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Titel
A Passion for Privacy. Untersuchungen zur Genese der bürgerlichen Privatsphäre in London (1660-1800)


Autor(en)
Heyl, Christoph
Reihe
Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London 56
Erschienen
München 2004: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
574 S.
Preis
64,80 Euro
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stephanie Bietz, Zentrum für Höhere Studien, Universität Leipzig

Mit seiner Dissertation zur Genese der bürgerlichen Privatsphäre im London des späten 17. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts legt der Anglist und Historiker Christoph Heyl eine umfangreiche Arbeit zur Erforschung von Bürgerlichkeit vor. Das Erkenntnisinteresse der neueren Bürgertumsforschung richtet sich nicht mehr nur auf einzelne bürgerliche Gruppen, in den Blick kommen nun auch die verschiedenen Ausprägungen von Bürgerlichkeit. Die in der Hausreihe des Deutschen Historischen Instituts London publizierte Dissertation Heyls ist dieser kulturhistorischen Bürgertumsforschung zuzuordnen und an den Schnittstellen von Kulturgeschichte, Mentalitäts- und Alltagsgeschichte sowie Geschlechtergeschichte anzusiedeln.

Im Mittelpunkt der Untersuchung steht das Konzept bzw. die Vorstellung der zu schützenden Privatsphäre, das, wie Heyl einleitend feststellt, im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts im bürgerlichen Milieu Londons seinen Ausgang nahm, sich zum Massenphänomen entwickelte und sich schließlich in England verbreitete. Innerhalb des privaten bürgerlichen Raumes, der grundlegender Teil des alltäglichen Lebens wurde, entstanden Bereiche, die Personen zugeordnet waren und in denen sich neue Modi des Zusammenlebens herausbildeten.

Die „Etablierung der Privatsphäre“ führte zu einem Umbruch im Alltagsleben, in materiellen Strukturen, in den Mentalitäten und in der Kultur. Wohnhäuser baute und nutzte man auf neue Weise. Und es wandelten sich nicht nur die zwischenmenschlichen Beziehungen und Verhaltensmuster, sondern auch die Normen, die legitime Handlungsmöglichkeiten für bürgerliche Frauen und Männer definierten. Die verborgene intime Privatsphäre fand bald Eingang in die Literatur und Kunst. Neu entstandene Texttypen und bildliche Darstellungen thematisierten den privaten Bereich auf unterschiedliche Weise (S. 1). Heyls Ziel ist es, die „Erscheinungsformen, Dimensionen und Folgen dieses Umbruchs erkennbar werden zu lassen und einer Interpretation zugänglich zu machen“ (S. 12) und den Versuch einzugehen, „historische Mentalitäten in ihrem Bezug auf das Private zu erschließen“ sowie signifikante Aspekte des Privaten zu rekonstruieren und zu deuten (S. 22/23).

Als wesentlich für seine Untersuchung erscheint Heyl die Klärung des Begriffs private. Dem Bedeutungsspektrum des Begriffs geht er zunächst in dessen zeitgenössischem Verständnis nach. Ab dem 17. Jahrhundert etablierte sich, neben der Abgrenzung zu dem, was man als public bezeichnete und dem Staat bzw. dem Gemeinwesen zuordnete, vor allem die Bedeutung des „vor dem Blick, Zugriff der anderen geschützt; verborgen“ (S. 13). Heyl setzt sich anschließend eingehend mit dem Verständnis von „privat“ in drei der „nach wie vor einflussreichsten Arbeiten“ zu den Phänomenen Öffentlichkeit und Privatsphäre auseinander, nämlich Strukturwandel der Öffentlichkeit (Jürgen Habermas, 1962), The Fall of Public Man (Richard Sennett, 1976) und die fünfbändige Geschichte des privaten Lebens (herausgegeben von Philippe Ariés/Georges Duby, 1985-1987). Die in den Metaphern privater Raum und Privatsphäre erscheinende räumliche Dimension des Privaten in Abgrenzung und zugleich in funktionalem Bezug zum öffentlichen Raum (Habermas; Sennett) sowie der mit der Etablierung beider Sphären einhergehende Wandel in Nutzung und Ausdeutung der Bereiche werden auch von Heyl betont. Die konkurrierenden Aussagen von Habermas, Sennett und Ariés/Duby zu der Frage, wann die Hinwendung zum Privaten im Bürgertum einsetze, stellt Heyl gegeneinander. Ist der Zeitpunkt am Übergang des 17. ins 18. Jahrhunderts festzusetzen (Habermas; Ariés/Duby)? Oder zieht sich das Bürgertum erst im 19. Jahrhundert zurück, wie Sennett vermutet? Zu den zahlreichen Fragestellungen Heyls gehört auch die nach den unterschiedlichen Begründungen zur Flucht in die Privatsphäre. Ist es der als Bedrohung wahrgenommene Staat (Ariés/Duby) oder sind es die Auswirkungen des industriellen Kapitalismus (Sennett), die das Bürgertum zum Rückzug bewegen (S. 21)? Oder handelt es sich bei dieser Verhaltensweise gar nicht um eine Fluchtreaktion?

