A. Saint-Gille: La Paneurope. Un débat d’idées dans l’entre-deux-guerres

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Titel
La Paneurope. Un débat d'idées dans l'entre-deux-guerres


Autor(en)
Saint-Gille, Anne-Marie
Reihe
Monde germanique. Histoires et cultures
Erschienen
Anzahl Seiten
389 S.
Preis
€ 22,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Geneviève Warland, Facultés universitaires Saint-Louis

Eine Reise in die Denkwelt des Grafen Coudenhove-Kalergi (1894-1972) und in den intellektuellen Kontext der Zwischenkriegszeit bietet das Buch von Anne-Marie Saint-Gille, Professorin für deutsche Literatur und Zivilisation an der Universität Lyon II. Die Behandlung der Hauptthematik – die Idee einer politischen Einigung Europas – ist sowohl für Historiker als auch für Philosophen interessant. In der Tat geht es hier darum, ein Stück Ideengeschichte, um die kosmopolitische Figur Coudenhove-Kalergi, der in dem österreichischen-hungarischen Reich geboren wurde und in dem Tsechischen Böhmen lebte, Doktor in Philosophie und Begründer der Paneuropa-Bewegung, zu erhellen.

In einem ersten Teil liefert Saint-Gille eine eingehende Analyse des programmatischen Buches „Paneuropa“ (1923). Sie zeigt deutlich, dass das durch Coudenhove-Kalergi gedachte Europa als Föderation liberaler Staaten (aus diesem politischen Grund schloss er z. B. die UdSSR aus) den Frieden gewähren und ein humanistisches Ideal verkörpen sollte, der in der Achtung der Menschenrechte und dem Kampf gegen jeglichen konservativen Nationalismus und Antisemitismus verwurzelt sei. Saint-Gille untersucht zuerst die geistigen Einflüsse des jungen Grafen: Maximilian Harden, Thomas Woodrow Wilson und Thomas Masaryk, alle drei Vorläufer der Idee eines geeinigten Europa, aber auch Kurt Hiller mit seinem neo-aristokratischen Prinzip und Alfred Hermann Fried mit dem panamerikanischen Modell. Mit Spengler, dessen Buch Der Untergang des Abendlandes (1. Band: 1918; 2. Band: 1922) einen großen Anklang wegen des damaligen verbreiteten Kulturpessimismus gefunden hatte, war Coudenhove-Kalergi nicht einig, indem für ihn der Niedergang nicht in der europäischen Kultur sondern in dem politischen demokratischen System lag. Die politischen Essays Coudenhove-Kalergis sind nicht von seinen philosophischen Büchern zu trennen. Die Grundlagen seiner Überlegungen sind ethischer Natur, und der Entwurf einer Europäischen Einigung soll eine Antwort auf die moralische Krise geben, die mit der Entchristlichung der Welt zu tun hat. Jedoch befindet sich die Antwort nicht auf der Seite einer neuen Transzendenz; sie soll immanent sein und durch das ästhetische Ideal einer „Hyperethik“ mit dem Mut als Zentralwert und einem neuen Heroismus geleitet werden.

