P. Kissling: "Gute Policey" im Berchtesgadener Land

Titel
"Gute Policey" im Berchtesgadener Land. Rechtsentwicklung und Verwaltung zwischen Landschaft und Obrigkeit 1377 bis 1803


Autor(en)
Kissling, Peter
Reihe
Studien zu Policey und Policeywissenschaft
Erschienen
Frankfurt am Main 1999: Vittorio Klostermann
Anzahl Seiten
VIII+299 S.
Preis
DM 68,00
Achim Landwehr, Philosophische Fakultät, Heinrich-Heine-Universitaet Düsseldorf

Wollte man der Arbeit Peter Kisslings einen Vorwurf machen, dann möglicherweise denjenigen, daß der Titel leicht in die Irre führt. "Recht und gute Policey im Berchtesgadener Land" wäre möglicherweise angemessener gewesen, denn Kissling leistet in seinem Buch wesentlich mehr, als "nur" den Bereich spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Policey darzustellen. In einem knapp 70 Seiten umfassenden, "Grundlagen" betitelten ersten Teil stellt er die Rechtsentwicklung in Berchtesgaden dar, wobei die zentralen Bereiche der Grundherrschaft und Leibeigenschaft den breitesten Raum einnehmen, darüber hinaus aber auch die Themen Steuern, Landesdefension, Holz, Friede, Markt, Jagd, Wegeunterhalt und Wein Berücksichtigung finden.

Damit ist bereits ein Ziel benannt, das die Monographie verfolgt, und das einen weiter gefaßten Titel rechtfertigen würde. Die Entwicklung des geschriebenen Berchtesgadener Rechts soll nachgezeichnet werden, um damit die Einordnung der Policeyordnungen in einen weiteren rechtlichen Rahmen zu ermöglichen. Die breite Materialkenntnis, mit der Kissling diesen Anspruch einlöst, ist beeindruckend, da er souverän Quellen ausbreitet, die sich vom Spätmittelalter bis ins 19. Jahrhundert erstrecken. Diese Fülle wirkt um so bemerkenswerter, als es sich bei Kisslings Arbeit nicht um eine Dissertation handelt, sondern um eine in Bern eingereichte Lizentiatsarbeit. So manche Doktorarbeit könnte sich von diesem Vorhaben etwas abschneiden.

Den Faden der rechtlichen Entwicklung, den Kissling im Spätmittelalter aufnimmt, verfolgt er anhand zentraler Policey- und Landesordnungen durch die gesamte Frühe Neuzeit hindurch. Im Zentrum stehen dabei vor allem die beiden zentralen Berchtesgadener "Landespoliceyen" von 1629 und 1667, diverse Handwerks- und Marktordnungen sowie die einschlägigen Landrechtsbücher. Was sich daher vor dem Leser ausbreitet, kann durchaus als eine Gesetzgebungsgeschichte Berchtesgadens bezeichnet werden, wobei besonders hervorzuheben ist, daß Kissling sich nicht einfach auf gedrucktes Material konzentriert hat, sondern die Ergebnisse seiner Arbeit nahezu gänzlich aus Archivbeständen bezieht. Somit stellt seine Arbeit nicht weniger dar als einen Überblick über die historische Entwicklung der schriftlich fixierten Normen in Berchtesgaden.

