H.-G. Hofer: Nervenschwäche und Krieg

Cover
Titel
Nervenschwäche und Krieg. Modernitätskritik und Krisenbewältigung in der österreichischen Psychiatrie (1880-1920)


Autor(en)
Hofer, Hans-Georg
Erschienen
Anzahl Seiten
443 S.
Preis
€ 45,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Eric J. Engstrom, Institut für Geschichte der Medizin, Humboldt-Universität zu Berlin

In seinem Buch „Nervenschwäche und Krieg“ hat Hans-Georg Hofer eine Geschichte der Neurasthenie vorgelegt, die der Komplexität und Kontingenz ihres Gegenstandes gerecht wird. Unter Anwendung eines explizit sozial-konstruktivistischen und kulturhistorischen Ansatzes sieht er die Neurasthenie in ununterbrochenem „Austausch mit den kulturellen Selbst- und Weltdeutungen der Zeit”. Dementsprechend war sie kein „internes Forschungsgebilde der Psychiatrie”, sondern eine „kulturelle Wissensformation, die [...] mit Signifikanten, Symbolen und Diskursen” (S. 18) stark aufgeladen war. Im Kontext von Modernitätskritik und als Krisenbewältigungs- bzw. Orientierungsstrategie diente sie als „sprachliches Symbol und Vehikel lebensweltlicher Sinnstiftung” und eröffnete „neue Spielräume für die Wahrnehmung und Deutung der ‚sozialen Wirklichkeit’” (S. 22). Das Buch lotet diese Spielräume am Beispiel Österreichs zwischen 1880 und 1920 aus.

Um seinem kulturhistorischen Ansatz ein noch schärferes Profil zu geben, distanziert sich Hofer von mehreren gängigen Topoi in der historiografischen Literatur. Erstens: unter der Ägide einer oft überspannten Medikalisierungsthese 1 werden psychiatrische Diagnosen gerne gesellschaftspolitisch-hegemonial gedeutet. Auch Hofer lässt keinen Zweifel aufkommen, dass die Geschichte der Neurasthenie den „Aufstieg der Psychiatrie als neue Autorität zur Deutung der Kultur und ihren Einfluss auf individuelle wie kollektive Reflexionsformen” (S. 15) manifestierte. Doch urteilt er vorsichtiger als viele Andere. So zeigt er zum Beispiel auch, wie die Neurasthenie-Diagnose die Psychiatrie auf die Grenzen ihres medizinisch-somatischen Models verwies und die Verlässlichkeit ihrer diagnostischen Praktiken in Frage stellte. Zugleich unterstreicht er, wie die Neurasthenie als psychiatrisch-medizinisches Deutungsangebot neben zahlreichen anderen Krisenbewältigungsstrategien der Moderne stand und wie man – vor allem nach 1900 – immer weniger Anlass dazu fand, sie zur Deutung der eigenen Körpererfahrungen oder der zeitgenössischen Kulturerscheinungen heranzuziehen.

Hofer erteilt zweitens eine deutliche Absage an die Hypothesen Joachim Radkaus.2 Nach Radkau lässt sich das psychopolitische Profil des Wilhelminischen Deutschlands kausal mit dem Begin des Ersten Weltkriegs in Verbindung bringen. Radkau würde – so Hofer – das „Problem des Zusammenhangs zwischen Strukturen und Handlungsketten” immer wieder mit einer “saloppen Erzähltechnik” überspielen und komplexe Sachverhalte reduktiv fassen. An Radkaus „suggestive[n] Gedankenspiele[n]” (S. 27) will er sich nicht beteiligen.

Drittens schließlich hält er es für aussichtslos, die Gefühlswelten hinter dem Neurastheniebegriff zu rekonstruieren. Für ihn kann es nicht darum gehen, „Empfindungsanomalien retrospektiv [...] zu analysieren”, denn diagnostische Etikettierungen sind als „historisch kontingente Kulturleistung anzusehen und können individuelle Leidenserfahrung nicht oder bestenfalls nur fragmentarisch widerspiegeln” (S. 28f.). Das heißt, er nimmt Abstand von manchen medizinhistorischen Bemühungen, die Perspektive des Patienten und dessen subjektive Leidenserfahrung in den Vordergrund zu stellen, sowie von neueren sozial- und kulturgeschichtlichen Ansätzen, die sich um eine Geschichte der Emotionen bemühen.

