reaktionen des Landsherrn auf das feed-back seiner Untertanen ersichtlich.

Landwehr wählt eine qualitative Zugangsweise. Mit seiner methodischen Grundsatzentscheidung, seinen Blick nahezu ausschließlich auf Visitationsprotokolle zu lenken, verdeutlicht er, daß er keine dichte Beschreibung der Fälle anstrebt. Dennoch oder gerade deswegen will er makro- mit meso- und mikrohistorischen Elementen verbinden. Dies gelingt ihm nicht durchgehend, was an einem Beispiel zur Makroebene exemplarisch veranschaulicht sei: Landwehr weist sicher mit Recht darauf hin, daß Untertanen etwa die Ordnungen zur Sonntagsheiligung deswegen immer wieder verletzten, weil sie zur Sicherung ihrer Existenz darauf angewiesen waren, auch am Feiertag zu arbeiten. Das makrostrukturelle Argument von den ökonomischen Notwendigkeiten ist durchaus einleuchtend. Wie sieht es aber mit der Möglichkeit aus, daß das Argument der "Nahrung", zumal vor gerichtlichen Instanzen, auch eher strategischer Natur sein konnte, um sich selbst wegen Normverletzungen zu rechtfertigen oder der Bitte um Sonderregelungen einen möglichst starken Nachhalt zu verleihen? Ist da der Verweis auf den Einfluß makrohistorischer Strukturen nicht zu pauschal? Auch die allgemeine Einführung in die wirtschaftlichen Verhältnisse im Herzogtum Württemberg hilft an diesem Punkt nicht weiter, sondern bleibt unvermittelt als Hintergrundkulisse für sich stehen.

Über die Rolle politischer Institutionen wie diejenige der Stände wird man bei Landwehr aus guten Gründen nichts finden. Ihre Bedeutung für den Erlaß policeylicher Regelungen ist nach Landwehrs Einschätzung für Württemberg gering zu veranschlagen. Hier zeigt Landwehrs Konzept der Implementation seine Stärke. Es ermöglicht, Herrschaftsausübung auch außerhalb politischer Institutionen zu erfassen und wirkt daher einer enggeführten Geistes- oder Politikgeschichte entschieden entgegen, die bisweilen politische Denker und Organe einseitig hervorzuheben neigt. Weiterhin überwindet Landwehr polarisierende Interpretationsmuster, wie sie im Schlagwort der Sozialdisziplinierung, Rationalisierung oder Zivilisierung angelegt sind. Für Landwehr gibt es keine rigide Dialektik von vorher-nachher, von oben-unten, von kontrolliert-unkontrolliert, sondern einen vielschichtigen Aushandlungsprozeß, in dem Individuen durch ihre Verhaltensformen tragende "normative Strukturen" prägen.

Landwehr formuliert selbst einige der Fragen, die in seiner Arbeit offen bleiben. Vorsichtig begrenzt er seine Überlegungen auf Württemberg und weist darauf hin, daß seine Befunde noch der Ergänzung durch Studien über weitere deutsche Territorien bedürften. Ebenso wirft er die Frage nach der Epochenschwelle zwischen Vormoderne und Moderne auf, wenn er die Gültigkeit seiner Ergebnisse auf die Zeit bis 1750 beschränkt. Doch regt Landwehrs Untersuchung zu weiteren Fragen an: Kann man die Faktoren des historischen Wandels, die bei Landwehr eher blaß bleiben, in der policeylichen Regelung der Gesellschaft nicht präziser fassen? Welche Rolle spielte das frühneuzeitliche Argument, gesetzliche Maßnahmen hätten "billig", d.h. sinnvoll zu sein, für den Umgang der Untertanen mit den policeylichen Normen? Sind die kategorisierten Handlungsoptionen in ihrem Verhältnis zueinander nicht zu gewichten? Hingen die Handlungsentscheidungen tatsächlich derart eindeutig vom Gegenstand der Verordnungen ab?

Solche weiterführenden Grundsatzfragen sind dem erfreulichen Interesse Landwehrs an der stringenten Konzeptionalisierung seiner empirischen Ergebnisse zu verdanken. Seine "Fragmente einer Praxeologie frühneuzeitlicher Herrschaft" sollten für alle, die sich mit entsprechenden Fragen beschäftigen, zur Pflichtlektüre werden. Dann könnte Landwehrs Untersuchung möglicherweise selbst zu einer "black box" mutieren: auf der einen Seite ein klares Konzept der Implementation, auf der anderen Seite kräftige Impulse für die Forschung. Auf die unvorhersagbaren zirkulären Wirkungen im Netz der Herrschaftsforschenden darf man gespannt sein und dabei hoffen, daß die dazwischen liegenden Erkenntnisprozesse genau so durchsichtig seien wie Landwehrs Untersuchung.

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