S. Creuzberger u.a. (Hgg.): Russische Archive und Geschichtswissenschaft

Cover
Titel
Russische Archive und Geschichtswissenschaft. Rechtsgrundlagen- Arbeitsbedingungen- Forschungsperspektiven


Herausgeber
Creuzberger, Stefan; Lindner, Rainer
Reihe
Zeitgeschichte, Kommunismus, Stalinismus. Materialien und Forschungen 2
Erschienen
Frankfurt am Main 2003: Peter Lang/Frankfurt am Main
Anzahl Seiten
426 S.
Preis
€ 68,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Elke Scherstjanoi, Institut für Zeitgeschichte

Berichte zu Forschungsbedingungen und –perspektiven haben eine kurze Gültigkeit, insbesondere dann, wenn es sich um einen Themenbereich mit grundlegenden inhaltlichen Wendungen und Verwerfungen, zugleich erheblich erweiterter Materialbasis handelt, wie ihn die „Geschichte der UdSSR“ heute darstellt. Die Herausgeber offerieren Ergebnisse einer „von ihnen im Jahr 2000 angestoßenen internationalen Konferenz“ (S. 9). Sie wollen neue Erfahrungen im Umgang mit russischen Archivbeständen kundtun und Impulse für weiterführende Forschung geben. Schon bis 2000 war dazu vieles gesagt und geschrieben worden. Nun hat manches in diesem Buch an Aktualität verloren und lediglich historiografiegeschichtlichen Wert. Viele Beobachtungen und Anregungen sind aber nach wie vor nützlich und stehen für aktuelle Forschungstrends.

Jörg Barberowski, Klaus Gestwa und Patricia Kennedy Grimsted beginnen mit kritischen Blicken auf zehn Jahre russische Archivgeschichte seit 1990/91 und darauf, „was sich dem verständigen Historiker im Archiv eröffnet“ (Barberowski, S.16). Bei Barberowski sind das Überlegungen zu den Grenzen aktenkundlicher Überlieferung schlechthin, zu spezifisch sowjetischen Archivierungszielen und folglich unabänderlichen Erkenntnisgrenzen ebenso wie zum emotionalen Erlebnis „Archiv“, seinen Verlockungen und falschen Verheißungen. Barberowski warnt vor der Jagd nach Spektakulärem und empfiehlt, sich stattdessen an der Verfeinerung von Fragen und Methoden zu beteiligen. Er führt an Publikationen vor, wie der eine oder andere Historiker es verstanden hat, die neuen Dokumente „richtig zu lesen“. Dahinein arbeitet er Passagen einer Art „Einführung in die kommunistische Herrschaftsgeschichte“. Seine Sicht auf Terror und Willkür als systemische Dauerphänomene der sowjetischen Gesellschaft, auf „Stalin und seine Paladine“ (S. 23) mit ihrer „Sprache, die aus der Gosse kam“ (S. 15), auf „die Beseelung der Untertanen“, in der die „raison d’être des kommunistischen Experiments“ gelegen habe (S. 26), auf Alltagsgebräuche und Geschlechterbeziehungen als „Schlachtfelder, auf denen Kommunisten, Arbeiter und Bauern einander begegneten“ (S. 27) u.a.m., trägt er allerdings so vor, als ergebe sie sich zwingend, nämlich aus der „richtigen“ Lesart der Dokumente, wie er und einige andere sie praktizieren.

Gestwa dagegen weiß auch von der unguten Wirkung starrer Präpositionierung zu berichten. Erfreut über die fruchtbaren Kontroversen seit der Archivöffnung, fordert er eine die kulturellen Kontexte stärker reflektierende Aktenauswertung. Unter Verweis auf Karl Schlögel, Elena Zubkova, Sarah Davies, Peter Holquist u.a. zeigt er an Untersuchungen zu Haltungen zum Regime, wie weit Archivdokumente „gegen den Strich zu lesen“ sind und wo dieses Verfahren an Erkenntnisschranken stößt und man bloß „neue Fußnoten für alte Paradigmen“ (Holquist) schreibt.

