J. Barber: Life and death in besieged Leningrad

Cover
Titel
Life and death in besieged Leningrad. 1941-1944


Herausgeber
Barber, John; Andrej Dzeniskevich
Reihe
Studies in Russian and East European History and Society
Erschienen
Basingstoke 2004: Palgrave Macmillan
Anzahl Seiten
243 S.
Preis
£50.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jörg Ganzenmüller, Historisches Seminar, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Rund eine Million Menschen starben in Leningrad, das von September 1941 bis Januar 1943 von der deutschen Wehrmacht belagert war, an den Folgen von Unterernährung. In zahlreichen Tagebüchern und Memoiren ist der Alltag in der hungernden Stadt eindrucksvoll beschrieben worden: der tägliche Kampf um ein Stück Brot, das Sterben der Nächsten und auch die Folgen des Hungers für Körper und Seele. Der von John Barber und Andrei Dzeniskevich herausgegebene Sammelband rückt den medizinischen Aspekt der Hungerkatastrophe in den Mittelpunkt. Er beinhaltet die Beiträge, die im April 2001 auf einer Konferenz in St. Petersburg gehalten wurden und im selben Jahr bereits auf russisch erschienen sind.1

Die Herausgeber verfolgen mit dieser Aufsatzsammlung das Ziel, die physischen, psychischen und gesellschaftlichen Folgen des extremen Hungers während der Belagerung Leningrads zu beschreiben. Dies gelingt vor allem denjenigen Beiträgen, die einen medizinhistorischen Ansatz verfolgen und die häufig vernachlässigte Frage nach den körperlichen und seelischen Langzeitwirkungen des Kriegserlebnisses stellen. Svetlana Magaeva weist auf eine durchschnittlich gesunkene Lebenserwartung der Überlebenden hin. Igor Kozlov und Alla Samsonova untersuchen das verminderte Wachstum derjenigen Leningrader, welche die Blockade als Kinder miterlebt haben. Lidiya Khoroshinina geht auf die gravierenden Gesundheitsschäden ein, die bei den Überlebenden häufig erst Jahrzehnte nach dem Krieg offensichtlich geworden sind.

Diejenigen Beiträge jedoch, die einen sozialgeschichtlichen Zugang zu ihrem Thema gewählt haben, weisen eine Reihe von methodischen Problemen auf. Zunächst ist hier die hohe Quellengläubigkeit zu nennen. So erschöpft sich etwa der Beitrag von Mikhail Frolov zur Evakuierung der Leningrader nach Kostroma darin, die in den Archiven gefundenen Dokumente bis ins Detail zu referieren. Dabei erscheint die Evakuierung der Leningrader als eine lange Kette von Pannen und Dysfunktionalitäten. Frolov schreibt hier bewußt gegen die sowjetische Historiographie an, welche die Evakuierung stets als gut organisiert darstellte und als glänzenden Erfolg verherrlichte. Doch das Bestreben, sich endlich den „weißen Flecken“ der sowjetischen Geschichte zuzuwenden, bringt allzu häufig neue Einseitigkeiten hervor. Denn trotz aller Unzulänglichkeiten gelang es den Leningrader Verantwortlichen immerhin, von Kriegsbeginn bis zum April 1942 rund 1,3 Millionen Menschen aus Leningrad herauszubringen. Eine Darstellung der Evakuierung kann sich also nicht in einer Abschrift derjenigen Berichte erschöpfen, die sich ausschließlich mit den Problemen in der Praxis befassen, und auf jegliche weitere Analyse verzichten. Vielmehr werfen gerade Dokumente, welche die Unzulänglichkeiten des sowjetischen Systems beleuchten, die Frage auf, wie trotz all der Fehler und Versäumnisse in der Praxis Leistungen wie die Evakuierung Leningrads oder die Verlagerung der sowjetischen Industrie in den Osten des Landes zustande kamen.

Auch Nadezhda Cherepenina vertraut in ihrem Beitrag zu den Opferzahlen der Belagerung Leningrads zu sehr ihrem Quellenmaterial. Die Diskussion um die Zahl der Blockadeopfer ist mittlerweile 60 Jahre alt. In der Sowjetunion war sie in erster Linie eine politische Auseinandersetzung. Nach dem Krieg legte eine staatliche Kommission die Zahl der Toten auf exakt 632.253 Personen fest.2 Diese Angabe war ebenso geschönt, wie Stalin insgesamt die Opferzahlen des Zweiten Weltkriegs nach unten korrigierte, um zu verschleiern, daß die Verluste der Sowjetunion weit über denen der anderen kriegführenden Staaten lagen. Bereits in der Chruščëv-Ära wurde diese Angabe jedoch nach oben korrigiert. Zwei renommierte Leningrader Historiker, Valentin M. Koval’čuk und Gennadij L. Sobolev, errechneten eine Opferzahl von „nicht weniger als 800.000“.3 Zur gleichen Zeit setzte ein anderes Leningrader Autorenkollektiv seine Schätzung auf eine Million hoch.4 1975 intervenierte jedoch Michail Suslov, Sekretär des ZK der KPdSU, und die alte Zahl von 632.253 wurde für Veröffentlichungen als maßgeblich empfohlen. Cherepenina errechnet nun auf Grundlage der Akten der Leningrader Standesämter die offiziell registrierten Toten und kommt dabei für den Zeitraum Oktober 1941 bis August 1942 auf 573.000. Diese Zahl hat aber keine allzu hohe Aussagekraft, da viele Leningrader den Tod ihrer Verwandten nicht registrieren ließen, nicht zuletzt, um deren Lebensmittelkarten weiter benutzen zu können. Zwar schildert Cherepenina zu Beginn ihres Aufsatzes die vielfältigen Schwierigkeiten, die eine Feststellung der genauen Opferzahlen praktisch unmöglich machen. Diese Einwände wirft sie am Ende jedoch allesamt über Bord und kommt in einer anschließenden Berechnung zu einem Gesamtergebnis von 700.000 Opfern. Ihre Vorgehensweise ist dabei nicht immer transparent und schlüssig begründet. Auch setzt sich Cherepenina nicht mit anderen Berechnungen oder seriösen Schätzungen auseinander.