Um das Private am Ende des 17. Jahrhunderts zu erfassen, geht Heyl davon aus, dass sich aus materiellen Strukturen wiederkehrende Verhaltensmuster rekonstruieren und sich aus diesen wiederum Wahrnehmungs- und Denkmuster im Hinblick auf die Privatsphäre erschließen lassen. Dabei greift Heyl auf ethnografische Ansätze wie z.B. die Nutzung von mental maps als Visualisierung von Raumvorstellungen und -bewertungen sowie auf den semiotischen Kulturbegriff von Clifford Geertz zurück. Die anvisierte phänomenologische Rekonstruktion des Privaten erfolgt anhand unterschiedlichster Textsorten und Bilder, die in der Arbeit miteinander vernetzt werden. Neben Tagebüchern, Briefwechseln, Anleitungsbüchern, Reiseberichten und Romanen erschließt Heyl auch in der Forschung weniger präsente Quellen wie Sprachführer und magazines. Zur Rekonstruktion der materiellen Strukturen werden unter anderem die architektonische Beschaffenheit noch erhaltener Londoner Wohnhäuser des Untersuchungszeitraumes betrachtet und Handbücher für Architekten herangezogen. Anhand von Stadtplänen skizziert Heyl die Makrostrukturen Londons vor und nach dem Great Fire von 1666.

Diesen Großbrand erkennt Heyl als Zufallsereignis, das wie die Sonderbedingungen, die im ersten Kapitel erläutert werden, zur „Etablierung der Privatsphäre“ beitrug. Als Sonderbedingungen stellt Heyl die soziodemografischen Merkmale Londons, den spezifisch englischen Mechanismus der social emulation, als legitim anerkannte Nachahmung der jeweils nächst höheren Statusgruppe sowie die Etablierung der bürgerlichen Mittelschichten als kulturelle Formation heraus. Als ebenso förderlich wirkte sich die allmählich verbreitete Lese- und Schreibfähigkeit, die Säkularisierung des ursprünglich religiösen Rückzugverhaltens und die durch günstige politische Rahmenbedingungen gewährte relative Autonomie des Einzelnen aus, so dass London als Vorreiter des Umbruchs angesehen werden kann.

Im zweiten Kapitel werden die Makrostrukturen Londons sowie die häuslichen Mikrostrukturen vor und nach dem Great Fire beschrieben. Die vormodernen Strukturen Londons (wie die relative Bebauungs- und Bevölkerungsdichte) ließen die Straße zu einem Ort der Sozialkontakte und räumlichen Nähe werden. Das von Heyl skizzierte Straßenbild nach dem Great Fire war dagegen vor allem von einer stärkeren Trennung von Wohn- und Geschäftsgegenden, den squares, als begrünte und meist nur für Anlieger zugängliche Plätze, von Kutschen und Sänften, die eine mobile Privatsphäre materialisieren sowie von der Hast der Passanten geprägt. Die häuslichen Mikrostrukturen nach 1666 erfasst Heyl mit der äußeren Erscheinung des Hauses (Fassade, Peripherie und Eingang), der Raumaufteilung sowie den Raumtypen und deren Nutzung. So lässt sich unter anderem feststellen, dass die im vormodernen London typische Mischnutzung von Räumen durch alle Hausinsassen und die Offenheit des Hauses nach außen nicht mehr gegeben waren, stattdessen markierten beispielsweise Zaun, Graben und Brücke die Abgrenzung nach außen. Im Haus vollzog sich durch die Separierung von Räumen, die den Besuchern, der Familie und dem Hauspersonal zugeschrieben wurden, eine soziale Entflechtung. Das von Heyl beschriebene Interieur der Räume, wie z. B. der conversation chair in Bibliotheken, verweist außerdem auf eine geschlechtsspezifisch – hier männliche – zugeschriebene Nutzung von Räumen. Die Einrichtung von kleinen, einer Person vorbehaltenen Räumen – closets – erweiterte die Rückzugsmöglichkeiten Einzelner.

