J. Kocka u.a. (Hgg.): Bürgerkultur und Mäzenatentum

Titel
Bürgerkultur und Mäzenatentum im 19. Jahrhundert.


Herausgeber
Kocka, Jürgen; Manuel Frey
Reihe
Bürgerlichkeit, Wertewandel und Mäzenatentum 2
Anzahl Seiten
264 S.
Preis
DM 68,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Walkenhorst, Bielefeld

Das Ende des Ost-West-Konflikts, die fortschreitende Globalisierung nahezu aller Lebensbereiche sowie die Erkenntnis, daß der Staat allein nicht (mehr) in der Lage ist, die materiellen und ideellen Grundlagen des gesellschaftlichen Zusammenhalts zu gewährleisten, haben eine intensive Suche nach neuen Ordnungsentwürfen für Politik und Gesellschaft ausgelöst. Im Mittelpunkt der politischen und wissenschaftlichen Diskussion steht dabei seit geraumer Zeit das Konzept der "Bürger-" bzw. "Zivilgesellschaft" ("civil society"). Ursprünglich zur Bezeichnung einer politischen Gegenutopie zu den sozialistischen Systemen in Mittel- und Osteuropa verwendet, ist der Begriff der civil society mittlerweile zu einem Schlagwort für höchst unterschiedliche politische und gesellschaftliche Ordnungsvorstellungen avanciert. Gemeinsam ist diesen Vorstellungen, daß sie die aktive Partizipation und das freiwillige, gemeinnützige Engagement der Bürgerinnen und Bürger zum Leitbild einer guten Ordnung erheben.1

In der sozialwissenschaftlichen Diskussion wird der Begriff der "Zivilgesellschaft" darüber hinaus häufig zur Bezeichnung jener Organisationen, Institutionen und Formen gemeinnützigen Handelns benutzt, die außerhalb des Marktes und des staatlichen Bereichs, innerhalb des sog. "Dritten Sektors" ("nonprofit sector") anzutreffen sind. Auch wenn die Definition und Abgrenzung der Begriffe "Zivilgesellschaft" und "Dritter Sektor" in der Forschung mitunter variieren, so besteht zumindest weitgehende Einigkeit darüber, daß freiwillige Vereinigungen und private Initiativen des "Dritten Sektors" ein Kernelement der Zivilgesellschaft darstellen.2

Während die Politik- und Sozialwissenschaft die Zivilgesellschaft und den "Dritten Sektor" in den letzten Jahren zum Gegenstand intensiver Forschungen gemacht haben, hat die historische Forschung diese Themen bislang weitgehend ignoriert, und dies, obwohl gerade die sozialwissenschaftlichen Forschungsergebnisse auf die historischen Grundlagen und Voraussetzungen für die Entwicklung zivilgesellschaftlicher Strukturen verweisen.3 Dieses Defizit der Geschichtswissenschaft gilt auch für die historische Bürgertumsforschung, die sich zwar intensiv mit dem bürgerlichen Vereins- und Assoziationswesen sowie den unterschiedlichen Ausdrucksformen einer spezifisch bürgerlichen Kultur beschäftigt hat, hierbei jedoch den vielfältigen Formen mäzenatischen und gemeinwohlorientierten Handelns kaum Beachtung schenkte.

Dieses Versäumnis ist erstaunlich, denn Mäzenatentum war, wie die Beiträge der beiden hier rezensierten Sammelbände eindrucksvoll zeigen, ein konstitutives Element bürgerlicher Kultur und Lebensführung. Mäzenatisches und philanthropisches Engagement, d.h. die Bereitstellung privater Mittel für öffentliche Zwecke, läßt sich als Ausdruck eines bürgerlichen Selbstverständnisses interpretieren, das die Produktion öffentlicher Güter nicht allein dem Staat überließ, sondern auch als Aufgabe individuellen, am Gemeinwohl orientierten Engagements verstand. Die Förderung von Wissenschaft, Kunst und Kultur sowie philanthropische Aktivitäten im sozialen Bereich verfolgten darüber hinaus das Ziel, bürgerlichen Normen, Wertvorstellungen und Deutungsmustern über die Grenzen des Bürgertums hinaus Akzeptanz und Geltung zu verschaffen. In diesem Sinne erscheint mäzenatisches Handeln, wie Jürgen Kocka in seinem einleitenden Forschungsüberblick, in dem von Thomas W. Gaethgens und Martin Schieder herausgegebenen Band konstatiert, geradezu als "bürgerliches Verhalten par excellence". (34)