Im zweiten Teil führt Saint-Gille eine Rekonstruktion der Geschichte der Paneuropäischen Union aus, immerhin die meist bekannte europäistische Organisation in der Zwischenkriegszeit (S. 121). Sie verfolgt die Tätigkeit Coudenhove-Kalergis über die politische und diplomatische Szene und enthüllt seine Strategie der Überzeugung von Staatsmännern und Intellektuellen – wie z. B. durch eine weit verbreitete Umfrage, die an prominente Leute geschickt worden ist. Da es hier hauptsächlich um den Kontext geht, stellt auch Saint-Gille die Verhältnisse der Paneuropäischen Union zum Völkerbund und zu den pazifistischen Bewegungen dar. Nach einem raschen Erfolg in den zwanziger Jahren – der erste Kongreß in Wien 1926 versammelte 2000 Teilnehmer – stieß die Union mit der ökonomischen Krise und der Verbreitung extremer Formen von Nationalismen in den dreißiger Jahren immer wieder auf größere Schwierigkeiten, ihre Ideen durchzusetzen. Bei der Bearbeitung der notwendigen Quellen zur Darstellung der Wirkung der Paneuropäischen Union, insbesondere der Vorbereitung des gescheiterten Kongresses in Brüssel 1927 und des Treffens in Paris 1928 (S. 152-154) soll Saint-Gille eine wichtige Quelle vernachlässigt haben, nämlich das Archiv der Paneuropa-Bewegung, das in den Moskower Rossiiskii Gosudarstvennyi Voennyi Arkhiv aufbewahrt ist (dieser Hinweis befindet sich in der Rezension dieses Buches durch Geneviève Duchenne, die eine Dissertation über die Idee Europas in Belgien in der Zwischenkriegszeit vorbereitet, in Revue de l’histoire de l’intégration européenne, 10 (2004), S. 115-116). Dieser Mangel mag zu Interpretationsungenauigkeiten bei der Einschätzung des ökonomischen Einflusses der Tätigkeit Coudenhove-Kalergis in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre führen.

Zum Schluß geht Saint-Gille den Spuren der Rezeption der paneuropäischen Idee in hauptsächlich deutschen intellektuellen Milieus – politischen und litterarischen nach. Die in Frage kommenden Kommunikations- und Diskussionsorgane sind Zeitschriften: für die Pazifisten, Friedenswarte (Wihlelm Heile) oder Die Weltbühne (Carl von Ossietzky); Europäische Revue, gebunden an den Kulturbund (Karl Anton von Rohan), oder auch Abendland, eine katholische Zeitschrift. So ergibt sich das Bild einer kritischen Übernahme des Paneuropäismus. Denn es kommen durch teilweise falsche oder übertriebene Interpretationen der Schriften Coudenhove-Kalergis neue Gegensätze heraus: Eurozentrismus versus Internationalismus, politische Einigung Europas gegen rein kulturelle Einigung, Nostalgie des (christlichen) Modells Europas unter Karl dem Großen, usw. Auch die Stellung politischer Parteien (SPD und NSDAP) und anderer Kreise (wie die kommunistischen Strömungen oder die deutsche Schule der Geopolitik) zu den Ideen Coudenhove-Kalergis über brennende Fragen wie das Mitteleuropa und den Anschluß wird untersucht. Dabei zeigen sich die Divergenzen zwischen dem humanistischen Idealismus des Grafens und dem Pragmatismus der „Realpolitiker“.

Dieses Buch bringt einen detaillierten Einblick in die spannungsreiche Zeit zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg, in der pazifistische Ideale und Organisationen sich neben konservativen und nationalistischen Konzeptionen und Parteien entwickelten. Ohne eine intellektuellen Biographie zu bieten, konzentriert es sich auf die Verbreitung des Denkens Coudenhove-Kalergis um Paneuropa: Formulierung dieser Idee in seinen Schriften; politische Umsetzung in der paneuropäischen Union; Rezeption unter den Intellektuellen und in den politischen Milieus. Dabei ist es Saint-Gille gelungen, einen hilfreichen Beitrag zur Geschichte des Europäismus – d. h. der politischen Idee Europas – zu liefern. So gehört dieses Buch eindeutig zum Feld der Ideengeschichte, trotz Überschneidungen mit der Geschichte der politischen Parteien und der Geschichte der internationalen Beziehungen. Neben der schon erwähnten Kritik zur Quellenforschung sollen noch regelmässige unnötige Wiederholungen (wie z. B. die Tatsache, dass Coudenhove-Kalergi mehr als die Hälfte der Aufsätze seiner Zeitschrift Paneuropa schrieb, S. 117 und S. 122) bemerkt werden, die eine flüssige und durchgängige Lektüre erschweren.

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