In den ersten beiden Kapiteln geht Hofer ausführlich auf die Rezeption von George Beards „American Nervousness“ ein. Er weist auf ein breites Spektrum zeitgenössischer Deutungen hin, die er unter anderem auf die Unbeherrschbarkeit des Krankheitsbildes durch die Medizin zurückführt. So konnte ein „weiches” und „elastisches“ Wissen entstehen, weil das “stetige Pendeln zwischen biologischen und kulturellen, zwischen organischen und funktionellen, zwischen optimistischen und pessimistischen Erklärungsmustern eine Vielzahl kulturkritischer Diskurspartikel in Umlauf brachte, die zur Pluralisierung der Vorstellungen von Natur und Kultur des Menschen in der Moderne beitrugen” (S. 89). Angesichts dieser unterschiedlichsten sozialen, medizinischen, psychologischen und kulturellen Perspektiven wurde die Neurasthenie nie Teil eines „hegemonialen Deutungsmusters” (S. 134f.), mit dem sich ein bestimmtes Verhältnis von Nervenkrankheiten und Moderne beschreiben ließ.

Das dritte Kapitel befasst sich enger mit sozialen, populärwissenschaftlichen und geschlechtsspezifischen Aspekten der Neurasthenie. Am Beispiel des Grazer Privatsanatoriums für Nervenkranke in Mariagrün wird gezeigt, dass Diagnose und Therapie der Neurasthenie sich häufig an ökonomischen Erwägungen und den Wünschen der Patienten orientierten. Solche „klientelstrategischen” (S. 160) Rücksichten stellt er in Zusammenhang mit der rasch anwachsenden, zeitgenössischen Ratgeberliteratur, in der die Neurasthenie immer mehr zu einer proteusartigen Modekrankheit stilisiert wurde. Im Kontext eines expandierenden Gesundheitsmarktes kann Hofer zeigen, dass in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg die medizinische Autorität des Arztes deutliche Erosionserscheinungen aufwies. Vor allem die Produktwerbung der jungen pharmazeutischen Industrie erzeugte ein Publikum, für das ein Sicht-Selbst-Therapieren ohne teuere Spezialisten denkbarer wurde und das dezidierte Forderungen an die Verschreibungspraxis der Ärzte stellte.

Um das zeitgenössische Faszinationspotential der Neurasthenie deutlich zu machen, legt Hofer seiner Studie eine Genderanalyse zugrunde. Als dezidierte „Männerkrankheit” stellte die Neurasthenie ein „soziales Refugium für Männer” dar und öffnete „neue Räume der Selbst- und Fremdwahrnehmung maskuliner Schwäche” (S. 161f.). Insgesamt hat die Neurasthenielehre dazu beigetragen, „den biologischen Rigorismus der Geschlechterordnung aufzuweichen und kulturell definierte, flüssige Deutungen von ‚männlich’ und ‚weiblich’ zu stärken” (S. 162). Doch zugleich warnt Hofer davor, den destabilisierenden Effekt der Neurasthenie auf die Geschlechterordnung zu überschätzen. Denn letztlich symbolisierte die Neurasthenie das „große berufliche Arbeitspensum des Mannes, von dem er sich zu erholen hatte” (S. 168), so dass die Diagnose die bestehenden, arbeitsteiligen Gender-Rollen eher perpetuierte als untergrub.

Die beiden folgenden Kapitel wenden sich den ersten Kriegsjahren zu. Allerdings lässt Hofer seine Darstellung nicht im Jahre 1914 beginnen, sondern erst 1919 mit der berühmten Untersuchungskommission gegen den Wiener Psychiater Julius von Wagner-Jauregg. Denn die Historiografie zur Behandlung nervenkranker Soldaten im Krieg ist entscheidend, aber retrospektiv durch die Nachkriegsdiskussion um von Wagner-Jauregg und Sigmund Freud bestimmt worden. Vor allem das einflussreiche Werk von Kurt Robert Eissler 3 hat eine Meistererzählung moralischer und wissenschaftlicher Überlegenheit der Psychoanalyse konstruiert, die zwar jahrzehntelang die Forschung geprägt hat, mit den tatsächlichen Ereignissen während der Kriegsjahre aber wenig gemeinsam hat. Es gelingt Hofer aus den Schatten dieser Nachkriegsdiskussion zu treten und eine Fülle neuer und überraschender Erkenntnisse zu Tage zu fördern. So kann er z.B. zeigen, dass am Anfang des Krieges Kriegsneurotiker auf Verständnis stießen, insbesondere bei Offizieren, die dem Druck des „Maschinenkrieges” und dem „Stahlbad des Waffenganges” (S. 219) nicht standhielten. Während man allerdings in Deutschland Kriegsneurotiker ab 1916 zunehmend psychotherapeutisch behandelte (Hypnose, Arbeitstherapie), wurden in Österreich scharfe elektrische Suggestionstherapien bis zum Kriegsende unbeirrt fortgesetzt. Schließlich waren es gerade die psychologisch-orientierten Psychiater, die für unnachgiebige Therapien eintraten, während ihre somatisch-orientierten Kollegen eher „eine behutsame und zurückhaltende Haltung” befürworteten (S. 192).

