Titel
Johan Huizinga. Geschichtswissenschaft als Kulturgeschichte


Autor(en)
Strupp, Christoph
Erschienen
Göttingen 2000: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
352 S.
Preis
€ 34,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martina Hessler, Institut fuer Geschichte, TU Darmstadt

Die Herausforderung der Geschichtswissenschaft durch die "neue Kulturgeschichte" löste in den letzten Jahren nicht nur heftige geschichtstheoretische Debatten aus, sondern lenkte zugleich den Blick zurück auf die klassische Kulturgeschichte des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Zwischen Jahrhundertbeginn und Zweitem Weltkrieg erhielt die Beschäftigung mit "Kultur" in verschiedenen geisteswissenschaftlichen Disziplinen wie der Geschichte, Philosophie oder der Soziologie einen Aufschwung, der dem heutigen vergleichbar ist. Grund genug auch für die Geschichtswissenschaft, einen Blick auf die eigene historiographische Tradition zu werfen.1

Christoph Strupp widmet sich in seiner Dissertation dem niederländischen Historiker Johan Huizinga. Er legt eine beeindruckende Arbeit vor, die zugleich eine intellektuelle Biographie Huizingas, einen Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte, zur Institutionengeschichte der niederländischen Geschichtswissenschaft und eine Diagnose des intellektuellen Lebens der Zwischenkriegszeit darstellt sowie einen Beitrag zur aktuellen geschichtstheoretischen Diskussion liefert.

Während Huizinga auch heute aufgrund seines Buches "Herbst des Mittelalters" einem breiten Publikum bekannt ist, fanden seine Schriften in der Geschichtswissenschaft keine nachhaltige Beachtung. Vielmehr zählte er schon bald nach seinem Tod 1945 zu den Klassikern und wurde in eine Reihe gestellt, die von Ranke über Michelet bis Burckhardt führt. Mit einem prägnanten und souveränen Überblick über die historiographische Entwicklung nach 1945 erklärt Strupp am Ende seiner Arbeit diese mangelnde Rezeption Huizingas aufgrund der Dominanz sozialgeschichtlicher Ansätze. Gleichwohl berührt dessen Wissenschaftsverständnis wesentliche Aspekte heutiger geschichtstheoretischer Diskussionen um eine neue Kulturgeschichte. Diese Debatten bilden den historiographischen Kontext, in den Strupp seine Untersuchung einordnet.

Aber auch wenn Strupp kompetent an heutige geschichtstheoretische Auseinandersetzungen anknüpft, ist es doch in erster Linie sein Ziel, das Werk Huizingas, sein Wissenschaftsverständnis und sein Konzept der Kulturgeschichte zu rekonstruieren. Dabei ist es ein wesentliches Anliegen, nach "wissenschaftsgeschichtlichen, gesellschaftlichen und individuellen Einflüssen" (14) zu fragen. So wird einleitend (Kapitel I) die historiographische Situation im 19. Jahrhundert im internationalen Kontext betrachtet, die zeitgenössische Rolle der Geschichtswissenschaft in den Niederlanden skizziert und in einem biographischen Abriß die Person Huizinga vorgestellt.

Die Komplexität der Arbeit ergibt sich nicht zuletzt aus Strupps Anspruch, Huizinga nicht nur als Historiker darzustellen, sondern zugleich als Wissenschafts- und Kulturpolitiker sowie als einen über zeitgenössische Entwicklungen besorgten Kulturkritiker. Dies bestimmt zugleich den Aufbau der Arbeit. Die Kapitel II-V behandeln die geschichtstheoretischen Vorstellungen Huizingas (II), seine Geschichtsschreibung (III), seine Rolle als Wissenschafts- und Kulturpolitiker (IV) sowie die Verlagerung seiner Aktivitäten hin zu einem engagierten Kulturkritiker in den 30er und 40er Jahren (V). Deutlich wird dabei, daß "der Kulturhistoriker Huizinga (...) sich von dem Kulturpolitiker und Kulturkritiker nicht trennen (läßt). In allen drei Rollen bestimmt das Bewußtsein für die Bedeutung der historischen Erfahrung und ihrer kulturellen Formen als Grundlage individueller und kollektiver Identität sein Denken und Handeln." (15)

Damit sind die Stichworte genannt, die in den vier Hauptteilen zu Huizingas Werk und Tätigkeiten eine zentrale Rolle spielen und auf die im folgenden näher eingegangen werden soll.

