M. G. Müller u.a. (Hgg.): Die Nationalisierung von Grenzen

Cover
Titel
Die Nationalisierung von Grenzen. Zur Konstruktion nationaler Identität in sprachlich gemischten Grenzregionen


Herausgeber
Müller, Michael G.; Petri, Rolf
Reihe
Tagungen zur Ostmitteleuropa-Forschung 16
Erschienen
Marburg 2002: Herder Verlag
Anzahl Seiten
232 S.
Preis
€ 29,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Tobias Brinkmann, Simon-Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur Leipzig

Es ist eine Binsenweisheit, dass deutsche Geschichte ebenso wie polnische oder französische Geschichte immer auch europäische Geschichte ist. Noch sind es jedoch relativ wenige Untersuchungen, die außerhalb der vergleichenden Sozial- und Kulturgeschichte Ergebnisse präsentieren, die beispielsweise gleichzeitig für die Felder der französischen und polnischen Geschichte relevant sind – vor allem im Bereich der neueren Geschichte – und so (nach wie vor dominante) nationalgeschichtliche Paradigmen und die ihnen innewohnenden Begrenzungen überwinden.

Moderne Nationalstaaten "de-finieren" sich im wortwörtlichen Sinne von der Grenze her. Die Perspektive auf die Grenze selbst, ihre Entstehung und Entwicklung hilft, die Nationalgeschichte bzw. ihre "Erfindung" zu hinterfragen, sie bietet damit einen Zugang zu Fragestellungen, die über ein territorial-staatlich verankertes oder auch ethnisches Verständnis von Nation hinausreichen. In den Grenzregionen befinden sich Gruppen, die von den jeweiligen Nationalgeschichten buchstäblich in eine Grauzone "dazwischen" verwiesen wurden und deren "Ort" außerhalb oder am Rand liegt. Auch die Geschichte von Städten, über die sich territoriale Grenzen teilweise mehrfach hinwegbewegt haben wie Breslau/Wroclaw, Lemberg/Lvov/L’viv, Strasbourg/Straßburg ist aus einer nationalgeschichtlichen Sicht sensibel. Eine von den Determinanten der Nationalgeschichte unabhängige Perspektive dagegen macht neue Facetten sichtbar und bezieht auch das Gemeinsame und Verbindende anstatt nur das Trennende mit ein — wie es etwa die Studie von Norman Davies und Roger Moorhouse über die schlesische Metropole, "Microcosm, Portrait of a Central European City“ (London 2002) illustrieren sollte. Dass Davies’ Studie, die gleichzeitig in einer deutschen und polnischen Übersetzung erschien, zahlreiche gravierende Mängel enthält, ist bedauerlich. 1

Der vorliegende Band dagegen demonstriert geradezu idealtypisch das Potenzial der Perspektive auf die Peripherie bzw. auf die Prozesse ihre Konstruktion. Der Band versammelt Beiträge zu verschiedenen mitteleuropäischen Grenzregionen zwischen dem ausgehenden 18. und dem 20. Jahrhundert: Posen, Westpreußen, Galizien, Elsaß-Lothringen, Südtirol, Schleswig und Slowenien. Diese Thematik berührt zwei Forschungsfelder, die, obgleich nicht neu, gerade vor dem Hintergrund des beschleunigten europäischen Integrationsprozesses nach 1989 auf der einen und dem Zerfall des sowjetischen Imperiums auf der anderen eine neue Aktualität erfahren: die (vergleichende) Regionalgeschichte und die Ethnizitätsforschung.

"Nationalisierung von Grenzen" ist aus einer Sektion des deutschen Historikertages 2000 in Aachen hervorgegangen. Es ist wohl kein Zufall, dass die an der Martin-Luther Universität Halle lehrenden Herausgeber, der Osteuropa-Historiker Michael G. Müller und der Italien-Historiker Rolf Petri, die deutsche Geschichte von außen bzw. von der Peripherie her beschäftigt.