Dies ist jedoch nur ein Ziel des Buches. Das zweite macht der Untertitel kenntlich, indem er diese Entwicklung im Spannungsfeld zwischen Landschaft und Obrigkeit ansiedelt. In der Tradition der Blickle-Schule geht es Kissling bei der Bearbeitung seines Materials um den "Einfluß der Untertanen auf die Policeygesetzgebung" (S. 1). Damit ist ein Desiderat angesprochen, das sich zur Zeit bei der Erforschung frühneuzeitlicher Policey besonders bemerkbar macht. Die Geschichte der Policey und der Policeynormen ist zwar kein ganz junges Unternehmen mehr, jedoch eines, das lange Zeit nur recht geringe Aufmerksamkeit auf sich ziehen konnte. Abgesehen von den einschlägigen Arbeiten Gustaf Klemens Schmelzeisens, Hans Maiers und weniger anderer, lag die Beschäftigung mit diesem historischen Thema brach. Dies überrascht in der Rückschau vor allem deshalb, weil es sich bei dem Begriff der "guten Policey" - auch und vor allem wegen seiner Nähe zum "gemeinen Nutzen" - fraglos um eines der zentralen, wenn nicht sogar um das wichtigste Ordnungskonzept frühneuzeitlicher Gesellschaften handelte. Konzentrierte sich das dünne Rinnsal von Forschungsarbeiten zur Policey lange Zeit auf wortgeschichtliche Überlegungen und auf einige ausgewählte, wissenschaftlich besonders attraktive Bereiche der Gesetzgebung (wie Luxus oder Randgruppen), wird erst seit etwa zehn Jahren die Policeynormierung und -konzeptualisierung in ihrer ganzen Breite gewürdigt. Vor allem das entsprechende Forschungsprojekt des Max-Planck-Instituts für Europäische Rechtsgeschichte hat hier Grundlagenarbeit geleistet. Diese ermöglichte es auch, in den letzten Jahren drängende Fragen anzugehen, die sich auf frühneuzeitliche Policey als gesellschaftliche und politische Praxis bezogen. Gerade solche Arbeiten fordern nun jedoch dazu heraus, den Blick unter einer veränderten Perspektive wieder auf das normative Material zu richten. Wenn Policey als Praxis bereits interessante Ergebnisse zutage fördern konnte, schließt sich nahezu zwangsläufig die Frage an, wie sich Policeynormierung als Praxis konkret ausgestaltete. Wie kamen die Gesetze zustande, die sich zu Hunderten und Tausenden über die frühneuzeitlichen Untertanen ergossen? Genau hier setzt Kisslings zweite Fragestellung an und kann dazu wertvolle Ergebnisse beisteuern.

Die Berchtesgadener Policeyordnung von 1629 legt schon aufgrund ihrer Materien den Verdacht nahe, daß die Normadressaten an ihrem Zustandekommen alles andere als unbeteiligt gewesen waren. Denn es waren, im Gegensatz zu dem ansonsten umfassenden Anspruch solcher Ordnungswerke, nur wenige Schwerpunkte, die hier normativ fixiert wurden: die Zuständigkeiten des Berchtesgadener Landgerichts, seine Organisation sowie das Verhalten und die Versorgung des Gerichtspersonals. Die Regelung dieser Punkte lag im unmittelbaren Interesse der Untertanen, weshalb eine - wie auch immer geartete - Beteiligung ihrerseits recht plausibel erscheint. Zur Gewißheit werden solche Einflußmöglichkeiten der Bevölkerung auf Policeygesetze durch die Auseinandersetzungen um die Policeyordnung von 1629, die Kissling im Einzelnen nachweisen kann. Denn der Konflikt, den diese Ordnung auslöste, und der 1681 schließlich beim Reichshofrat landete, lief nicht, wie man vermuten könnte, darauf hinaus, daß die Untertanen ihre Abschaffung oder Änderung verlangten. Im Gegenteil, sie forderten die Umsetzung dieser Policeyordnung! Zumindest die Teile zur Zuständigkeit und Organisation des Landgerichts sollten effektiv in der Praxis verwirklicht werden, während die Berchtesgadener eine Änderung hinsichtlich der Versorgung des Gerichtspersonals anstrebten, statt durch den Publikumsverkehr sollten sie durch Steuermittel alimentiert werden. Daß diese Änderung tatsächlich eintrat, war den sich über Jahrzehnte hinziehenden Bemühungen der Landschaft zu verdanken.