Auch wenn Huizinga als Begründer der Geschichtstheorie in den Niederlanden gilt, läßt sich aus seinen Schriften kein abstraktes Modell der Kulturgeschichtsschreibung herausfiltern. Da er zudem selbst sein Konzept von Kulturgeschichte als theoriefern und eklektisch einschätzte und es im Lauf der Zeit Veränderungen unterworfen war, vermeidet es Strupp, Huizingas Vorstellungen zu einer geschlossenen Theorie der Kulturgeschichte zu glätten. Sich auf Jörn Rüsens Konzept der disziplinären Matrix beziehend (43f.), zeichnet Strupp statt dessen den Prozeß des Suchens, der Auseinandersetzung mit anderen Ideen und Disziplinen sowie die permanenten Reflexionen, die Huizingas Geschichtstheorie kennzeichnen, nach.

Das Wissenschaftsverständnis Huizingas war wesentlich geprägt durch seine Abgrenzung von der Soziologie und Psychologie. Demgegenüber betonte er die Rolle der Intuition und der gefühlsmäßigen Beziehung zur Vergangenheit. Geschichtswissenschaft sollte nicht erklären, sondern ein Verstehen bzw. Nachleben ermöglichen. Wesentlich für Huizinga war es, Kunst und Wissenschaft nicht gegeneinander zu stellen. Vielmehr betonte er die Parallelen zwischen Kunst und Geschichtsschreibung. Darin zeigt sich seine Prägung durch Bildende Kunst, Literatur und altindische Kultur, die sein Wissenschaftsverständnis formte, wie Strupp betont. So machte er nicht nur - wie in seinem bekanntesten Werk "Herbst des Mittelalters" -, Bilder zum Ausgangspunkt für historische Forschung, sondern sein Ziel war es zudem, ein Bild der Vergangenheit zu zeichnen: Diese Anschaulichkeit war für ihn die Voraussetzung historischer Begriffsbildung, denn im Unterschied zu den Naturwissenschaften gehe es in der Geschichte nicht um Reduktion bzw. Abstraktion, sondern im Gegenteil um die Vorstellung eines größeren Komplexes: eines Bildes. Das Anliegen, auf diese Weise, den Leser die Vergangenheit nacherleben und erfahren zu lassen, berührt einen wichtigen Begriff in Huizingas Geschichtsverständnis: die "historische sensatie" (historische Empfindung bzw. sinnlicher Reiz). So "schrieb er nicht nur für das Auge, sondern auch für das Ohr. Er schuf eine Sprache, die unter Verwendung zahlreicher lautmalerischer poetischer Figuren und Neologismen einen möglichst intensiven Kontakt zur mittelalterlichen Wirklichkeit herstellen und die Erfahrung der Vergangenheit zum Ausdruck bringen sollte." (118)

Mit diesem Konzept einer Kulturgeschichtsschreibung löste er sich zugleich von der Politik- und Ereignisgeschichte. Dabei vertrat er ein holistisches Kulturkonzept, das sich deutlich von einer Geschichte der Kultur als Teilgebiet der Geschichtswissenschaft abhob. Kultur galt ihm als Ausgangspunkt für das Verständnis und die Synthese einer historischen Epoche. Sein wissenschaftlicher Kulturbegriff, den er erst im Laufe seines intellektuellen Wirkens entwickelte, ist pragmatisch und konkret, indem er "die Form des Lebens und des Denkens einer Gruppe oder Epoche" bezeichnete und damit auch "Staat, Recht, Wirtschaft, Landnutzung." einbezog. (81) Geistige Kultur, materielle Kultur und die Lebensform seien untrennbar, Kultur existiere nur als Ganzes, so die Überzeugung Huizingas.

Im Mittelpunkt seines Konzeptes standen die historischen Formen. Die Kulturgeschichte habe sich mit Form, Struktur und Funktion von Erscheinungen zu beschäftigen. Formen seien zu verstehen als reale Gegebenheiten der Geschichte und zugleich als Ergebnisse der Konzeptionsleistung des Historikers. Geschichte ist nach Huizinga Sinndeutung und schließt damit die Formgebung ein. Bereits die Wahrnehmung einfachster historischer Ereignisse erfolge als Ergebnis einer Konzeptionsleistung des historischen Denkens.

Im Kapitel III befragt Strupp Huizingas Geschichtsschreibung nach der Umsetzung dieser theoretischen Reflexionen. Er liefert einen Überblick über die wichtigsten Werke, deren Rezeption und stellt jeweils die Frage nach ihrem historiographischen Wert. Zwar wurde in der Literatur zu Huizinga die fehlende Verbindung von Theorie und Praxis in dessen Werk schon verschiedentlich betont, doch gelingt es Strupp vielfältige Bezüge wie auch Brüche aufzuweisen, indem er die Entwicklung des kulturgeschichtliches Konzept skizziert. Während die frühe Arbeit über das Haarlemer Stadtrecht noch nicht als kulturgeschichtlich bezeichnet werden kann, bewertet Strupp die Geschichte der Universität Groningen als einen der "Höhepunkte in Huizingas Werk". (127) Ausführlich geht Strupp neben "Herbst des Mittelalters" auf die Werke zur amerikanischen Geschichte und religionsgeschichtliche Arbeiten sowie "Homo Ludens" ein. Gemeinsam ist ihnen die Betonung der Eigenständigkeit geistig-kultureller Phänomene. "Kultur" hat eine Schlüsselfunktion und dient als Ausgangspunkt der Interpretation komplexer historischer Prozesse. Grundlage ist die Idee, das Bild einer Gesellschaft auf der Basis ihrer eigenen kulturellen und wissenschaftlichen Zeugnisse zu rekonstruieren.

Die Betrachtung von Kultur als Ausgangspunkt zum Verständnis einer Gesellschaft bestimmte nicht nur Huizingas historisches Werk. Die Verschränkung seiner verschiedenen Tätigkeitsfelder zeigt sich in aktuellen wissenschaftlichen und allgemeinen kulturellen und politischen Debatten. Vor allem läßt sich Huizingas Sorge um die eigene kulturelle Identität erkennen. Diese leitete auch seine Tätigkeit als Wissenschafts- und Kulturpolitiker. An der Universität in Groningen und Leiden, als Mitglied der Akademie der Wissenschaften, der Maatschappij der Nederlands Letterkunde und als Redakteur und Autor der Kulturzeitschrift "De Gids" spielte er eine große Rolle und meldete sich engagiert zu Wort, wie Strupp in Kapitel IV schildert. Er bemühte sich um die Reform des Geschichtsstudiums, um Fortschritte bei der Institutionalisierung historischer Forschung, setzte sich für ein nationales historisches Museum und den Erhalt der niederländischen Stadtbilder ein. Gerade sein Engagement für ein Historisches Museum, das dadurch geprägt war, daß er die Trennung von Kunst und Geschichtswissenschaft kritisierte, verdeutlicht wiederum die Vorstellung Huizingas einer eher an Kunst orientierten Geschichtswissenschaft. Auch der Begriff der historische sensatie kam in seinen kulturpolitischen Tätigkeiten zum Tragen. Im Kontext dieser Ausführungen versäumt es Strupp nicht, auf aktuelle Debatten um Museumskonzepte zu verweisen.

Wie sich Huizingas Engagement in den 30er Jahren schließlich von der wissenschaftlichen auf eine kulturpolitische Ebene verlagerte, zeigt Strupp in Kapitel V. Angesichts der Sorge um die kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklungen der Gegenwart gewannen seine Schriften einen stark kulturkritischen Charakter. Sein Kulturbegriff, den er seinem öffentlichem Engagement zugrunde legte, hatte - anders als in den historischen Werken - deutlich ethisch-moralische Züge. Er äußerte sich in fortschrittskritischem Tenor zu Problemen der Naturbeherrschung und betonte demgegenüber die geistige Dimension der Kultur, die, so Huizingas Überzeugung, trotz der unbestrittenen technischen und sozialen Fortschritte das eigentliche Wesen der Kultur ausmachten. Seine Schriften der 30er und 40er Jahre sind so von der Suche nach einem Wiederaufstieg der Kultur, dem Ruf nach grundlegenden ästhetischen, intellektuellen und moralischen Reformen gekennzeichnet und werden von Strupp zu Recht nahe der Konservativen Revolution verortet. (262)

