I. Reifowitz: Imagining an Austrian Nation

Titel
Imagining an Austrian Nation. Joseph Samuel Bloch and the Search for a Supraethnic Austrian Identity, 1846-1918


Autor(en)
Reifowitz, Ian
Reihe
East European Monographs
Erschienen
Anzahl Seiten
220 S.
Preis
$42.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Tobias Brinkmann, Parkes Institute for the Study of Jewish/non-Jewish Relations, University of Southampton

Die EU-Erweiterung nach Osten und Süden, die höchst umstrittene Möglichkeit einer Mitgliedschaft der Türkei, und nicht zuletzt die kontroverse Debatte über die EU-Verfassung haben die Frage nach den Kernelementen einer übernationalen „europäischen Identität“ aufgeworfen. Dabei ziehen manche Kommentatoren den Vergleich mit den Vereinigten Staaten von Amerika. Auch die Vertreter der ehemaligen britischen Kolonien führten nach dem Unabhängigkeitskrieg schwierige und langwierige Verhandlungen über die Form des gemeinsamen Bundesstaates, bis sie sich 1787 auf die amerikanische Verfassung einigen konnten. Diese besitzt trotz mehrerer Verfassungszusätze unverändert Gültigkeit. Das ist eine beeindruckende Erfolgsgeschichte, zumal sich die amerikanische Verfassung immer wieder bewähren musste. Die größte Herausforderung war die Sezession der Südstaaten 1861. Bis weit in das 20. Jahrhundert hinein schloss die Verfassung die Mehrheit der Gesellschaft, vor allem Frauen, Afro-Amerikaner und Indianer von einer politischen Partizipation weitgehend aus. Doch hat sie entscheidend dazu beigetragen, dass die Vielfalt der Einwandererkulturen im Sinne eines ethnischen Pluralismus in Amerika aufgehen konnte. Ethnisierung und Amerikanisierung schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern bedingen sich: das demonstrieren etwa die „Bindestrich-Identitäten“ der „German-Americans“, „Italian-Americans“ und vieler anderer Gruppen.

Immer häufiger wird zuletzt auch die Habsburgermonarchie als ein Modell angeführt, das für eine Verfassung der Europäischen Union relevant sein könnte. Diese „Vorbildfunktion“ mag auf den ersten Blick erstaunen, denn bis vor einigen Jahren galt die Geschichte der Habsburgermonarchie nach dem „Ausgleich“ von 1867 eher als Synonym für das genaue Gegenteil der Vision einer stabilen Europäischen Union: die krisenbehaftete graduelle Erosion des multiethnischen Imperiums, wirtschaftlich unterentwickelt und geschwächt durch zahlreiche Nationalitätenkonflikte, mündete letztlich über Sarajevo direkt in die Katastrophe des Ersten Weltkriegs. Das Narrativ der „Krise“ und einer mehr oder weniger ausgeprägten Teleologie hat viele Darstellungen zur Geschichte der Habsburgermonarchie geprägt, von wichtigen Ausnahmen wie der Studie „The Hapsburg Monarchy 1867–1914“ von Arthur J. May (1951) abgesehen. May etwa argumentierte, dass erst der „Grosse Krieg“ und nicht die Nationalitätenfrage den Untergang der Habsburgermonarchie herbeiführte. 1 Seit den 1980er-Jahren haben mehrere Autoren, darunter insbesondere der an der New Yorker Columbia University lehrende Historiker Istvan Deak und einige seiner Schüler das Motiv der Krise kritisch hinterfragt und für die Habsburgforschung neue Wege erschlossen. 2 In Ostmittel- und Südosteuropa hat letztere durch die politische Wende von 1989 einen starken Impuls erfahren. Auf der einen Seite demonstriert gerade der Jugoslawien-Konflikt die Brisanz und Sprengkraft des Nationalismus, auf der anderen Seite steht die EU als ein für Nationalstaaten integratives und ethnische Konflikte absorbierendes Gegenmodell.