Zu den wohl spannendsten Abschnitten des Buches gehört das sechste Kapitel, in dem der Autor zeigt, wie die alltäglichen Kriegserlebnisse der Frontsoldaten neue Ideale männlicher Nervenstärke hervorbrachten. Gerade die Erlebnisse des Stellungskrieges erzeugten ein neues, passives Männlichkeitsideal des Durchhaltens: ein „‚Heldentum der Wehrlosigkeit’, das übermächtige Gewalt erwarte, erleide und erdulde, aber dennoch nicht zerbreche” (S. 267). Hofer fasst die Kriegerideale besonders griffig in der Gegenüberstellung des „Dolomitenkämpfers” und des „Isonzokriegers” zusammen. Während der Erste als aktiv, naturnah und mit einer besonderen Sensorik ausgestattet galt, zeichnete sich der Zweite durch Passivität, einen starken Abwehrkörper, Ausharrungsvermögen, Verbissenheit und Selbstbeherrschung aus. Das folgende Kapitel befasst sich mit den so genannten „elektrischen Korrekturen”. Hofer behandelt viele Aspekte dieses gewaltsamen therapeutischen Regimes: die Mechanik der Stromanwendung, die psychologische Suggestionsarbeit, die Vorstellung von Schmerz als therapeutisches Agens, die Dramaturgie der ärztlichen Technik und Autorität, ärztliche Selbstversuche und karrierestrategische Erwägungen. Die ausführliche und umsichtige Analyse dieser wenig erbaulichen Themenkomplexe gehört mit zu den besten Darstellungen, die sich in der historischen Forschungsliteratur finden lassen.

Im letzten Abschnitt stellt Hofer das Handeln von Psychiatern im Kontext der umfassenden militärischen Mobilisierung dar. Hier greift er bekannte Erklärungsmuster auf, wonach die sich zuspitzende militärische Krisensituation neue und unerbittliche Kräfte der Ökonomisierung und Rationalisierung des ‚Menschenmaterials’ entfesselte, einen verstärkten Rückführungsdruck erzeugte und zu einer Intensivierung des ohnehin engen Zusammenspiels von Ärzten und dem Militär führte. Gleichzeitig bezweifelt Hofer, dass psychiatrisches Handeln allein oder gar vorrangig durch den Druck der militärischen Situation oder die Befehlsstruktur des österreichischen Militärs erfolgte. Ärzte betrachteten ihre Arbeit weniger als militärische Pflicht, denn als selbstverständlichen Einsatz für eine höhere, nationale, kollektive Aufgabe. Vor allem die Sorge um den beschädigten ‚Volkskörper’ und die ‚negative Auslese’ des Krieges schuf immer mehr Raum für rassenhygienisches Gedankengut. Die Ausdehnung psychiatrischer und militärischer „Allianzen” erfasste am Ende des Krieges auch viele Psychoanalytiker, die sich – zwar nicht aus rassenhygienischen, sondern vielmehr aus nationalpatriotischen oder beruflichen Erwägungen heraus – „weitgehend freiwillig und aus eigener Initiative” (S. 366) in den Dienst der Vielvölkerarmee Österreichs stellten.

Das Schlusskapitel bietet seinen Lesern/innen etwas, das heutzutage aus der Mode zu kommen scheint: eine echte Zusammenfassung. Hier, auf zehn Seiten komprimiert, erhält man noch einmal eine kohärente und immer noch differenzierte Darstellung der wichtigsten Erkenntnisse des Werkes. Dies sollte freilich niemanden von einer eingehenden Lektüre des Buches abhalten.

Anmerkungen

1 Auf bitten der H-Soz-u-Kult-Redaktion wird hierzu ergänzt, dass der von Ivan Ilich und Michel Foucault popularisierte Begriff "Medikalisierung" die Entwicklung zu immer umfassenderer professioneller medizinischer Versorgung bezeichnet und die damit verbundenen Machtpotentiale kritisch reflektiert.
2 Radkau, Joachim, Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, München 1998.
3 Eissler, Kurt Robert, Freud und Wagner-Jauregg vor der Kommission zur Erhebung militärischer Pflichtverletzungen, Wien 1979.

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