Der Beitrag von Grimsted handelt von langjährigen Bemühungen um Aktenöffnung, Kooperationsprojekte, Zugang zu Findhilfsmitteln und weltweit nutzbare Archiv-Websites. Grimsted benennt die Eigenarten russischen Archivrechts mit ihren Folgen für ausländische Nutzer und geht auf die politische Debatte um im Krieg geraubte Kulturschätze sowie in die Sowjetunion verbrachtes Archivgut ein. Die Forscherin von der Harvard University koordiniert heute die mit dem Föderalen Russischen Archivdienst erstellte Datenbank ArcheoBiblioBase. Im Anhang des Bandes sind auf 90 Seiten ausgewählte Daten abgedruckt.

Im zweiten Abschnitt stellen russische Archivare vier Moskauer Archive vor, drei staatliche und ein nichtstaatliches. Andrej V. Doronin vom Russischen Staatsarchiv für Sozial- und Politikgeschichte und Michail Ju. Prozumenscikov vom Russischen Staatsarchiv der Neuesten Geschichte vertreten Archive, die vor allem Parteiaktenbestände von zentraler Bedeutung verwahren. Von ersterem erfährt der Leser mehr über den Grundaufbau der Bestände, wichtige Neuzugänge der letzten Jahre und Fortschritte bzw. Grenzen der Entsperrung („Deklassifizierung“), der zweite weiht recht detailliert in die widersprüchlichen Vorgänge um das russische Archivgesetz und das Gesetz über das Staatsgeheimnis ein, insbesondere in Bezug auf die Hinterlassenschaft der KPdSU. Prozumenscikov setzt sich kritisch mit der Geschichte der Freigabe von Parteidokumenten auseinander, zeigt das Hin und Her archivrechtlicher Regelungen von der Periode des „revolutionären Romantizismus“ (1992/93) über eine Zeit pragmatischer Entscheidungen (1993-1997) bis hin zu Jahren „bürokratischen Spiels“ in diversen Freigabekommissionen, das bis heute anzudauern scheint. Die geschilderten „Absurditäten bei der Deklassifizierungspolitik“ (S. 98) erklären die Mutlosigkeit, mit der Moskauer Archivare einem oft begegnen. Oganes V. Marinin beschreibt Aufbau und Arbeitsbedingungen im Staatsarchiv der Russischen Föderation, der Verwahrstätte von Dokumenten der wichtigsten zentralen Staatseinrichtungen Russlands und der UdSSR im 19. und 20. Jahrhundert. Die Beiträge sollten Pflichtlektüre vor jeder ersten Archivreise nach Moskau sein.

Was einer seiner Mitbegründer über das Moskauer 1988 an der Russischen Staatlichen Geisteswissenschaftlichen Universität unter Juri Afanas’ev gegründete „Volksarchiv“ schreibt, fällt qualitativ ab. Boris S. Ilizarov spricht vom ehrbaren Anliegen, „Geschichte von unten“, insbesondere den Widerstand in der Sowjetunion, zu dokumentieren. Dass und warum das erste nichtstaatliche Archiv nach einem euphorischen Start und diversem Sponsoring technisch-organisatorisch abstürzte, bleibt unerwähnt. Die Arbeitsbedingungen dort sind heute schlecht. (Susanne Schattenberg empfand sie – in Gänsefüßchen – als „normal“, S. 160.)

Eberhard Kuhrt, Helmut Altrichter und Christoph Mick informieren über Beispiele für Forschungskoordinierung. Die seit 1998 bestehende Deutsch-Russische Historikerkommission, eine auf der Kanzler- bzw. Präsidentenebene initiierte und „beschirmte“ Einrichtung zur zeitgeschichtlichen Forschungsförderung, wird mit Personalbestand, Arbeitssitzungen und Projekten der ersten Amtsperiode vorgestellt. Eines der Projekte bezweckt, „100(0) Schlüsseldokumente zur russisch-sowjetischen Geschichte seit 1917“ ins Internet zu stellen. Das Portal des am Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte an der Universität Erlangen-Nürnberg und am Institut für Allgemeine Geschichte der Russischen Akademie der Wissenschaften konzipierten Unternehmens führt derzeit zu 54 kommentierten Einzeldokumenten, ggf. auch in russischer Sprache erfasst, mit Literaturhinweisen.

