Cover
Titel
Wozu Geschichte(n)?. Geschichtswissenschaft und Geschichtsphilosophie im Widerstreit


Herausgeber
Depkat, Volker; Müller, Matthias; Sommer, Andreas Urs
Erschienen
Stuttgart 2004: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
215 S.
Preis
€ 38,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Uwe Barrelmeyer, Widukind Gymnasium Enger

Die Frage nach dem Zusammenhang zwischen „Geschichte“ und „Identität“ hat durch die Erfahrung der Epochenzäsur 1989/90 neue Aktualität bekommen. Insbesondere ergibt sich daraus ein Bedarf an geschichtstheoretischer bzw. -philosophischer Selbstvergewisserung. So zumindest hieß es in der Ankündigung einer interdisziplinären Vortragsreihe zum Thema „Wozu Geschichte(n)?“, die im Mai 2002 an der Universität Greifswald stattfand. Der vorliegende Sammelband macht die überarbeiteten Tagungsvorträge sowie drei nachträglich erstellte Beiträge einer größeren wissenschaftlichen Öffentlichkeit zugänglich.

Für die Herausgeber bezeichnet die Frage „Wozu Geschichte(n)?“ ein Feld von Problemkomplexen, das durch die Begriffspaare „Geschichtsbewusstsein“ und „Identität“ sowie „Geschichtsphilosophie“ und „Historik“ markiert wird. Im Mittelpunkt steht die bereits von Johann Gustav Droysen gestellte Frage, „wie wir uns auf die Vergangenheit beziehen, wie wir sie in ‚Geschichte’ verwandeln“ (S. 7). Klassische geschichtsphilosophische Entwürfe hätten sich mittlerweile als obsolet erwiesen und träten allenfalls noch in Gestalt „dissidenter geschichtsphilosophischer Entwürfe“ (S. 7) in Erscheinung. Der gegenwärtig marginalen Rolle der Geschichtsphilosophie innerhalb der akademischen Philosophie stehe eine Abwanderung der historischen Grundlagenreflexion in die einzelnen historischen Disziplinen zur Seite.

Die Herausgeber verfolgen die „ehrgeizige Absicht, [...] die geschichtsphilosophische Reflexion erneut mit den Grundlagendiskussionen innerhalb der historischen Wissenschaften ins Gespräch zu bringen“ (S. 8f.). Im Kern gehe es darum, „ein Panorama des gegenwärtigen Geschichtsdenkens sowohl innerhalb der Philosophie als auch innerhalb der historischen Fächer“ zu entfalten (S. 9). Es sei ein Qualitätsmerkmal der Aufsätze, dass die beteiligten Autoren darauf verzichtet hätten, „der Vielgestaltigkeit der theoretischen Ansätze im geschichtstheoretisch-geschichtsphilosophischen Bereich durch eine [...] rigide Verengung des Blickwinkels zu begegnen“ (S. 9). Vielmehr sollten die spezifischen „Anschlussstellen und Diskursgrenzen“ (S. 9) zwischen den beteiligten Fächern offen gelegt werden.

Das disziplinär entfaltete „Panorama des Geschichtsdenkens“ ordnen die Herausgeber dem Spannungsfeld „der Pole ‚Geschichtsphilosophie’, ‚Theorie der historischen Erkenntnis’ und dem Gebrauch von Theorien für die Historiographie“ zu (S. 9). Es umfasst literaturwissenschaftliche (Lionel Gossman), kunstgeschichtliche (Kilian Heck, Matthias Müller), philosophische (Emil Angehrn, Mirko Wischke), theologische (Philipp Stoellger) sowie geschichtswissenschaftliche Grundlagenbeiträge (Chris Lorenz, Hans-Ulrich Wehler).

