C. Schmitz-Berning: Vokabular des Nationalsozialismus

Titel
Vokabular des Nationalsozialismus.


Autor(en)
Schmitz-Berning, Cornelia
Erschienen
Berlin/ New York 1998: de Gruyter
Anzahl Seiten
710 S.
Preis
€ 64,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Prof. Dr. Frank-Rutger Hausmann, Romanisches Seminar der Albert-Ludwigs-Universität

Die menschliche Sprache ist nicht statisch, und sie kann dies auch nicht sein, da sie einer sich ständig wandelnden Lebenswirklichkeit Rechnung tragen muß. Ihre Veränderung zeigt sich am deutlichsten im Bereich der Neologismen, der Wörter, die entweder durch Ableitung, Komposition oder Umdeutung 'erfunden' bzw. aus fremden Sprachen entlehnt werden, um auf politische, technische, militärische, wirtschaftliche, kulturelle usf. Veränderungen reagieren zu können. Aber das ist nur der sicht- oder hörbarste, letztlich aber auch oberflächlichste Bereich eines laufenden Sprachwandels. Subtiler sind die psychologischen Unterströmungen, die Sprachen in ihrer Substanz verändern und die auf Nachlässigkeit, Sprachökonomie, Normabschleifung, Analogie, Manipulation, gesetzliche Regelungen usf. zurückgeführt werden können.

Victor Klemperer ist der erste, der sich systematisch mit der Sprache des Dritten Reiches beschäftigt hat 1. Er erfand für sie, sozusagen als Spott auf die Vorliebe der Nazis für Abkürzungen und ihre Ablehnung klassischer Bildung, den lateinischen Begriff LTI (Lingua tertii imperii). Bereits kurz nach 1933 begann er, einschlägiges Material zu sammeln und kapitelweise zu ordnen. Dabei ging es ihm eher um eine Charakterisierung des sprachlichen Zustandes, wie ihn die Nazis, aber auch der Volksmund, vielfach als Reaktion auf Zwang von oben, geprägt hatten, als um eine vollständige Erfassung der NS-Sprache. So findet man in 'LTI' Aperçus über Abkürzungen, Eigennamen, Modewörter, Witze, Zeitungssprache, futurischen und präsentischen Tempusgebrauch, Krieg und Sprache und v.a. mehr. Klemperer geht es immer zugleich auch darum, den Un-Geist des Nationalsozialismus bloßzulegen und seine zynische Verlogenheit an Hand der Sprache zu denunzieren. Er wählt signifikante Beispiele aus, aber insgesamt entsteht doch ein deutlich konturiertes Bild des Nazi-Idioms mit seinen unterschiedlichen Verästelungen.

In drei Jahrgängen der Zeitschrift 'Die Wandlung' (1945-48) unternahmen Dolf Sternberger, Gerhard Storz und W.E. Süskind unmittelbar nach Kriegsende etwas Ähnliches. Ihnen ging es um den Wortschatz der Nazis, ihren gewalttätigen Satzbau, ihre verkümmerte Grammatik, ihren monströsen und zugleich krüppelhaften Wortbestand. Sie trugen zahlreiche Beispiele dafür zusammen, "wie der Unmensch auch aus einem harmlosen, geselligen, ja man möchte sagen freiheitlichen Wort das schiere Gegenteil hervorzieht" 2. Auch ihr Bändchen wurde zu einem 'Klassiker' der Sprachkritik und immer wieder aufgelegt. Doch wenn die Verfasser gehofft hatten, das endlich (wieder) demokratisch gewordene Deutschland werde sich nun um einen pfleglicheren Umgang mit seiner Sprache bemühen, als dies in der NS-Zeit der Fall war, so sahen sie sich enttäuscht. "Das Wörterbuch des Unmenschen ist das Wörterbuch der geltenden deutschen Sprache gebieben, der Schrift- wie der Umgangssprache, namentlich wie sie im Munde der Organisatoren, der Werber und Verkäufer, der Funktionäre von Verbänden und Kollektiven aller Art ertönt" (ebd., S. 10). Eckhard Henscheid trug dem Rechnung mit seiner 'Dummdeutsch' betitelten Sprachkritik, die "diese genetisch manchmal kaum sortierbare und sehr gallertartige Aufschüttung aus Neo- und Zeitlosquatsch, aus verbalem Imponiergewurstel bei gleichzeitiger Verschleierungs- und Verhöhungsabsicht" inkriminiert 3, die sich heute vielfach und vielerorts breitgemacht hat.

Die Verfasserin des hier anzuzeigenden Nachschlagewerks stützt sich zwar auf Klemperer und Sternberger, will jedoch etwas anderes. Sie hat weniger ein sprachkritisches, als ein sachorientierendes Ziel: "Dieses Nachschlagebuch zum Vokabular des Nationalsozialismus will Germanisten, Historikern, Politologen, Journalisten und sonstig sprachhistorisch Interessierten einen Einblick in die Geschichte und die speziellen Verwendungsweisen von Ausdrücken, Organisationsnamen und festen Wendungen geben, die sich dem offiziellen Sprachgebrauch im NS-Staat zuordnen lassen" (S. VI).