Worin liegt nach Strupp nun die Bedeutung Huizingas für die heutige Geschichtswissenschaft? International spielen dessen geschichtstheoretischen Überlegungen heute keine Rolle. In den Niederlanden ist dagegen eine Huizinga-Renaissance zu verzeichnen. In diesem Kontext wird, wie auch von Strupp in Kapitel VI, die Frage nach Parallelen von Huizingas Vorstellungen und postmodernen Positionen gestellt. Strupp verweist auf postmoderne Züge der "historischen sensatie" und der Reduktion der Geschichtsschreibung auf Formen und Metaphern. Zugleich betont er jedoch wesentliche Unterschiede wie die Inhaltsorientierung Huizingas oder die zentrale Bedeutung, die er der Geschichte bzw. der Geschichtswissenschaft beimaß. Vor allem markiert die von Huizinga gestellte Wahrheitsforderung eine wesentliche Differenz zu postmodernem Denken.

Strupp kommt zu der Überzeugung, daß Huizingas Kulturgeschichtskonzept heute nicht als Modell historischer Forschung dienen kann. Gleichwohl sieht er in der Beschäftigung damit einen "Ansatzpunkt für die Geschichtstheorie, um sich unter dem Dach der heterogenen Strömungen der Postmoderne an der wissenschaftstheoretischen Debatte mit einem spezifischen historischen Beitrag zu beteiligen." (293) Zudem relativiere der Blick auf Huizinga den "Neuerungswert vor allem der aktuellen anthropologischen Konzepte und macht deutlich, daß sich viele Grundfragen, die die Beschäftigung mit der Vergangenheit aufwirft, im Laufe der Zeit nicht wesentlich verändert haben." (301)

Strupps Entscheidung, Huizingas Theorie und Werk im Hauptteil der Arbeit darzustellen und einleitend und am Schluß in den Kontext aktueller Geschichtskontroversen zu stellen, zollt dessen Oeuvre den nötigen Respekt und vermittelt uns ein differenziertes Bild seiner Schriften, Gedanken, Vorstellungen und Tätigkeiten. Allerdings macht Strupp Huizinga damit selbst wiederum zur historischen Figur, zum "Klassiker", dessen Konzepte keinen wirklichen Aktualitätswert haben, statt dessen vielmehr zeigen, daß sich Geschichtstheorie immer wieder mit grundsätzlichen Fragen beschäftigt, sie immer wieder neu stellt. Dies läßt ein weiteres Potential der Dissertation aufschimmern, das lohnend wäre auszubauen: Der Vergleich alter und neuer Kulturgeschichte, der von Strupp angerissen und von anderen bereits verfolgt wird.2 Dieser müßte allerdings im größeren gesellschaftlich und kulturellen Kontext erfolgen. Nicht nur wäre zu konstatieren, daß wir alte Fragen neu stellen, nicht nur wäre nach den wissenschaftsinternen, konzeptionellen Unterschieden der Kategorien, Denkweisen und Ansätzen zu fragen, sondern vor allem wäre darüber nachzudenken, warum wir sie heute neu stellen, wie sie neu gestellt werden und wo die wesentlichen Verschiebungen liegen. Strupp hat hier eine verheißungsvolle Tür zu weiterer Forschung aufgestoßen, die aber stärker noch Wissenschaftsgeschichte mit außerwissenschaftlichen, vor allem gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen verbinden müßte.

Anmerkungen:
1 vgl. nur exemplarisch die Beiträge über "Wege zur Kulturgeschichte" in: Geschichte und Gesellschaft. 23. Jahrgang / Heft 1, Januar - März 1997.
2 z. B.: Jörn Rüsen: Jacob Burckhardt: Political Standpoint and Historical Insight on the Border of Post-Moderism. In: History & Theory, Jg. 24, 1985, S. 235-246.

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