Die Bedeutung der Anekdote als Form des historischen Erzählens beleuchtet Gossman („Wittgensteins Feuerhaken“). In der Geschichtsschreibung dienten Anekdoten rhetorisch häufig dazu, eine „Bestätigung des Dargelegten“ zu liefern. Neben diesem „positiven Gebrauch der Anekdote“ gebe es auch einen „kritischen oder negativen Gebrauch“, der – wie etwa in der Mikrohistorie – die großen „historischen Thesen zu entlarven und zu untergraben“ suche (S. 108).

Die Frage nach einer Visualisierung von geschichtstheoretischen Vorstellungen wird nach Aussage der Herausgeber „im Medium des Bildes und der Architektur“ (S. 9) thematisiert. Heck („Der Ahne als Denkform“) untersucht, wie sich historisches Bewusstsein in den genealogischen Denkmustern des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit (Ahnengedächtnis, dynastische Repräsentationen) artikulierte. Heck begreift das genealogische Denken als systematische Form des Weltverstehens, das zur „Ausformung eines säkularen Menschenbildes“ einen entscheidenden Beitrag geleistet habe. „Obwohl das genealogische Denken spätestens nach 1800 seine Ubiquität als politisch-soziales Erklärungsmodell verloren“ habe (S. 169), sei dessen Faszination bis heute erhalten geblieben.

Müller untersucht am Beispiel des amerikanischen Architekten Daniel Libeskind, inwiefern Baukunst den Charakter eines geschichtsphilosophischen Entwurfs annehmen kann. Anhand des Jüdischen Museums Berlin und des Felix-Nussbaum-Hauses in Osnabrück würdigt Müller „Libeskinds Bemühen, mit Hilfe seiner expressiven Baukunst in den Trümmern des Holocaust die verschütteten Wege der nachhaltig zerstörten humanistischen Glaubenswelt [...] freizulegen, um sie sodann in die Zukunft einer neuen, kosmopolitisch wie interkulturell geprägten Welt zu verlängern“ (S. 174).

Der Aufgabe geschichtsphilosophischer Selbstvergewisserung ist der Beitrag Angehrns gewidmet („Vom Sinn der Geschichte“). Angehrn stellt fest, dass die Wendung „Sinn der Geschichte“ mehrdeutig und daher klärungsbedürftig sei. Entsprechend der drei Hauptbedeutungen des Sinnbegriffs (Wahrnehmungsfähigkeit, verstehbare Bedeutung, Wert und Zweck) sei zwischen einem kulturellen Geschichtssinn, einem hermeneutischen sowie einem normativ-wertenden Sinn zu unterscheiden. Infolge des Bedeutungsverlusts des normativ-wertenden Sinnbegriffs liegt für Angehrn die spezifische Funktion der Beschäftigung mit Geschichte in der Identitätsbildung: Unser existentielles Interesse, Geschichte verstehend zu erschließen und uns darin über uns selbst verständigen zu können, mache den Sinn der Beschäftigung mit Geschichte aus (S. 30).

Wischke fragt nach dem Sinn geschichtsphilosophischer Betrachtungen („Ist es notwendig, die Vergangenheit zu verstehen?“). Auch für ihn ist eine Verabschiedung der klassischen „Geschichtsphilosophie als einer Geschichtsmetaphysik“ unausweichlich: „An die Stelle des Singulars tritt ein Plural von Sinn“ (S. 37). Gleichwohl bleibe es in verantwortungsethischer Hinsicht unverzichtbar, dass wir uns eine Vorstellung darüber bildeten, „was zukünftig wünschenswert und erstrebenswert sein könnte“ (S. 47).

Stoellger („Geschichten aus der Lebenswelt“) sucht eine theologisch fundierte Antwort auf die Frage „Wozu Geschichte(n)?“. Eine theologische Geschichtsschreibung müsse sowohl gegenüber der Religion als einer soziozentrischen „Form der Gedächtniskultur“ (S. 82) wie auch gegenüber der regulativ neutralen Historiografie Position beziehen. Damit erhalte die Theologie die Aufgabe, „als Theorie der Geschichte und Praxis der Geschichtsschreibung das religiöse Gedächtnis immer von neuem zu befremden“ und damit der religiösen Versuchung entgegenzuwirken, „alle mit einzubeziehen, und zwar so, dass sie final zu Gliedern der eigenen Religion werden“ (S. 87f.).