Die Rekonstruktion des häuslichen Zusammenlebens mit der Dienerschaft sowie der Umgang mit ihr und mit den Besuchern erfolgt im dritten Kapitel aus der Perspektive der Familie. Dabei bezieht Heyl die Kategorie Geschlecht in seine Betrachtung mit ein und untersucht ferner die sprachlichen Bilder der Außenwelt und beschreibt daraus folgend die Vorstellungen von dieser Sphäre. Heyl konstatiert, dass sowohl die räumliche und verinnerlichte soziale Distanz zwischen den Statusgruppen eines Hauses und die „Entwicklung einer bürgerlichen Besuchsetikette“ wie auch das Fernhalten von Besuchern, den Schutz der Privatsphäre zum Ziel hatte. Die bürgerliche Familie schützte sich vor der Londoner Außenwelt, die mit Gefahren und Lasterhaftigkeit assoziiert wurde.

Die Zuordnung der Geschlechter zu privaten und öffentlichen Räumen (separate spheres) sieht Heyl dabei untrennbar mit dem Aufkommen der Privatsphäre verbunden. So setzt Heyl die Etablierung des bürgerlichen Frauenbildes im frühen 18. Jahrhundert an. Die Frau wurde konstitutiv für das Verständnis eines moralisch integren privaten Hauses.

Im vierten Kapitel geht Heyl den von ihm rekonstruierten neuen Kommunikationsmöglichkeiten nach, die auch die enge Verschränkung zwischen privatem und öffentlichem Raum verdeutlichen. Am Beispiel des Tragens von Masken in abgegrenzten öffentlichen Räumen wie Parkanlagen und Theatern und der Publikation von anonymen und pseudonymen Texten in periodicals und magazines zeigt Heyl auf, dass der gesuchte kommunikative Austausch möglich war, ohne die schützende Privatsphäre zu verlassen. Dabei unterlief die so gewahrte Anonymität und das Spielen mit künstlich erzeugter Anonymität das durch Normen geprägte Rollenverständnis der Geschlechter. Insbesondere Frauen nutzten diese neuen Handlungsmöglichkeiten, um unter Pseudonymen an Diskussionsrunden in periodicals teilzunehmen.

Die Entstehung neuer Selbstdarstellungen in conversation pieces und Porträtminiaturen sowie der imaginierte Einblick in die fremde Privatsphäre (dargestellt in den narrativen Bilderserien William Hogarths und in englischen Romanen wie z.B. Daniel Defoes Robinson Crusoe) sind Gegenstand des fünften Kapitels. Heyl beantwortet die Frage, wie und warum das Private thematisiert wurde. Die Identität des männlichen Großstädters prägten verschiedene Rollen. Informelle Gruppenporträts wie auch Porträtminiaturen, die den privaten Blick voraussetzten, halfen dabei, Vorstellungen von der eigenen Privatsphäre und Identität darzustellen bzw. zu entwickeln. Dem privaten Raum schrieb man eine zentrale und sinnstiftende Bedeutung für die eigene Identität zu. Er erschien zudem als Gegenwelt zur Großstadt (S. 442ff.). Die Teilidentitäten, der damit verbundene Rollenwechsel und die Beziehungen des – hier männlichen – Großstädters zu anderen werden in den narrativen Bilderserien William Hogarths dargestellt.

Der Betrachter erblickt und durchschaut das eigentlich zu Verbergende, private Räume und intime Handlungen liegen offen. Der imaginierte Einblick in die abgeschirmte Privatsphäre gelang auch den Romanlesern, die so unsittliches, durch die Tabuzonen unsichtbar gewordenes Verhalten erblickten und so eine verdeckte Identität zu Gesicht bekamen.

Die Arbeit Heyls ist belesen und lebt von der detailreichen Darstellung und eingehenden Analyse der erschlossenen Quellen, die einer umfangreichen 50-seitigen Quellenkritik unterzogen werden. Transparent und leicht nachvollziehbar ist das methodische Vorgehen. Bisweilen erscheinen die über eine halbe Seite hinweg aneinander gereihten Fragestellungen etwas gedrängt (S. 21, 26f., 110) und neue Formulierungen festigen mitunter bereits vermerkte Aussagen. Mit seiner Arbeit setzt Heyl die Narration von der aufeinander bezogenen öffentlichen und privaten Sphäre (Habermas; Sennett) fort, bereichert und kritisiert diese zugleich durch seine Darstellung der am Ende des 17. Jahrhunderts aufgekommenen neuartigen Kommunikationsnetze und -zusammenhänge im Bürgertum. Heyls Aufdeckung bürgerlicher Verhaltensmuster und Mentalitäten, durch die der Rückzug in die Privatsphäre nicht primär als Fluchtreaktion erklärt werden kann, sondern auch als bewusst gesuchte Intimität und Anonymität, lässt gewisse Zweifel an der Eindeutigkeit bisher bekannter Studien aufkommen, die sich auf Sennett und Ariès/Duby stützen.

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