Im Weiteren werden projekt- und themengebundene Forschungserfahrungen weitergereicht, meist mit Bestandsbeschreibungen und Archivierungsgeschichten. Die 10 Beiträge unterscheiden sich nicht nur in Abhängigkeit vom Thema; vielmehr verbinden einige Autoren ihre Berichte mit Werbung für Ansatz und „Schule“. Julia Obertreis (sie forscht zu städtischen Milieus und Identitäten) plädiert für mehr Sinn für Mikrogeschichte im sowjetischen Kosmos; Susanne Schattenberg (zu sowjetischen Ingenieur-Biografien) vertritt den linguistic turn in der Ego-Dokumentenanalyse; Klaus Gestwa (zu Machtverhältnissen auf den Großbauten der UdSSR) fordert, sich den „unbequemen Differenzierungen“ in den Akten zu stellen und sie durch Großtheorien nicht zu überdecken, zu verdrängen oder aufzulösen, insbesondere beim wenig erforschten Spätstalinismus. Thomas M. Bohn (zur Urbanisierung in Weißrussland nach 1945) wirbt für Archivstudien außerhalb von Moskau und St. Petersburg. Bernhard H. Bayerlein (sein Beitrag verliert durch Überfrachtung) lobt die Wirkung des Großprojektes zur Erschließung des Komminternarchivs im Interesse einer von der „kulturalistischen Wende“ erfassten, „integrierten Kommunismusforschung“. Viktor Knoll rät, sich der sowjetischen Diplomatie der Zwischenkriegszeit endlich auch in ihrer soziokulturellen Dimension zuzuwenden. Polly Kienle beschreibt die Bestände an erbeuteten deutschen Soldatenbriefen und Wehrmachtsdokumenten im so genannten Sonderarchiv. Mattias Uhl (Thema: sowjetischen Rüstungsindustrie) vermittelt Erfahrungen aus der Arbeit im Russischen Staatsarchiv für Wirtschaft. Johannes Raschka listet die Bestände zur SMAD im Staatsarchiv der Russischen Föderation und anderen russischen Archiven auf und berichtet von deutsch-russischen Editionsprojekten. Donal O’ Sullivans hält seinen Beitrag zur Außenpolitikforschung dagegen sehr allgemein. Die Arbeitsbedingungen im Außenpolitischen Archiv (Außenministerium der Russischen Föderation), von Knoll angesprochen, hätten ausführlicher beschrieben werden müssen, denn sie unterscheiden sich von denen in staatlichen Archiven.

Stefan Creuzberger und Rainer Richter fassen die Leistungen zusammen und schauen nach vorn. Sie ergänzen die vorangegangenen Aufsätze um Erträge von unerwähnten Forschungsfeldern, z.B. aus der GULAG-Forschung. Manch ambitiöse Formulierung misslingt („Re-Deklassifizierung“), manch starke Behauptung ist unverständlich. Zum Beispiel: „Die Charakterisierung der [sowjetischen] Nachkriegsgesellschaft wird sich am methodischen Instrumentarium der Stalinismusforschung orientieren können“ (S. 311) – als hätte Stalinismusforschung ein eigenes Instrumentarium und als würde nicht, je nach Stalinismus-Definition, ein eher politikhistorisches oder eher gesellschafts- und kulturgeschichtliches Instrumentarium in Frage kommen.

Alles in allem eine hilfreiche Zwischenbilanz. Dass die englischsprachigen Texte nicht übersetzt wurden, während man dem Fachpublikum – logischerweise aus der Osteuropaforschung – holprige Übersetzungen aus dem Russischen vorlegt, wirkt allerdings etwas seltsam.

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