In dem Beitrag „Wozu noch Theorie der Geschichte?“ befasst sich Lorenz mit der von ihm diagnostizierten „Krise der Gesellschaftsgeschichte“ (für die vor allem Hans-Ulrich Wehler und Jürgen Kocka stehen). In den neueren Grundlagendebatten seien die zentralen Konzepte der Gesellschaftsgeschichte (Modernisierungstheorie, Sonderwegsthese) zunehmend in Frage gestellt worden. Lorenz versucht die Gründe für diese Krise mit Blick auf die „kognitiven Probleme der Gesellschaftsgeschichte“ (S. 130) herauszuarbeiten. Die radikale Historismuskritik der Bielefelder Gründergeneration habe im Zuge einer schlichten Umkehr des historistischen Paradigmas zu einer einseitigen Privilegierung anonymer Strukturen und Prozesse sowie zur Vernachlässigung historischer Akteure und historischen Handelns geführt. Angesichts der Konjunktur kulturgeschichtlicher Forschungsansätze liege die Schlussfolgerung nahe, „dass das Bündnis zwischen Gesellschaftsgeschichte und Modernisierungstheorie als ambivalent charakterisiert werden“ müsse (S. 140). Aufstieg und Niedergang der Gesellschaftsgeschichte seien so zumindest partiell zu erklären.

Diese Schlussfolgerung bestreitet Wehler in einer kurzen Replik indes vehement („Modernisierungstheorie und Gesellschaftsgeschichte“). Er relativiert die konzeptionelle Bedeutung der Modernisierungstheorie und bietet im Anschluss einen persönlich gehaltenen Einblick in die forschungspraktische Entwicklung gesellschaftsgeschichtlicher Forschung.

Die Herausgeber des Sammelbandes erheben den Anspruch, einen disziplinenübergeifenden Überblick über das gegenwärtige Geschichtsdenken zu liefern und zugleich thematische Anschlüsse und Diskursgrenzen zwischen den beteiligten Fächern offen zu legen. Dieser Anspruch darf angesichts der instruktiven Einzelbeiträge als erfüllt betrachtet werden. Demgegenüber ist die Umsetzung der weitergehenden, von den Herausgebern selbst als „ehrgeizig“ qualifizierten Zielsetzung, die geschichtsphilosophische Reflexion erneut mit den Grundlagendiskussionen der Geschichtswissenschaften ins Gespräch bringen zu wollen, insgesamt skeptischer zu bewerten.

Die Herausgeber bieten den Lesern nur wenige systematische Orientierungshilfen für eine übergreifende Verknüpfung der Einzelbeiträge. Wechselseitige argumentative Bezugnahmen der Autoren sind nur ansatzweise zu erkennen. Zudem dokumentiert Wehlers kritische Replik auf Lorenz’ Beitrag primär die Funktionsweise intradisziplinärer Diskursgrenzen: Mit Verweis auf die Nachrangigkeit konzeptioneller Reflexionen und den Vorrang der „Praxis gesellschaftsgeschichtlicher Synthesearbeit“ (S. 147) disqualifiziert Wehler Lorenz’ geschichtstheoretische Ausführungen als wissenschaftstheoretisches „Glasperlenspiel“. Dies ist logisch nicht nachzuvollziehen, da Lorenz in gebotener argumentativer Klarheit die bewusste konzeptionelle Beschränkung der eigenen geschichtstheoretischen Analysen (Ebene der Programmformulierungen) explizit herausstellt und zugleich die Erforschung der konkreten Wissenschaftspraxis als komplementäre Aufgabe betont. Insofern bleibt das von den Herausgebern angekündigte geschichtsphilosophische Gespräch auch in diesem Fall leider ein Selbstgespräch der Autoren.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension