W. Schmitz: Nachbarschaft und Dorfgemeinschaft

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Titel
Nachbarschaft und Dorfgemeinschaft im archaischen und klassischen Griechenland.


Autor(en)
Schmitz, Winfried
Reihe
Klio-Beihefte N.F. 7
Erschienen
Berlin 2004: Akademie Verlag
Anzahl Seiten
558 S.
Preis
€ 69,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Elke Hartmann, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Ziel der vorliegenden Studie ist es, das vielfach untersuchte Verhältnis zwischen dem Oikos als dem kleinsten sozialen Verband innerhalb der antiken griechischen Gesellschaft und der Polis als dem übergeordneten politischen Verband genauer zu beleuchten, dabei wird der Focus auf soziale Einrichtungen gerichtet, welche zwischen diesen beiden grundlegenden Einheiten stehen: auf Nachbarschaft und Dorfgemeinschaft. Dass die Nachbarschaft oder auch weitere ähnliche Gefüge in bäuerlichen Gesellschaften große Bedeutung haben und somit auch in der Antike gehabt haben dürften, leuchtet unmittelbar ein; um so erstaunlicher ist es, dass Aristoteles in seiner theoretischen Behandlung der Polis diese Themen weitgehend ausblendet und infolgedessen auch in der Altertumswissenschaft die sozialen Institutionen zwischen Oikos und Polis vernachlässigt worden sind, wie Schmitz eingangs betont (S. 10).

Das Buch gliedert sich in sieben große Kapitel, die jeweils differenzierte Binnengliederungen aufweisen. Es schließt mit Literaturverzeichnis sowie Quellen-, Namen- und Sachregister. Im ersten Kapitel werden das Thema und die gewählte Begrifflichkeit erläutert, weiterhin Fragestellung, Methode und Ziel formuliert. Die Darstellung des altertumswissenschaftlichen Forschungsstandes fällt recht knapp aus (S. 14f.), zur Profilierung der Methode geht Schmitz ausführlicher auf Beiträge der Soziologie, der historischen Familienforschung, der Forschung zu bäuerlichen Gemeinschaften in Mittelalter, Neuzeit und Moderne sowie ethnologische Arbeiten ein (S. 17-25). Als Ziel der Arbeit benennt der Autor "die Verzahnung [von Oikos und Polis] und deren Veränderung im Laufe der Zeit deutlicher zu machen".Dabei wird vorausgesetzt, dass die Dorfgemeinschaft historisch vor der Polis existierte und bereits "Mechanismen" (gemeint sind Prinzipien sozialer Ordnung, soziale Normen bzw. Rechtsnormen) vorgebildet hatte. In welcher Weise die Polis auf diesen Mechanismen aufbauen konnte bzw. diese ablehnte, soll die vorliegende Untersuchung zeigen (S. 10).

Das Kapitel II "Nachbarschaft und dörfliche Ordnung im 8. und 7. Jh. v. Chr." widmet sich zunächst der "Welt der Bauern" im Spiegel der Dichtung Hesiods und der frühgriechischen Lyrik, sodann der "Welt des Adels", wie sie sich aus den homerischen Epen rekonstruieren lässt. Schmitz stellt zunächst die bäuerliche Welt in ihrer sozialen Ordnung vor und entwickelt ein differenziertes Schichtenmodell, welches die adeligen Basileis als eine außerhalb der lokalen Gemeinschaft stehende Gruppe begreift; demgegenüber stehen mehrere deutlich voneinander abgegrenzte Schichten wie die Vollbauern und die Kleinbauern, welche vor allem als volle Arbeitskräfte auf den Feldern arbeiteten, weiterhin die unterbäuerliche Schicht (so genannte Häusler und Gesinde) sowie Handwerker und Bettler. Neben dieser sozialen Schichtung sei eine Gliederung der Gesellschaft in Alters- und Geschlechtsgruppen zu beobachten (S. 42). Im Folgenden werden dann die für die Dorfgemeinschaft geltenden Normen und die Sanktionsmechanismen rekonstruiert, die zu ihrer Durchsetzung angewandt wurden. Während für die bäuerliche Welt die Nachbarschaft eine fundamentale Bedeutung hatte, kann dies für die aristokratische Welt, wie sie die homerischen Epen beschreiben, nicht behauptet werden. Die Adligen bildeten vielmehr spezifische Formen der Bindung (konkretisiert insbesondere in der Gastfreundschaft und den Hetairien) aus, welche den standesgemäßen Bedürfnissen eher entsprachen.

Um Gesetzeskodifikation und ihre Bezugnahme auf die bäuerliche Lebenswelt geht es im Kapitel III, das sich schwerpunktmäßig dem Verhältnis von Brauch und Recht widmet und unter anderem exemplarisch gesetzliche Regelungen in Bezug auf den Tod und auf die Arbeit in ihrer historischen Bedeutung erläutert sowie ausführlich auf die "hausväterliche Gewalt" als dem entscheidenden ordnungsstiftenden Merkmal des Oikos eingeht. Das Kapitel IV beschäftigt sich mit bestimmten Sanktionsmechanismen, welche in dörflichen Gemeinschaften der Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung dienen, nämlich um so genannte "Rügebräuche und Schandstrafen".

