B. Martin u.a. (Hgg.): Deutschland und Polen in schweren Zeiten 1933-199

Cover
Titel
Deutschland und Polen in schweren Zeiten 1933-1990. Alte Konflikte – neue Sichtweisen


Herausgeber
Martin, Bernd; Stempin, Arkadiusz
Erschienen
Freiburg 2004: Rombach
Anzahl Seiten
278 S.
Preis
€ 19,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hans-Jürgen Bömelburg, Nordost-Institut Lüneburg

Der in deutsch-polnischer Kooperation erschienene zweisprachige Sammelband vereint Studien zur deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte in ihrer besonders konfliktträchtigen Phase: dem Aufstieg des Nationalsozialismus, dem deutschen Vernichtungskrieg in Polen und der deutschen wie polnischen Erinnerung an die traumatische Ereignisgeschichte. Der Freiburger Historiker Bernd Martin beschäftigt sich seit ca. einem Jahrzehnt mit der Beziehungsgeschichte.1 Die hier versammelten Autoren sind Doktoranden und deutsche wie polnische Kooperationspartner, die sechs Studien zur Beziehungsgeschichte 1933-1945 und drei Skizzen zu deren Fortwirken bis 1990 beisteuern.

Karina Pryt beschreibt die deutsch-polnischen Kulturbeziehungen 1934-1939, die sich im Gefolge des deutsch-polnischen Nichtangriffspaktes 1934 auf staatlicher Ebene zu einem ambivalenten Werben um Einflüsse auf die Eliten des jeweiligen Partners entwickelten. Diese in der Volksrepublik Polen tabuisierten und bisher nur unzureichend bearbeiteten Kontakte2 sucht Pryt in einem, deutsche und polnische Archivalien gleichermaßen auswertenden, Ansatz zu erforschen. Zwischen nationalsozialistischen Chopin-Feiern, einer lebhaften Übersetzungstätigkeit, der Filmproduktion und Vorträgen von NS-Größen in Warschau gilt es hier ein reiches Feld von Kulturbeziehungen zu sichten, wobei auch die Frage nach der kommunikativen Reichweite in der deutschen wie polnischen Öffentlichkeit gestellt wird. Nur Taktik oder begrenzte Affinität zwischen totalitären und autoritären Staatsentwürfen? Die Frage muss für die Kulturbeziehungen 1934-1939 neu gestellt werden.

In einer Vorstudie ihres Habilitationsprojekts sucht Susanne Kuss die Hintergründe und Ursachen des bereits 1939 in Polen geführten nationalsozialistischen Vernichtungskrieges zu beleuchten und zeichnet Kontinuitäten eines extrem ausgeprägten Offensivgeistes und einer Überbetonung der Vernichtung in der Militärtradition nach, die bereits im kaiserlichen Deutschland wurzelten und gegenüber einem tendenziell als minderwertig angesehenen Gegner insbesondere im östlichen Europa in Terror- und Vernichtungskonzeptionen mündeten. Wünschenswert wäre es, den bei Kuss zentralen Begriff der deutschen „Militärkultur“ gegenüber dem östlichen Europa und dem polnischen Nachbarn möglichst präzise zu entwickeln.

Ralf Meindl beleuchtet die Tätigkeit des ostpreußischen Gauleiters Erich Koch, zu dem er eine biografische Studie vorbereitet. Er konzentriert sich auf den 1939 in das Reich eingegliederten Regierungsbezirk Zichenau (Ciechanów) und stellt diese, auch in der polnischen Historiografie zur deutschen Besatzungspolitik weniger erforschte, Verwaltungseinheit vor, wobei allerdings polnischsprachige Veröffentlichungen nicht ausgewertet werden.

Ausgesprochen innovativ ist die methodisch gut abgesicherte Studie von Astrid Julia Irrgang, die mit Hilfe der Feldpostbriefe des Wehrmachtsoffiziers Peter Stölten die Rezeption des Warschauer Aufstandes durch junge deutsche Offiziere nachzeichnet. Der durch zahlreiche Aufzeichnungen und Tagebücher polnischer Teilnehmer auch subjektiv ausgeleuchtete Warschauer Aufstand wird hier erstmals auf der Basis von zeitnahen Egodokumenten eines deutschen Kriegsteilnehmers beschrieben – ein bemerkenswerter Forschungsfortschritt.

Ein Teil der Studien stellt bereits publizierte monografische Arbeiten vor: Die Baugeschichte des Posener Schlosses vom wilhelminischen Kaiserpalais zur „Führerresidenz“ wird von Heinrich Schwendemann auf der Basis eigener Archivrecherchen nachgezeichnet.3 Aus dem Umfeld seiner Beiträge zur Auseinandersetzung mit dem Holocaust in der westdeutschen Historiografie 4 analysiert Nicolas Berg Joseph Wulfs Geschichtsschreibung über das Warschauer Ghetto und die erheblichen Konflikte mit der ersten Generation deutscher Zeithistoriker um das Münchner Institut für Zeitgeschichte.

Zwei Aspekten aus der westdeutsch-polnischen Beziehungsgeschichte sind Einzelstudien gewidmet: Krzysztof Rzepa zeichnet das Echo auf den Posener Aufstand im Juni 1956 in der westdeutschen Presse nach, während Arkadiusz Stempin (ohne wissenschaftlichen Apparat) die Bedeutung der Tätigkeit des Maximilian-Kolbe-Werkes für die Annäherung zwischen der deutschen und der polnischen Bevölkerung schildert.

Insgesamt liefert der Band, der durch ein Personenregister ergänzt wird, einige weiterführende Beiträge zur deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte 1933-1990. Allerdings ist das populärwissenschaftliche Niveau mancher Beiträge ärgerlich. Zudem scheint die erneute Publikation bereits vorliegender Forschungsergebnisse entbehrlich. Schließlich fehlt eine analytische Einführung: „Neue Sichtweisen“ – so der Untertitel – kann nur der informierte und mit dem polnischen Forschungsstand vertraute Leser ermitteln. So einfach sollten es sich Herausgeber nicht machen.

Anmerkungen:
1 Vgl. auch: Martin, Bernd; Lewandowska, Stanislawa (Hgg.), Der Warschauer Aufstand, Warszawa 1999 (getrennte deutsche und polnische Ausgaben).
2 Die Dissertation von Roschke, Carsten, Der umworbene „Urfeind“. Polen in der nationalsozialistischen Propaganda 1934-1939, Marburg 2000 schöpft das Thema nicht aus, da der Autor polnische Quellen nur bruchstückhaft verwendet und aufgrund fehlender Polnischkenntnisse Fehlperzeptionen unterliegt. – Zur Tabuisierung in der VR Polen vgl. die Zensur der Publikationen von Boguslaw Drewniak und dessen um Jahrzehnte verspätete deutschsprachige Publikation: Polen und Deutschland 1919-1939. Wege und Irrwege der kulturellen Zusammenarbeit, Düsseldorf 1999.
3 Vgl. auch die Monografie: Schwendemann, Heinrich; Dietsche, Wolfgang, Hitlers Schloss. Die „Führerresidenz“ in Posen, Berlin 2003.
4 Berg, Nicolas, Der Holocaust und die westdeutschen Historiker. Erforschung und Erinnerung, Göttingen 2003; Ders., Ein Außenseiter der Holocaustforschung. Joseph Wulf (1912-1974) im Historikerdiskurs der Bundesrepublik, in: Leipziger Beiträge zur Jüdischen Geschichte und Kultur 1 (2003), S. 311-346.

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