Noch stärker zeigen sich die Einflußmöglichkeiten bei den Handwerker- und Marktordnungen Berchtesgadens. Hier ist es offensichtlich, daß von den Zünften nicht nur die Initiative zur Formulierung der einzelnen Ordnungen ausging, vielmehr waren sie auch direkt an deren Ausarbeitung beteiligt. Sicherlich trug auch die Obrigkeit ihren nicht zu unterschätzenden Anteil zu diesen Ordnungen bei, jedoch wurde sie in diesem Bereich kaum einmal aus eigenem Antrieb tätig.

Kissling begnügt sich jedoch nicht mit Urteilen, die die Beteiligung von Untertanen an der Gesetzgebung nur feststellen, sondern differenziert für einzelne Rechtsbereiche sehr wohl die jeweils konkreten Einflußmöglichkeiten. Im Rahmen der Abwehr äußerer Gefahren, der Armenpolitik, des Müßiggangs, der Religion, der Wilderei und der Gruppe der Abdecker, die Kissling als Beispiele heranzieht, lassen sich deutliche Unterschiede feststellen. Dies betrifft nicht nur die Möglichkeiten der Landschaft, die jeweiligen Normen mit zu gestalten, sondern vor allem deren Interesse. So bot der gesamte Bereich der Armen- und Vagantenpolitik immer wieder Anlaß für die Berchtesgadener, selbst aktiv zu werden, während das Thema der Sittlichkeitsdelikte sie offenbar nur wenig begeistern konnte, - Ergebnisse, die mit anderen Forschungen zum Verhalten von Untertanen vor Gericht durchaus konvergieren. Mit dem Thema der Wilderei liegt ein Beispiel vor, in dem es den Normadressaten offensichtlich nicht gelang, in irgendeiner Form Einfluß zu gewinnen. Hierbei handelte es sich in der Tat um ausschließlich obrigkeitlich formulierte und verabschiedete Gesetze. In dem beiderseitigen Bemühen von Obrigkeit und Untertanen, für die Herstellung guter Policey zu sorgen, traf man sich auf normativer Ebene in der Figur des "Hauses", das - nicht weiter verwunderlich - das zentrale Element gesellschaftlicher Ordnungsvorstellungen ausmachte. Sich im Haus oder außer Haus zu befinden, war das entscheidende Kriterium für die jeweilige soziale Positionierung.

Angesichts dieser Ergebnisse einer auf breiter Quellenbasis ruhenden und zudem sehr gut lesbaren Arbeit kommt Kissling zu dem Schluß, daß gute Policey in Berchtesgaden (aber, so zeigen parallele Arbeiten, auch andernorts) weder ein ausgeklügeltes obrigkeitliches Programm war, das auf eine langfristig gesicherte Organisation oder Durchstrukturierung der Herrschaft abzielte, noch eine von langer Hand geplante Disziplinierung der Untertanen im Auge hatte. Ebensowenig läßt sich gute Policey als ein Versuch charakterisieren, das Mittelalter in petrifiziertem Zustand bis an die Schwelle der Neuzeit zu retten. Policey zeichnete sich in der Wechselwirkung zwischen Obrigkeit und Landschaft vielmehr durch zwei Aspekte aus: Sie war erstens versucht, akut auftretende Risse im sozialen, politischen und wirtschaftlichen Ordnungsgefüge gemäß gültiger Auffassungen zu kitten und konnte dies zweitens auch, aufgrund der Tatsache, daß gute Policey, gesamtgesellschaftlich gesehen, eine Formel war, die zumindest im Prinzip mit einem breiten Konsens rechnen konnte. Sicherlich kam es in Fragen der konkreten Ausgestaltung guter Policey immer wieder zu Auseinandersetzungen, jedoch wurde ihre generelle Notwendigkeit nie wirklich in Frage gestellt. Hinsichtlich der Fragen, die die Geschichtswissenschaft an das Phänomen der frühneuzeitlichen Policey stellt, sind wir dank der Arbeit Peter Kisslings um einige wesentliche Antworten reicher.

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