Beide Bände enthalten erste Ergebnisse eines interdisziplinären Forschungsprojekts zum Thema Bürgerlichkeit, Wertewandel, Mäzenatentum, in dem Historiker und Kunsthistoriker seit 1997 die Geschichte des Mäzenatentums vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart untersuchen. Der erste, von Thomas W. Gaethgens und Martin Schieder herausgegebene und als Festschrift für den Berliner Mäzen Günter Braun konzipierte Band beschäftigt sich in zwölf Einzelstudien mit der Geschichte bürgerlicher Kunst- und Kulturförderung in den letzten zweihundert Jahren. Der Schwerpunkt der Beiträge liegt dabei auf Berlin, wo sich im Kaiserreich eine umfangreiche Kultur des Mäzenatentums entwickelte, die ihren Niederschlag in einer Vielzahl bedeutender Sammlungen und Museen fand. Diese Fokussierung auf die Reichshauptstadt wird jedoch durch den Blick auf die mäzenatische Praxis an anderen Orten und in anderen Ländern ergänzt.

Zum Auftakt untersucht Manuel Frey anhand lexikalischer Quellen den Bedeutungswandel des Begriffs "Mäzens" in der bürgerlichen Gesellschaft. Seine begriffsgeschichtliche Analyse zeigt, daß das Leitbild des gebildeten, bürgerlichen Mäzens seit dem Ende des 18. Jahrhunderts die bis dahin dominierende Vorstellung des fürstlichen Mäzens ablöste und zu einem konstitutiven Bestandteil der bürgerlichen Kultur avancierte. Sven Kuhrau beschäftigt sich mit dem Mäzenatentum bürgerlicher Kunstsammler im wilhelminischen Berlin, das er als Praxis einer sich neu formierenden "kulturellen Elite" interpretiert, für die das Sammeln und Stiften ein Distinktions- und Integrationsmedium gegenüber der traditionellen aristokratischen Oberschicht darstellte. Die Förderung von Kunst und Kultur war für die zumeist großbürgerlichen Mäzene kein Selbstzweck, sondern eine kulturelle Praxis, die darauf abzielte, die gesellschaftlichen Grenzen der höfischen Etikette zu durchbrechen und bürgerlichen Wertvorstellungen öffentliche Anerkennung zu verschaffen.

Die Bedeutung von privatem, gemeinnützigen Engagement als Ausdruck einer gemeinsamen kulturellen Identität betont auch Karsten Borgmann in seinem Beitrag über Philanthropie und Mäzenatentum in den USA. In der amerikanischen Gesellschaft stellt private Wohltätigkeit ("philanthropy") ab einer bestimmten Vermögensstufe eine allgemein akzeptierte soziale Norm dar. Der Begriff "philanthropy" meint deshalb nicht so sehr den individuellen Beitrag eines einzelnen Mäzens als vielmehr das gemeinsame Ethos einer privilegierten sozialen Gruppe, für die gemeinnütziges Engagement ein selbstverständlicher Teil eines erfolgreichen Lebens ist. Diese "Kultur des Reichtums" gehört zur gesellschaftlichen Normalität in den Vereinigten Staaten und verdeutlicht die grundlegende Bedeutung philanthropischen Handelns für das soziale und kulturelle Selbstverständnis der amerikanischen Oberschicht.

Mit den verschiedenen Aspekten des Verhältnisses von Bürgertum und mäzenatischem Handeln beschäftigt sich ausführlich der zweite, von Jürgen Kocka und Manuel Frey herausgegebene Band, der die Ergebnisse einer Tagung zum Thema "Bürgerkultur und Mäzenatentum im 19. Jahrhundert" in der Arbeitsstelle für vergleichende Gesellschaftsgeschichte an der Freien Universität Berlin dokumentiert. Generell bestand, wie die Herausgeber in ihrer Einleitung bilanzieren, zwischen Bürgertum und mäzenatischem Handeln ein enger Zusammenhang. Mäzenatentum stellte eine wichtige Klammer dar, die das Zusammenwirken von Wirtschafts- und Bildungsbürgertum bekräftigte und damit den inneren Zusammenhalt des Bürgertums stärkte. Die produktive Zusammenarbeit von Bildung und Besitz bildete eine zentrale Grundlage der bürgerlichen Kultur und des bürgerlichen Selbstverständnisses, auch und gerade im Hinblick auf die Abgrenzung gegenüber den nichtbürgerlichen Schichten der Gesellschaft.

