C. Kaiser: Gewerkschaften, Arbeitslosigkeit und Politische Stabilität

Titel
Gewerkschaften, Arbeitslosigkeit und Politische Stabilität. Deutschland und Großbritannien in der Weltwirtschaftskrise seit 1929


Autor(en)
Kaiser, Claudia
Erschienen
Berlin 2002: Peter Lang/Bern
Anzahl Seiten
462 S.
Preis
€ 65,40
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Friedemann Scriba, Berlin

Ungeachtet des historistischen Imperativs, jede Epoche möglichst unbeeinträchtigt von der ihr folgenden Entwicklung zu betrachten, wird man im wissenschaftlichen wie im allgemeinen öffentlichen Interesse die Geschichte der Weimarer Republik nie ohne den Blick auf ihr Scheitern und dessen Folgen, das NS-Regime in Deutschland, den Zweiten Weltkrieg, die Völkermorde, betrachten können. Diese unvermeidliche Perspektive birgt in sich die latente Gefahr, die Weimarer Republik stärker noch als andere Themen der deutschen Geschichte nationalgeschichtlich zu betrachten – was auch für die neueren sozial- und kulturgeschichtlichen Zugriffe gilt. Im öffentlichen wie im fachwissenschaftlichen Diskurs wird dabei zu wenig beleuchtet, warum die bei west- und mitteleuropäischen Siegern und Verlierern des Ersten Weltkrieges vergleichbare wirtschaftliche Ausgangssituationen sowie die strukturell ebenfalls vergleichbaren Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise in einigen Ländern zu faschistischen Regimen geführt haben und in anderen nicht. Aus deutscher Sicht verweist die sozialhistorische Schule Bielefelder Prägung gerne auf den Fortbestand antidemokratischer Eliten und politischer Verhaltensmuster als Spätfolge einer ausgebliebenen politischen Modernisierung des Zweiten Kaiserreichs. Bis in die Schulbücher hinein wird vor diesem Hintergrund die deflationäre Wirtschaftspolitik der Präsidialregierungen Brünings und Papens kritisiert, die – im expliziten oder impliziten Gegensatz zum keynesianistischen „deficit spending“ – die negative Dynamik verschärft habe.

Mit ihrer komparatistisch angelegten Freiburger Dissertation kann Claudia Kaiser die kritische Einschätzung der deutschen Politik im Wesentlichen bestätigen und durch einen mentalitätsgeschichtlichen Zugriff weiter absichern; gleichzeitig aber kann sie die Bedeutung des idealtypischen Kontrastpaars „Deflationspolitik vs. Deficit spending“ relativieren. Dazu untersucht sie die Reaktionen der beiden sozialistischen Gewerkschaftsdachverbände (ADGB in Deutschland und Trade Union Congress TUC in Großbritannien) auf die Massenarbeitslosigkeit der Weltwirtschaftskrise und auf die damit einhergehenden politischen Erschütterungen. Ihre Ergebnisse bettet sie – sich an den britischen Historiker Keith Middlemas anschließend - in die politischen Kulturen beider Länder ein, indem sie die dialektische Beziehung zwischen diesen und gewerkschaftlichem Agieren herausarbeitet. Ihre Leitfragen belegen dies:

„a. Wie gestalten sich die Reaktionen von TUC und ADGB auf die Massenerwerbslosigkeit in der Weltwirtschaftskrise? Welche Handlungsspielräume und Einflussmöglichkeiten zu ihrer politischen Durchsetzung besaßen die beiden Interessenorganisationen? Hatten beide Organisationen maßgeblichen Anteil an der politischen Entscheidungsfindung zur tatsächlich durchgeführten Arbeitsmarktpolitik?

b. Kann die politische Stabilität in Großbritannien [...] allein auf die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit durch eine antizyklische, defizitär finanzierte Konjunkturpolitik zurückgeführt werden oder wurde die politische Radikalisierung durch andere Faktoren verhindert, an denen der TUC maßgeblich beteiligt war? Hatte der ADGB umgekehrt die gleichen Stabilisierungsmöglichkeiten, oder trugen die jeweils anderen Handlungsspielräume des deutschen und britischen Dachverbandes wesentlich dazu bei, daß im Vereinigten Königreich und in der Weimarer Republik ein unterschiedlicher politischer Weg eingeschlagen wurde, der in Deutschland in die nationalsozialistische Diktatur führte, in Großbritannien aber die Demokratie bewahrte?“ (S. 7)

Methodisch die Konfliktregelungspraxis in beiden Ländern zwischen den Polen „Korporatismus“ und „Voluntarismus“ differenziert analysierend, gelangt die Autorin zur These, „daß weder der Umfang der Arbeitslosigkeit noch die Art der wirtschafts- und sozialpolitischen Maßnahmen [...] den ausschlaggebenden Faktor bildeten, der zu dieser unterschiedlichen Entwicklung beitrug. Von maßgeblicher Bedeutung war dagegen die legitimatorische Absicherung der staatlichen Arbeitsmarktpolitik in breiten Bevölkerungsteilen durch die gleichberechtigte Einbeziehung der wirtschaftlichen Interessenverbände, und somit der Gewerkschaften, in den diesbezüglichen politischen Entscheidungsprozeß“ (S. 7). Im Verlauf der Untersuchung richtet sich die Kritik gegen das etatistische deutsche Instrument der Zwangsschlichtung, das einerseits in den Händen eindeutig gewerkschaftsfeindlicher staatlicher Organe lag, andererseits beide Tarifpartner ihrer Verantwortung für eine selbstständige Lösung von Lohnkonflikten enthob. Der komparatistische Zugriff macht sich bereits dort bemerkbar, wo Kaiser die unterschiedlichen Typen von Arbeitslosigkeit heraushebt: Die strukturelle Krise der alten Industrien in Großbritannien führte schon in der Nachkriegskrise zu – gegenüber Deutschland – dauerhaft hohen Arbeitslosenraten v.a. in den so genannten „depressed areas“ und insgesamt höheren Auszahlungen an Arbeitslosengeld pro Familie (vgl. Tabelle S. 44), was sich in den 1930er-Jahren fortsetzte (vgl. S. 56, S. 96-98).

Im Kapitel I. (Arbeitslosigkeit, soziale Lage und Wahlverhalten der Erwerbslosen) kommt die Untersuchung zum Zwischenergebnis, dass Großbritannien schon 1926 während eines Generalstreiks gegen Lohnkürzungen zwischen einem unflexiblen Lohnsystem und politischen Krisen zu wählen hatte. „Anders als in der Weimarer Republik entschieden sich die britischen Regierungen für die erstere Möglichkeit und den begleitenden Ausbau der Arbeitslosenunterstützung, der eine Hierarchisierung unter den Erwerbslosen, zumindest bis 1931, weitgehend vermied. Die Gründe für die Stabilität des britischen Systems sind daher nur zum Teil in den wirtschaftsgeographischen Gegebenheiten zu suchen. Darüber hinaus unterschied sich auch die Einstellung von Politik und Gesellschaft gegenüber der Arbeiterschaft und den Erwerbslosen gravierend von der in Deutschland, [...]“ (S. 98).

Das Kapitel II. (Ökonomische Entwicklung und staatliche Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik) relativiert zunächst die These von der zu geringen privaten Nachfrage als Hemmnis für einen Aufschwung und stellt für die 1930er-Jahre eine höhere private Verbrauchs- und Investitionstätigkeit in Großbritannien der NS-“Militärkonjunktur“ gegenüber (S. 116f.). Die unterschiedlich gelagerten Strukturprobleme der deutschen und britischen Wirtschaft zeigten sich vor dem Hintergrund vergleichsweise höherer Belastung durch Kriegsschulden in Großbritannien auf der Insel (S. 117), so dass die finanzpolitischen Spielräume der Regierungen vergleichbar gering waren (S. 118). In den Vordergrund der Untersuchung rückt – wie in der sozialhistorischen Perspektive – die in Deutschland schon vor 1930, danach aber erst recht geringere Bereitschaft, Arbeitnehmer- bzw. Gewerkschaftsinteressen politisch ernst zu nehmen. Hiermit bestätigt die Verfasserin das auf Brünings Memoiren gestützte Urteil Petzinas, dass Brüning spätestens 1931 Gefangener eines vor allem außenpolitisch bestimmten Wirtschaftskonzeptes gewesen sei (S. 125; S. 134). In England hingegen wurde, trotz einer prinzipiell und offiziell rigiden, aber nicht deflationären Haushaltspolitik, das Ausmaß der sozialen Härte der Brüning- und Papenregierungen weder unter der Labour-Regierung noch unter ihren konservativ dominierten Nachfolgerinnen ab 1931 erreicht (S. 147). Im weiteren Gang ihrer Untersuchung steuert Kaiser auf den wesentlichen Unterschied in der politischen Kultur zu, wonach die sozialpolitische Härte in Deutschland zugunsten bestimmter Interessen auf das Fehlen eines gesamtgesellschaftlichen Grundkonsenses zurückzuführen sei, der allen sozialen Interessengruppen eine Daseinsberechtigung und denselben politischen Stellenwert einräume (S. 164). Dass der TUC gegenüber dem ADGB größere Handlungsspielräume gehabt habe, liegt dann auf der Hand (S. 165).

Kapitel III lotet die organisatorischen Handlungsspielräume von ADGB und TUC anhand der Mitgliederentwicklung (die in England stabiler blieb), der Organisationsstrukturen, der parteipolitischen Bindung (hier die stärkeren Einflussmöglichkeiten des TUC infolge von Stimmpaketen innerhalb der Labour Party) und der parteipolitischen Einflussmöglichkeiten aus – um die günstigere Position des TUC auch psychologisch als selbstvertrauter, weniger staatsorientiert und in der Konsequenz für das demokratische System stabilisierender zu gewichten (S. 247f.).

Im Kapitel IV (Arbeitsbeziehungen) zeigt Kaiser die in Deutschland seit dem Ersten Weltkrieg stärkere staatskorporatistische Einbindung der Arbeitnehmerorganisationen auf, die ihrerseits einen Übergang zum autoritär gelenkten Wirtschaftssystem des NS erleichtert habe, wohingegen trotz eines korporatistischen Trends auch in England das voluntaristische Moment in der Gestaltung der Arbeitsbeziehungen als dem sozialen Frieden förderlich angesehen worden sei und sich deshalb auch stärker habe erhalten können (S. 291).

Den Kampf gegen den politischen Extremismus (Kapitel V) konnte der TUC unter diesen Bedingungen konsequenter und leichter aufnehmen, so dass auch radikale Arbeitslosengewerkschaften wie das „National Unemployed Workers’ Movement“ deutlich geringeren Zulauf erhielten und die Labour Party selbst –im Unterschied zur SPD – die Rolle einer systemkonformen Protestpartei mitspielen konnte (S. 327ff.).

In der Programmatik (Kapitel VI) wirkten sich die typologischen Unterschiede der Arbeitslosigkeit aus, wobei der TUC konzeptionell vor allem auf die strukturelle Arbeitslosigkeit reagierte und die Labour Party von einer deflationären Geldpolitik abbringen konnte, ohne allerdings zum völligen Protektionismus überzugehen (S. 373).

Im Resümee arbeitet Kaiser u.a. anhand von Selbstverständnis und Organisationspraxis der Gewerkschaften heraus, inwiefern die längere Tradition der gesellschaftlichen Selbstorganisation sich günstig auf die Handlungsspielräume der Gewerkschaften und auf die demokratische Kultur des Landes ausgewirkt habe (v.a. S. 391) – im Gegensatz zu Deutschland: „Schon in den letzten Jahren der Weimarer Republik zeigte sich eine zunehmende Tendenz im politischen Entscheidungsprozeß, Arbeitgeberinteressen in den Vordergrund zu stellen und die Gewerkschaften zu marginalisieren. Darüber hinaus waren die Vorbehalte gegen den sogenannten ‚Gewerkschaftsstaat’ sowie das gesamte System der Weimarer parlamentarischen Demokratie, auch unabhängig vom Problem der Arbeitslosigkeit, gesellschaftlich so weit verbreitet, daß sich dies durch die Durchführung eine expansionistischen, über die Finanzierungssumme der unter Papen und Schleicher bereits in Gang gesetzten Maßnahmen hinausgehenden Arbeitsbeschaffungsprogramms wohl kaum geändert haben dürfte. Große Teile der Gesellschaft wären bereit gewesen, eine solche expansionistische Politik zu akzeptieren, aber nur unter veränderten politischen Bedingungen. Dennoch mußten die deutschen Gewerkschaften im Hinblick auf ihre kontinuierlichen Mitgliederverluste zumindest versuchen, die ideologische Vorherrschaft und die notwendige Unterstützung für das Weimarer politische System durch die Entwicklung eines alternativen Gesellschaftsmodells im Rahmen eines ‚Umbau der Wirtschaft’ zurückzugewinnen. Während das dem TUC gelang, ließ der fehlende pluralistische Konsens der Weimarer Gesellschaft dem ADGB keine Erfolgschance. Das nationalsozialistische Konzept der ‚Volksgemeinschaft’, das die Zerstörung der organisierten Arbeiterbewegung einschloß, gewann daher den Kampf.“ (S. 392)

Dieses auf ein breites Quellenstudium und den Einsatz von Statistiken gestützte und methodenpluralistisch gewonnene Fazit bestätigt, dass komparatistische Einzelstudien historische Verantwortlichkeiten und Handlungsspielräume zusätzlich erhellen und in mancher Kontroverse zu klareren Urteilen führen können. Indirekte Einsichten für die gegenwärtige Diskussion um die Rolle von Gewerkschaften in Deutschland sind dabei nicht ausgeschlossen.

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