In der Einleitung skizzieren die Herausgeber Grenzregionen als “Exerzier- und Experimentierfelder für die vielfältigen Formen, in denen sich die moderne Neuerfindung von Gemeinschaft, einer mit Territorialisierung verbundenen nationalen Identität, durchgesetzt hat“ (S. vii). Trotz des komparatistischen Ansatzes sind die Beiträge nicht standardisiert, sondern thematisch ebenso wie von der Periodisierung her unterschiedlich angelegt. Alle Beiträge sind quellennah geschrieben und basieren auf laufenden bzw. kürzlich abgeschlossenen Forschungen.

Der Mitherausgeber Müller untersucht in seinem Beitrag über “deutschsprachige Gruppen in Großpolen/Provinz Posen und dem Königlichen Preußen/Westpreußen vor 1848“ das Verhältnis von Sprache und Nationalisierung. Er zeigt, dass es deutschsprachige Gruppen gab, die sich bis in das 19. Jahrhundert nicht als Teil von “Deutschland“ verstanden und “Polen“ nicht als “Andere“ wahrnahmen. Nach den Teilungen Polens ist zwischen den neu hinzuziehenden preußischen Beamten und der alteingesessenen Deutschsprachigen zu unterscheiden. Der Beitrag demonstriert auch, dass eine vorschnelle Verwendung von Adjektiven wie “deutsch“ oder “polnisch“ im Sinne von “ethnisch“ den Quellen nicht gerecht wird – ganz abgesehen von der unklaren Bedeutung des Begriffes Ethnizität. Der Beitrag von Thomas Serrier über die Provinz Posen im Kaiserreich knüpft an Müller zeitlich an. Er zeigt wie die Erfindung von Posen als “deutscher“ Provinz scheiterte. Ein Beleg ist das verbreitete Bild von Posen als “preußisches Sibirien“. Ralph Schattkowsky widmet sich erschöpfend den konfliktreichen Beziehungen zwischen Deutschen und Polen (und ihren jeweiligen Vereinsnetzwerken) in Westpreußen vor dem Ersten Weltkrieg. Dabei ging es unter anderem um die Gewinnung der Kaschuben für das Projekt der polnischen Nation.

Dietlind Hüchtker beleuchtet den „Mythos Galizien“. Sie reflektiert neuere theoretische Arbeiten, etwa über „Mental Mapping“, und bezieht viele literarische Quellen in die Analyse mit ein. Dem „Mythos“ zufolge sei Galizien eine multikulturelle und gleichzeitig wirtschaftlich wie kulturell unterentwickelte Region gewesen. Hüchtker sieht im Diskurs der „rückständigen Polyethnizität“ eine Konstruktion, da die weitgehend reibungslose Existenz von verschiedenen Gruppen „hegemoniale Fortschrittsauffassungen“ relativierte.

Vier weitere Beiträge behandeln Grenzregionen außerhalb von Ostmitteleuropa. Günter Riederer widmet sich den „Schwierigkeiten nationaler und regionaler Identitätsstiftung in Elsaß-Lothringen zwischen 1870 und 1918; Rolf Wörsdorfer zeigt, wie die „Windischen“ als Gruppe der „deutschtreuen Slowenen“ erfunden wurde. Rolf Petri untersucht im einzigen vergleichenden Aufsatz den Heimat-Diskurs in Nordschleswig und Südtirol. Und Hans Heiss thematisiert den Regionalismus in Südtirol nach dem Zweiten Weltkrieg.

Der Band versammelt zahlreiche Ansätze für eine die traditionelle Nationalgeschichte überwindende Geschichtsschreibung. Themen wie „Heimat“, „Region“, Abgrenzung, die Funktion von Sprache, das Verhältnis von „Modernisierung und Nationalisierung“ werden in allen Beiträgen aufgeworfen. Damit ist der Band in der Summe der Beiträge ein wichtiger Anstoß für mehr Forschungen und Debatten über Grenzregionen und ihre Konstruktion.

Anmerkungen:
1 Siehe dazu: Peter Oliver Loew und seine Rezension zu: Davies, Norman; Moorhouse, Roger, Die Blume Europas, Breslau - Wroclaw - Vratislavia, Die Geschichte einer mitteleuropäischen Stadt, München 2002, in: H-Soz-u-Kult, 19.09.2002, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/NG-2002-090>.

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