Die einzelnen Beiträge des Bandes zeigen außerdem, daß die Bereitstellung privater Mittel für öffentliche Zwecke immer auch partikularen Zwecken und Interessen diente, etwa dem Gewinn an gesellschaftlichem Prestige, der Aneignung von Deutungsmacht oder der Ausübung von politischem Einfluß und sozialer Kontrolle. Mäzenatisches Engagement war, mit anderen Worten, vieldeutig und entzieht sich deshalb einer simplem, monokausalen Erklärung. Seine Analyse verspricht jedoch einen Blick auf die subtilen Kräfteverhältnisse innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft sowie auf "die feinen Risse, aber auch auf die unsichtbar geknüpften Verbindungslinien, die die verschiedenen Fraktionen des Bürgertums zusammenhielten und eine Abgrenzung gegenüber den Nicht-Bürgern ermöglichten". (15)

Mäzenatisches Handeln war darüber hinaus ein primär städtisches Phänomen. Dieser Befund ist nicht überraschend, denn die historische Bürgertumsforschung hat gezeigt, daß die enge Verknüpfung von Bürgertum und Stadt in Europa eine jahrhundertelange Tradition besitzt. Entsprechend gehen auch die elf Einzelstudien von Fragestellungen der Bürgertumsforschung aus und untersuchen die mäzenatischen Aktivitäten städtischer Führungsgruppen als Ausdruck der sich wandelnden bürgerlichen Gesellschaft. Dabei verdeutlicht der Vergleich, daß die Handlungsspielräume und Wirkungsmöglichkeiten bürgerlichen Mäzenatentums sich aufgrund der divergierenden historischen und lokalen Voraussetzungen höchst unterschiedlich gestalteten. So zeigt etwa Hans-Walter Schmuhl, daß der Übergang von individuellen zu kollektiven Formen mäzenatischen Handels zu Beginn des 19. Jahrhunderts in der alten Reichsstadt Nürnberg mit einer langen Tradition stadtbürgerlichen Mäzenatentums, anders verlief als in der Residenz- und Verwaltungsstadt Braunschweig.

Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt auch Dieter Hein in seiner Untersuchung der Kunst- und Kulturförderung in Karlsruhe und Mannheim, die zugleich die besondere Bedeutung "assoziativen", d.h. in Vereinen organisierten Mäzenatentums für das bürgerliche Selbstverständnis herausarbeitet. Darüber hinaus zeigt Hein, daß bürgerliches Mäzenatentum, zumindest in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, mit konkreten gesellschaftlichen Reformzielen verknüpft und in ein übergreifendes bürgerlich-liberales Ordnungskonzept eingebettet war, in dem die Selbstorganisation der Gesellschaft durch das freiwillige Engagement der Bürgerinnen und Bürger einen zentralen Platz einnahm. Das breite und vielfältige Spektrum dieses Engagements beschreibt Ralf Roth am Beispiel des Frankfurter Mäzenatentum in den Bereichen, Kunst, Kultur, Wissenschaft und Bildung, das seinen Höhepunkt 1912 in der Gründung der Frankfurter Universität - dem größten mäzenatischen Einzelprojekt des 19. Jahrhunderts - fand.

Während der empirische Schwerpunkt der meisten Beiträge entsprechend der Konzeption des Forschungsprojekts auf dem mäzenatischen Engagement für Kunst, Kultur und Wissenschaft liegt, untersucht Thomas Weichel am Beispiel Wiesbadens die Bereitschaft der Bürger, private Mittel für soziale Zwecke zu stiften. Er liefert damit ein wichtiges Korrektiv zu der mitunter etwas einseitigen Fokussierung auf die Kunst- und Wissenschaftsförderung, denn Spenden und Stiftungen für soziale Belange waren nicht nur in Wiesbaden, sondern im gesamten Deutschen Reich quantitativ weitaus bedeutender und stellen auch heute noch das mit Abstand wichtigste Tätigkeitsfeld deutscher Stiftungen dar.4 Soziale Wohltätigkeit resultierte nach Meinung Weichels jedoch keineswegs nur aus altruistischen Motiven, sondern zielte immer auch auf die Ausübung von sozialer Kontrolle.