Als erste hauptsächliche Quellenbasis dienen ihr die 'Meldungen aus dem Reich' (MADR) in der Edition von H. Boberach (1984), weiterhin 'Bayern in der NS-Zeit' (Hg. M. Broszat), 'Volksopposition im Polizeistaat' (Hg. B. Vollmer), 'Anweisungen der Pressekonferenz der Reichsregierung des Dritten Reichs' (sog. Presseanweisungen), 'Der Nürnberger Prozeß' (Sitzungsprotokolle des Verfahrens gegen die Hauptkriegsverbrecher) und 'Blick in die Zeit' (eine erst nach 1933 von Sozialdemokraten gegründete und finanzierte Wochenschrift, ein Pressespiegel mit dem Untertitel 'Pressestimmen des In- und Auslandes zu Politik, Wirtschaft und Kultur'). Durch Auswertung und Vergleich dieser höchst unterschiedlichen Textsorten wurden diejenigen Begriffe ermittelt, die so häufig und wichtig waren, daß sie im vorliegenden Repertorium lemmatisiert werden sollten.

Jeder Artikel hat ein festes Aufbauschema: Zu Beginn erfolgt paraphrasierend die Angabe der Bedeutung, die ein Begriff im Sprachgebrauch der Nationalsozialisten hatte. Dann schließt sich, soweit möglich, die Geschichte des Wortgebrauchs vor der NS-Zeit an. Der Hauptteil dokumentiert die Verwendungsweisen des Ausdrucks in den unterschiedlichen Phasen des Dritten Reichs, wobei die Verfasserin Pamphlete, Zeitungen, Zeitschriften, Lexika, Enzyklopädien, Tagebücher und persönliche Aufzeichnungen von Zeitzeugen konsultiert hat, insgesamt eine staunenswerte Fülle einschlägiger Texte.

Auf diese methodisch überzeugende Weise ist ein Repertorium entstanden, das höchsten Ansprüchen genügt und bei zentralen Begriffen selten seine Hilfe versagt. Für jeden, der sich mit der NS-Zeit befaßt, ist es hinfort ein unabdingbares Nachschlagewerk.

Das hier gewählte Verfahren garantiert zwar die Qualität der Gesamtanlage sowie der einzelnen Einträge, aber es schließt Vollständigkeit aus und muß dies bei der Ausführlichkeit der einzelnen Einträge auch tun. Diese bilden vielfach kleine Essays, die man durchaus selbständig lesen kann. Frau Schmitz-Berning legt ihren Schwerpunkt in den Bereich des 'offiziellen' Nationalsozialismus, seiner Zentralbegriffe und seiner Institutionen. Sprechende Termini wie Arbeit (13), Blut (18), deutsch (16), Erbe (14), Jude (8), Leistung (9), national (9), Rasse (36), Reich (14), Sippe (9), um nur diejenigen zu nennen, die starke Wortfelder bilden 4, sind erschöpfend dokumentiert. Dabei ist zwischen Begriffen zu unterscheiden, die die Nazis vorfanden, solchen, die sie umdeuteten und zu guter Letzt solchen, die sie erfanden. Sie waren übrigens auch bezüglich der Sprache viel weniger originell, als man meinen könnte, waren jedoch Meister im Verfälschen und Abwandeln des vorgefundenen Sprachmaterials. Damit ist zwar auch einiges über den Geist ihrer Redeweise ausgesagt, die sich jedoch erst wirklich in der Lektüre von Texten aus der Zeit erschließt, z.B. Zeitungstexten.

Ich zitiere einen beliebigen Text zur Exemplifikation dessen, was ich meine: ?So konnte das deutsche Volk, dank der von der Bewegung geleisteten Schulungs- und Erziehungsaufgabe, seinen Gegnern einen seelischen Machtfaktor entgegensetzen, der es unüberwindlich machen musste. Die härteste Bewährungsprobe, der nunmehr die Nation unterworfen war, wurde bestanden, weil in zwei Jahrzehnten die Voraussetzungen hierfür geschaffen worden waren. Das deutsche Volk von heute ist von dem sittlichen Ernst und der tiefen Verantwortung, die diese Zeit erheischt, durchdrungen, es weiss, dass an seiner Spitze ein Mann steht, der nichts von ihm verlangt, was er nicht selbst tausendfach geleistet hat" 5. Der Journalist verwendet in seinem Beitrag ethische Begriffe (Erziehungsaufgabe, seelischer Machtfaktor, sittlicher Ernst, tiefe Verantwortung), die allerdings durch die Untaten des NS-Regimes ein für alle Mal ihre Unschuld eingebüßt haben, die wir aber dennoch heute wieder verwenden und in ihre alte Bedeutung eingesetzt haben. Hier ließe sich lange spekulieren, ob Sprache neutral und unschuldig ist und sich ihr eigentlicher Sinn nur aus dem jeweiligen Kontext erschließt, oder ob sie revelatorisch für den Charakter eines Volkes und damit verantwortlich für sein politisches Verhalten ist.