In der Forschung wird angesichts dieser Entwicklungen vor allem die Frage der politischen Spielräume und Handlungsalternativen auf unterschiedlichen Ebenen der Habsburgermonarchie zwischen 1848 und dem Ersten Weltkrieg erörtert. In diesem Kontext ist die Studie von Ian Reifowitz angesiedelt, die auf der an der Georgetown University eingereichten Dissertation des Autors basiert. Reifowitz behandelt das Projekt des orthodoxen Rabbiners, Politikers und Journalisten Joseph Samuel Bloch (1850–1923), eine übergeordnete transethnische Identität in der Habsburgermonarchie zu verankern. Die Studie ist keine Biografie, sondern Reifowitz erörtert Blochs Nationalitäten-Reformprojekt im Kontext mit ähnlichen Vorschlägen, unter anderem von Adolf Fischhof, Karl Renner und anderen.

Eine Recherche nach Bloch in den gängigen Nachschlagewerken belegt, daß die Aufteilung der Forschungsgebiete bis in die Gegenwart durch ethnische Separierungen des späten 19. Jahrhunderts geprägt wird. Bloch firmiert überwiegend als bekannter Vorkämpfer gegen den Antisemitismus in der Habsburgermonarchie. Man findet ihn vor allem in den Indizes der gängigen Arbeiten über jüdische Geschichte in Wien und über Antisemitismus in Österreich. In den Studien über „allgemeine“ österreichische Geschichte wird er nur selten erwähnt.

Bloch entstammte einem traditionellen jüdischen Umfeld in Ostgalizien. Als Jugendlicher besuchte er Gymnasien in Deutschland, studierte in München und später in Zürich. Der junge Bloch bekleidete Rabbinate im holsteinischen Rendsburg, in Kobylin (Posen), Brüx (Böhmen), und schließlich im industriell geprägten Wiener Vorort Florisdorf. Reifowitz diskutiert nicht, dass Bloch aus einer gemischtsprachigen Region mit verschiedenen religiösen Gruppen stammte und dass seine Berufsstationen ihn in Grenzregionen führten. Vieles spricht dafür, dass diese Erfahrungen Bloch schon früh prägten, zumal er als orthodoxer Rabbiner Rendsburg, Kobylin und Brüx jeweils aus der Perspektive einer kleinen Minderheit erlebte. Bloch wurde Mitte der 1880er-Jahre einer breiten Öffentlichkeit bekannt, als er - bereits in Wien lebend - den einflussreichen und notorischen Antisemiten August Rohling öffentlichkeitswirksam herausforderte und als Pseudowissenschaftler entlarvte. In den folgenden Jahren rief Bloch wiederholt zum Kampf gegen den Antisemitismus auf und gehörte zu den Begründern der Österreichisch-Israelitischen Union, die sich die Abwehr des Antisemitismus auf ihre Fahnen schrieb. 3

Bloch verfocht seit den 1880er-Jahren bis in den Ersten Weltkrieg das Konzept eines ethno-pluralistischen Staates mit einer gemeinsamen transethnischen zivilen Identität. 1884, auf dem Höhepunkt der Kampagne gegen Rohling, kandidierte er als Vertreter eines Distrikts in Galizien erfolgreich für den Reichsrat, dem er elf Jahre angehörte. Bloch fungierte auch als ein bedeutender „opinion leader“. Mit der „Oesterreichischen Wochenschrift“ (ab 1895 „Dr. Bloch’s Oesterreichische Wochenschrift“) schuf er sich 1884 ein Sprachrohr. Seine zahlreichen Artikel und Kommentare aus der „Wochenschrift“ sowie andere Publikationen, darunter vor allem seine Memoiren, sind die Hauptquellengrundlage für Reifowitz‘ Studie. Er zitiert an vielen Stellen aus den Quellen. Dabei wäre es sicherlich sinnvoll gewesen, zumindest Kernzitate in den Fußnoten oder in einem Anhang im deutschen Original wiederzugeben.