Auch Philipp Sarasin betont in seinem Beitrag die politischen und gesellschaftlichen Implikationen bürgerlichen Stiftens und Schenkens. Am Beispiel Basels und anknüpfend an Überlegungen Michel Foucaults entwirft er ein Forschungsprogramm für eine theoriegeleitete Kultur- und Sozialgeschichte mäzenatischen Handelns in der bürgerlichen Gesellschaft, das Stiften und Schenken als Kampf um Deutungsmacht und die Konstruktion bzw. Reproduktion sozialer Positionen interpretiert.

Mit dem wichtigen Aspekt des jüdischen Mäzenatentums beschäftigt sich der Beitrag von Elisabeth Kraus. Trotz zahlreicher rechtlicher und administrativer Behinderungen waren Juden seit Beginn der Emanzipation, vor allem jedoch während des Kaiserreichs, proportional in weit höherem Maße als Stifter und Mäzene tätig, als es ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung entsprach. Obwohl die jüdische Bevölkerung nur etwa 5 Prozent der Gesamteinwohner Berlins ausmachte, stammten im Jahrzehnt vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges knapp 38 Prozent des von der Stadt verwalteten kommunalen Stiftungsvermögens aus jüdischem Besitz. Die Ursachen für diese überproportional starke Stiftungstätigkeit von Juden lagen nach Kraus nicht so sehr in dem Wunsch jüdischer Stifter, Defizite im Hinblick auf die gesellschaftliche und politische Gleichstellung zu kompensieren, sondern waren Ausdruck eines spezifischen jüdischen Wertekanons, in dem der sozialen Fürsorge traditionell eine zentrale Bedeutung zukam. Jüdisches Mäzenatentum sollte deshalb nicht als Versuch einer Abgrenzung vom Judentum oder gar einer Verleugnung jüdischer Identität gedeutet werden, sondern im Gegenteil als Ausdruck eines überzeugten Bekenntnisses zum Judentum.

Insgesamt enthalten die in den beiden Sammelbänden vorgelegten Einzelstudien eine Fülle von Material, das Stiftungen und mäzenatisches Handeln als zentrale Elemente der bürgerlichen Kultur und Lebensführung zeigt, denen eine wichtige Funktion im Hinblick auf die Konstitution der bürgerlichen Gesellschaft zukam. Darüber hinaus bilden die Untersuchungen zum bürgerlichen Mäzenatentum ein gelungenes Beispiel für eine konkrete, problemorientierte Verknüpfung kultur- und sozialgeschichtlicher Forschungsansätze jenseits abstrakter Theoriedebatten. Auch aus diesem Grund ist dem allenthalben konstatierten Bedarf nach weiteren Forschungen zum Stiftungswesen und Mäzenatentum ohne Einschränkung zuzustimmen. Eine Beschäftigung mit der Geschichte philanthropischen und mäzenatischen Handelns eröffnet der historischen Forschung jedoch vor allem die Möglichkeit, der aktuellen Diskussion um eine Neubestimmung des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft sowie die Grundlagen einer dynamischen Zivilgesellschaft historische Tiefenschärfe zu verleihen.

Anmerkungen:
1 John Hall (Hrsg.): Civil Society: Theory, History, Comparison, Cambridge 1995; Warnfried Dettling: Bürgergesellschaft. Möglichkeiten, Voraussetzungen und Grenzen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B38/98, 11.09.1998, S. 22-28.

2 Lester M. Salamon / Helmut K. Anheier, Der Dritte Sektor. Aktuelle internationale Trends. Eine Zusammenfassung, Gütersloh 1999; dies.: The Emerging Nonprofit Sector. An Overview, Manchester 1996.

3 Lester M. Salamon / Helmut K. Anheier: Social Origins of Civil Society: Explaining the Nonprofit Sector Cross-Nationally, in: Voluntas: International Journal of Voluntary and Nonprofit Organizations, Vol. 9, Nr. 3, 1998, S. 213-248.

4 Vgl. Helmut K. Anheier: Das Stiftungswesen in Zahlen. Eine sozial-ökonomische Strukturbeschreibung deutscher Stiftungen, in: Bertelsmann Stiftung (Hrsg.), Handbuch Stiftungen. Ziele - Projekte - Management - Rechtliche Gestaltung, Wiesbaden 1998, S. 47-82 (hier: S. 64-67).

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