Der oben zitierte Text lehrt, daß die damalige Alltagswirklichkeit sprachlich komplexer war, als das vorliegende Nachschlagewerk glauben macht, das den Wortschatz auf statistisch häufige Zentralbegriffe reduziert und die Sprache dadurch statisch einengt. Die Verfasserin hat dem im übrigen Rechnung getragen, daß sie vom 'Vokabular' des NS spricht, was einen restringierten Bereich andeutet. Es lassen sich daher beliebig viele Wortketten aus unterschiedlichen Sektoren bilden, die hier nicht erfaßt sind, z.B. Reichstagsbrand, Nacht der langen Messer, Bücherverbrennung; Stuka, Pak, Flak; Ersatzkaffee, Spinnstoff, Reichskleiderkarte; Wunschkonzert, Soldatensender, Erlebnisurlaub; Alpenfestung, Führerbunker, Geleitzug; Christbaum, Entwarnung, Terrorangriff; Bolschewik, Gaskammer, Kommissarbefehl; Dozentenakademie, Reichsforschungsrat, Wissenschaftslager. Abkürzungen, zumal militärische, aber auch Begriffe, die die Lebensmittelversorgung und die Mangelwirtschaft, die Unterhaltung, den Bombenkrieg und den Bildungssektor berühren, um nur einige signifikante Bereiche zu benennen, kommen zu kurz. Dies darf man nicht der Verfasserin anlasten, die keine vollständige Darstellung der deutschen Sprache im Dritten Reich bieten konnte und wollte, aber mir scheint hier noch erheblicher forscherischer Nachholbedarf zu bestehen. Dies soll abschließend mit einem weiteren Passus aus dem bereits zitierten Artikel der Pariser Zeitung unterstrichen werden: "Nahezu jeder Tag stellt die Partei vor neue Probleme, die schnellste Lösung verlangen. Als im Verlauf des Krieges eine Verstärkung des Fraueneinsatzes erforderlich wurde, trat die Notwendigkeit der Errichtung vieler tausend zusätzlicher Schwesternstationen und Kindergärten der verschiedensten Art zu Tage. Die Partei löste diese Aufgabe ebenso rasch und erfolgreich, wie sie die Kinderlandverschickung ausbaute und die Zahl der Müttererholungsheime vermehrte. Ob es weiter die kulturelle Arbeit ist, bei der vor allem der Einsatz von 'Kraft durch Freude' erwähnt werden muss, die Brachlandaktion, der Bahnhofsdienst, die Betreuung von Rückgeführten und Flüchtlingen zu Kriegsbeginn, die Errichtung neuer HJ-Heime, die Sozialarbeit in den Betrieben, die Altmaterialerfassung, das Entladen von Kohlenzügen, um nur stichtwortartig einiges herauszugreifen, alle diese Aufgaben umfassen nahezu sämtliche Gebiete unseres Lebens".

Ein heutiger Leser versteht, was der Verfasser will, aber er versteht es auch wieder nicht. Wer von den Jüngeren weiß noch, was Kinderlandverschickung, Brachlandaktion oder Bahnhofsdienst ist? Im Abstand von sechzig Jahren wirkt dieser wie viele andere Texte aus der NS-Zeit wie aus einer fremden Welt, die uns nicht nur chronologisch ferngerückt ist.

Diese Bemerkungen sollen keinesfalls als Kritik verstanden werden, denn man muß Frau Schmitz-Berning ein großes Kompliment für ihr vorzüglich dokumentiertes, außerordentlich sorgfältig redigiertes und benutzerfreundliches Nachschlagewerk machen, das bereits jetzt als unentbehrliches Standardwerk bezeichnet werden darf.

Anmerkungen:
1 Von mir wurde benutzt Victor Klemperer: LTI. Lingua Tertii Imperii. Die Sprache des Dritten Reiches, Leipzig: Reclam Verlag 1991 (Reclam-Bibliothek 278).
2 Von mir wurde benutzt Sternberger / Storz / Süskind: Aus dem Wörterbuch des Unmenschen, Hamburg 1957 u.ö., hier zu 'Lager', S. 70.
3 Eckhard Henscheid: Dummdeutsch. Ein Wörterbuch. Unter Mitwirkung von Carl Lierow und Elsemarie Maletzke, Stuttgart 1993 u.ö. (RUB 8865), S. 8. Er verweist noch auf Th. W. Adornos 'Jargon der Eigentlichkeit' und Karl Korns 'Sprache in der verwalteten Welt', die in diesem Zusammenhang interessieren könnten.
4 Die Zahlen in runden Klammern geben die Ableitungen an, die von einem Begriff vorkommen.
5 Helmut Lucas: "Die Bewegung im Kriege. Die Bewährungsprobe restlos bestanden - Querschnitt durch die Aufgabengebiete", in: Pariser Zeitung Nr. 29, 30. Januar 1942, S. 3.

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