Bloch stand programmatisch jenseits von Zionismus und Assimilation. Er forderte die assimilierten Juden in der Habsburgermonarchie auf, sich nicht als deutsch, polnisch, ungarisch oder tschechisch zu identifizieren, sondern als jüdisch. Den Zionismus, d.h. ethnische Separierung und einen eigenen Staat für Juden lehnte Bloch ebenfalls ab. Er setzte sich vielmehr für eine österreichische „Bindestrich-Identität” ein, die ethnische, religiöse, kulturelle und sprachliche Identifikationsmuster auch für nicht-territoriale Gruppen wie Juden mit der Konzeption einer zivilen übergreifenden „österreichischen“ Staatsangehörigkeit verband. Bloch betonte mehrfach, dass die Vereinigten Staaten von Amerika als Vorbild dienen könnten. In diesem Zusammenhang (und nicht in einem primär jüdischen Kontext) müsse, wie Reifowitz überzeugend argumentiert, auch sein Engagement gegen den Antisemitismus gesehen werden. Für Bloch bedrohte der Antisemitismus gerade der „Deutschen“ nicht allein die Juden, sondern das Zusammenleben der unterschiedlichen Nationalitäten und damit die Integrität der Habsburgermonarchie.

Die Studie ist in fünf Kapitel untergliedert. Im ersten Kapitel gibt Reifowitz einen kurzen Abriss der neueren Nationalismus-Forschung. Im zweiten Kapitel stellt er mit Blochs „Mentor“ Adolf Fischhof (1816–1893) einen der einflussreichsten linksliberalen Politiker im cisleithanischen Teil der Monarchie vor. Während Fischhof sich für die Gleichberechtigung der unterschiedlichen Nationalitäten einsetzte, identifizierte er sich anders als Bloch trotz seiner jüdischen Herkunft als Deutscher und war von der kulturellen Überlegenheit der Deutschen überzeugt. Im dritten und vierten Kapitel, dem Kern der Studie, beschäftigt sich Reifowitz mit Bloch. Im fünften Kapitel, „Other Voices“, stellt er Bloch anhand von Personen unterschiedliche Konzepte gegenüber, die sich im Rahmen der Monarchie bewegten und nicht auf eine Abspaltung hinausliefen. Vorgestellt werden Iakiv Holovatskyi, Frantisek Palacký, Joseph Eötvös, Aurel Popovici sowie Karl Renner und Otto Bauer. Die Studie verfügt über eine Auswahl-Bibliografie, leider fehlt ein Index.

“Imagining an Austrian Nation” richtet sich in erster Linie an fachlich versierte Leser. Die Studie eignet sich gut als Einführung in die Debatten über die Nationalitätenfrage in der Habsburgermonarchie. Leider kann Reifowitz die vorgestellten Konzepte nur bedingt miteinander verbinden. Es wäre sicherlich sinnvoll gewesen, Bloch und seine interessante Lebensgeschichte im Sinne einer „politischen Biografie“ stärker in den Blick zu nehmen und auf dieser Folie andere Konzepte zu diskutieren. Die „Conclusion“, in der Reifowitz die verschiedenen Stränge hätte wieder zusammenführen müssen, ist gerade einmal anderthalb Seiten lang. Auch auf einen Ausblick auf das Europa nach 1989 verzichtet Reifowitz. Dennoch bleibt es das Verdienst von Reifowitz, Blochs weitgehend vergessenes Engagement zu würdigen und die Forschung auf ihn aufmerksam zu machen.

Anmerkungen:
1 May, Arthur J., The Hapsburg Monarchy 1867–1914, Cambridge 1951.
2 Deak, Istvan, Beyond Nationalism. A Social and Political History of the Habsburg Officer Corps, 1848–1918, New York 1990; Judson, Pieter M., Exclusive Revolutionaries. Liberal Politics, Social Experience, and National Identity in the Austrian Empire, 1848-1914, Ann Arbor 1996; King, Jeremy, Budweisers into Czechs and Germans. A Local History of Bohemian Politics, 1848-1948, Princeton 2002.
3 Pulzer, Peter, Die Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland und Österreich 1867–1914, Göttingen 2004, S. 198.

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