Im V. Kapitel "Zwischen bäuerlicher und bürgerlicher Gesellschaft. Die Abkehr von der traditionalen Ordnung im 5. und 4. Jh." steht die Nachbarschaft in der klassischen Zeit im Zentrum. Schmitz vertritt hier die These eines grundlegenden Wandels der nachbarschaftlichen Strukturen: Die bäuerliche Nachbarschaft ging weitgehend in den Demen auf, was dazu führte, dass die "soziale Exklusivität der Nachbarschaft, die ursprünglich auf dem Bauerntum beruhte, aufgebrochen wurde und die Versammlung der Demoten, denen alle soziale Schichten angehörten, an ihre Stelle trat" (S. 464). Die Demen aber waren politische Einheiten, deren Zugehörigkeitsstruktur, administrative und juristische Kompetenzen einheitlich geregelt wurden. An die Stelle der gewachsenen, auf persönliche Bindungen basierenden Verbände traten somit neutralere Institutionen. Die Herausbildung dieser stabilen politischen Strukturen wird als eine Komponente angeführt, welche zur Abkehr von der traditionalen Ordnung führte; eine andere ist die "Entstehung einer städtischen Lebensform": die Städter entfernten sich demnach sowohl durch ihre Mentalität und ihren Lebensstil als auch durch ein neues und anderes Verständnis der göttlichen und menschlichen Ordnung von den bäuerlichen Traditionen.

Das Kapitel VI "Die Kontrolle der sozialen Kontrolle" fasst die gewonnenen Ergebnisse zusammen. Dabei werden zunächst die Bedingungen angesprochen, unter denen sich "reinste Nachbarschaft" im archaischen Griechenland ausbildete: die prekäre Versorgungslage, die soziale Homogenität der freien Bauernschaft, weitgehende Abgeschlossenheit und Dichte der Siedlungen. Weiterhin wird die im Kapitel V ausführlich behandelte Loslösung von der bäuerlichen Ordnung im Athen der klassischen Zeit noch einmal erläutert, welche sich insbesondere im veränderten Umgang mit älteren sozialen und rechtlichen Normen bzw. Sanktionsmechanismen zeige. Schließlich erörtert Schmitz die Relevanz des Themas für die griechische Sozial- und Rechtsgeschichte: Es lasse sich eine differenzierte Vorstellung der sozialen Verbände von Adel und Bauernschaft in der archaischen Zeit gewinnen; die Bauernschaft könne als Träger des neuen Gemeinschaftsbewusstseins in der Phase der Entwicklung der Demokratie ausgemacht werden (S. 489), und schließlich sei erst vor dem Hintergrund der bäuerlichen Lebenswelt die archaische Gesetzgebung in ihren Intentionen zu verstehen.

Die Quellenlage für alle diese Themenfelder sorgfältig aufbereitet und zahlreiche wichtige neue Erkenntnisse geliefert zu haben, ist zweifellos das Verdienst dieser umfangreichen Arbeit. Besonders hervorgehoben sei die Thematik der Rügebräuche und Schandstrafen, welche hier erstmalig zusammenhängend und im historischen Kontext behandelt wird. Ob Schmitz' zentraler These einer Abkehr der athenischen Gesellschaft von der "bäuerlichen Ordnung" in der klassischen Zeit zuzustimmen ist oder diese Wahrnehmung nicht eher der Perspektive der für das 5. und vor allem 4. Jahrhundert v.Chr. zur Verfügung stehenden Quellen entspricht, müsste diskutiert werden. Dass sich der Verfasser von zahlreichen Studien anderer Disziplinen zu bäuerlichen Existenzformen hat inspirieren lassen, erweist sich gerade dort als äußerst sinnvoll, wo es darum geht, ein Gespür für die in der bäuerlichen Lebenswelt akuten Probleme (so etwa die Bedeutung von Ernteausfällen) in ihrer enormen Tragweite zu entwickeln. Bei der Erörterung der Rolle des "Hausvaters" im ländlichen Oikos wird ein sehr statisches Bild von der alleinigen Autorität dieses "Hausvaters" entworfen, das meines Erachtens bereits durch die Ausführungen des Verfassers selbst (etwa zu der komplikationsanfälligen "Übergabe" des Oikos an den Sohn zu Lebzeiten des Vaters, S. 205ff.) in Frage gestellt wird. Die Kenntnisnahme von Beiträgen aus der Perspektive der Geschlechterforschung hätte zu differenzierten Einsichten in die Autoritäts- und Machtverhältnisse des Oikos führen können.1

Anmerkung:
1 Für die Thematik der häuslichen Autoritätsverhältnisse insbesondere und der Geschlechterverhältnisses im antiken Griechenland allgemein sind u.a. folgende Beiträge beachtenswert: Dubisch, J. (Hg.), Gender and Power in Rural Greece, Princeton 1986; Hunter, V., Policing Athens. Social Control in the Attic lawsuits 420-350 BC, Princeton 1994; Schnurr-Redford, C., Frauen im klassischen Athen. Sozialer Raum und reale Bewegungsfreiheit, Berlin 1996; Sourvinou-Inwood, C., Männlich - Weiblich, öffentlich - privat, antik - modern, in: Reeder, E. D. (Hg.), Pandora. Frauen im klassischen Griechenland. Ausstellungskatalog Antikensammlung Basel und Sammlung Ludwig, Basel 1996, S. 111-120; Späth, Th.; Wagner-Hasel, B. (Hgg.), Frauenwelten in der Antike. Geschlechterordnung und weibliche Lebenspraxis, Stuttgart 2000.

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