Eine weitere Schwäche des Bandes besteht darin, daß einige Beiträge jene Form der heroisierenden Geschichtsschreibung fortsetzen, welche sich nie von der Kriegspropaganda zu lösen vermochte und bis heute das offizielle Geschichtsbild in Rußland prägt. So schildert etwa Andrei Dzeniskevich, wie einige medizinische Institute noch unter den schwersten Bedingungen die Auswirkungen von extremem Hunger auf den menschlichen Körper erforschten. Die Leistungen dieser Wissenschaftler sollen gar nicht gering geachtet werden. Zu kritisieren ist vielmehr die Art und Weise, wie hier ein Stück Blockadealltag gezeichnet wird. Dzeniskevich greift in seiner Untersuchung vor allem auf Beispiele aus dem Jahr 1943 – manchmal sogar aus den Jahren 1944 und 1945, als die Belagerung schon beendet war – zurück. Er verwebt die Einzelfälle zu einer abgerundeten Erzählung, so daß diese als Beispiele für „den“ Blockadealltag erscheinen. Wie in den meisten Darstellungen üblich werden die „900 Tage“ auch bei Dzeniskevich als eine einheitliche Periode gesehen. Tatsächlich herrschten 1943 völlig andere Bedingungen als noch im Hungerwinter 1941/42. Nachdem nämlich die Rote Armee im Januar 1943 südlich des Ladogasees eine Lücke in den Belagerungsring geschlagen hatte, konnte durch diesen Korridor die Stadt mit ihren nur noch 800.000 Einwohnern deutlich besser versorgt werden. Bereits im Februar 1943 wurden die Lebensmittelrationen auf das landesübliche Niveau angehoben. Der Beitrag von Dzeniskevich steht also ganz in der Tradition der sowjetischen Historiographie, die von Beginn an die unterschiedlichen Phasen der Belagerung verwischte, um Leningrad vor dem Hintergrund des Blockadealltags in einem heroischen Licht erscheinen zu lassen.

Als letzter Einwand muß die fehlende Rezeption der internationalen Stalinismusforschung genannt werden. Alle Autoren können sich als Verdienst anrechnen lassen, eine Fülle von neuem Archivmaterial erschlossen zu haben. Doch breiten sie ihre Funde vor dem Leser aus, ohne auf die in der Stalinismusforschung diskutierten Fragen einzugehen oder deren Ergebnisse zu berücksichtigen. Indem die Autoren diesen Anschluß nicht suchen, ist letztlich nur wenig von ihren Beiträgen zu lernen. So erscheint etwa die Darstellung Boris Belozerovs zur Kriminalität während der Blockade als ein Beitrag zum Verhalten der Menschen unter den extremen Bedingungen der Blockade. Doch viele der von ihm beobachteten Phänomene sind bereits aus Studien zum sowjetischen Alltag der zwanziger und dreißiger Jahre bekannt. Die Frage nach Kontinuitäten des stalinistischen Systems und der Verhaltensweisen der Menschen innerhalb dieses Systems drängen sich hier geradezu auf.

Zieht man ein Fazit, dann muß konstatiert werden, daß diesem Band kein wichtiger Forschungsbeitrag zur Geschichte des belagerten Leningrads gelungen ist. Nur wer sich mit sehr kleinen Ausschnitten der Blockade beschäftigt, mag aus der Detailfreude einzelner Beiträge interessante Informationen gewinnen.

Anmerkungen:
1 Džon D. Barber, Andrej R. Dzeniskevič (Hgg.): Žizn’ i smert’ v blokirovannom Leningrade. Istoriko-medicinskij aspekt, St. Petersburg 2001.
2 Akt Leningradskoj gorodskoj komissii o prednamerennom istreblenii nemecko-fašistskimi varvarami mirnych žitelej Leningrada i uščerbe, nanesennom chozjajstvu i kul’turno-istoričeskim pamjatnikam goroda za period vojny i blokady. Črezvyčajnaja gosudarstvennaja komissija po ustanovleniju i rassledovaniju zlodejanij nemecko-fašistskich zachvatčikov i ich soobščnikov, Leningrad 1945.
3 Koval’čuk/ Sobolev: Leningradskij „rekviem“, S. 191-194. Diese Berechnung geht von ca. 2,5 Millionen Menschen aus, die sich im September 1941 in Leningrad befanden.
4 Knjazev u. a.: Na zaščite Nevskoj tverdyni, S. 336. Diese Zahl fand Eingang in den fünften Band der offiziösen Geschichte Leningrads, vgl. Očerki istorii Leningrada Bd. 5.

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