Sammelrezension: Turnen und Nation

Titel
Zwischen Körperertüchtigung und nationaler Bewegung. Turnvereine in Bayern 1860-1890


Autor(en)
Illig, Stefan
Reihe
Kölner Beiträge zu Nationsforschung 5
Erschienen
Köln 1998: SH-Verlag
Anzahl Seiten
604 S.
Preis
€ 58,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Siegfried Weichlein, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Die kritische Nationalismusforschung wandte sich früh und mit Vorliebe den nationalistischen Massenverbänden der wilhelminischen Ära zu. So setzte die Studie Roger Chickerings zum Alldeutschen Verband für lange Zeit Maßstäbe in der methodischen Herangehensweise an den Vereinsnationalismus. Gleiches galt für die älteren Sänger, Schützen und Turner und die frühe deutsche Nationalbewegung. Im Mittelpunkt des Interesses standen die Organisationsgeschichte, die politischen und sozialen Mobilisierungsmuster und die ideologische Komposition der Vereine und Verbände. Gerade die Befunde zum organisierten Nationalismus der wilhelminischen Ära gaben Anlaß für Grundsatzkontroversen zum Stellenwert des Kaiserreiches in der neuesten deutschen Geschichte: Entstand der wilhelminische Radikalnationalismus durch eine 'Mobilisierung von oben', weil der Überhang an vormodernen Eliten im modernen Staat seinen Einfluß im Zeitalter der politischen Massen absichern wollte, oder handelte es sich dabei um eine 'Mobilisierung von unten', die die 'Nation' als Appellinstanz gegen die Partizipationsverweigerung im wilhelminischen Staat in Stellung brachte? 1

Methodisch ist die Geschichtswissenschaft wie auch die Nationalismusforschung inzwischen zu neuen Ufern aufgebrochen. Die neuere Literatur zu Nationalstaat und Nationalismus konzentriert sich auf Praxen der Repräsentation des Nationalen in regionalen, sozialen und kulturellen, weniger hingegen in konfessionellen Kontexten. Auch nach der "kulturalistischen Wende" blieb das Interesse am organisierten Nationalismus hoch. Indiz hierfür sind die beiden hier anzuzeigenden Studien von Svenja Goltermann und Stefan Illig zu den Turnvereinen im Kaiserreich.

Die Bielefelder Dissertation von Svenja Goltermann zur nationalen Habitusformierung unter den deutschen Turnern geht methodisch davon aus, daß in den Turnvereinen eine nachhaltige Einverleibung des Nationalen geschah. Im Anschluß an den französischen Soziologen Pierre Bourdieu liest sie die Turnvereine in zwei Richtungen, was schon im doppeldeutigen Titel "Körper der Nation" zum Ausdruck kommt. Die Turner eigneten sich das Ideologem der Nation mit dem Anspruch an, in den Turnvereinen wesentliche Merkmale der Nation zu verkörpern, wollten also selbst der "Körper der Nation" sein. Gleichzeitig wirkten ihre Formen der Repräsentation des Nationalen auf den Gehalt dessen zurück, was "Nation" im zeitgenössischen Kontext überhaupt meinen konnte, welchen Körper also die Nation annehmen sollte. Nationalismus wird so zur "Handlungs-, Wahrnehmung- und Denkmatrix",auf die eine Vielzahl von sozialen, kulturellen und Geschlechterdispositionen einwirkten. An den Turnvereinen interessiert sie die "Einprägungs- und Aneignungsarbeit" des Nationalen. Prozeßhaftigkeit und Wandelbarkeit stehen auch im Zentrum des Verständnisses von "Nation",der sie jedwede selbständige Bedeutung abspricht. Ihre Untersuchung wird strukturiert durch die Begriffe Einheit, Freiheit und Männlichkeit. Die ursprüngliche Absicht einer kritischen Auseinandersetzung mit der These vom Funktionswandel des Nationalismus (Heinrich A. Winkler) schlägt sich noch in der Gliederung der Arbeit in zwei große Teile nieder: die Gehalte und Praxen der habitusleitenden Zentralbegriffe Einheit, Freiheit und Männlichkeit werden vor (I.) und nach der Reichsgründung (II.) untersucht.

Eindrucksvoll fällt die historisch weit ausgreifende Analyse des Bedeutungswandels von Freiheit aus. Svenja Goltermann zeigt, wie der politische Bedeutungsgehalt von Freiheit hinter einer Tendenz zur Versittlichung der politisch-sozialen Begriffe zurücktrat. In dem Streben nach Sittlichkeit wurden Individuum und Kollektiv vor denselben Karren gespannt. Die durch und durch versittlichte Freiheit hatte nichts mehr mit der Liberalisierung der Gesellschaft zu tun. Entkoppelt von jedweder emanzipatorischen Praxis war sie kaum mehr zu unterscheiden von der "Einsicht in die Notwendigkeit". Die 'Freiheit' der Turner kam ohne politische Partizipation aus. Sie stellte vielmehr ein spezifisches Verhalten dar, das auf der Grundlage von 'Sittlichkeit', 'Frömmigkeit' und 'Wehrhaftigkeit' erworben sein wollte. Der Wahlspruch der deutschen Turnerbewegung war denn auch nicht eine Auflistung von Eigenschaften,sondern eher eine Stufenfolge, wie es ein zeitgenössischer Turner ausdrückte: "Froh, frisch,fromm und frei, das sind vier schöne Worte, und sie haben einen guten Klang. Den schönsten Klang aber hat das letzte, es hält uns das Ziel vor Augen, zu dem die drei anderen Worte nur die Mittel, die Durchgangsstufen bezeichnen." (101). Die gänzlich auf das sittlich Notwendige ausgerichtete Freiheit verlor nach der Reichsgründung endgültig ihren kritischen Stachel, als auch noch das Nationale versittlicht und damit vermeintlich außerhalb des politischen Streites gestellt wurde. Ihr harmonistisches Gesellschaftsideal erlaubte es den Turnern nicht, sich von den einzelstaatlichen Monarchien zu distanzieren. Ganz im Gegenteil: Ihre Loyalität galt etwa dem bayerischen König genauso wie dem deutschen Kaiser. Freiheit ohne Emanzipation fand ihren Fixpunkt in der 'Einheit', die als 'Eintracht' interpretiert immer hart am Sittlichen Kurs hielt. Die penetrante und explosive Mischung aus Frömmigkeit und Sittlichkeit mag den Leser erinnern an Friedrich Nietzsches Diagnose: "Mit Moral fängt das Christentum zu stinken an."

Die Pointe der Studie von Goltermann stellt freilich die Geschlechterperspektive dar. Der 'Körper der Nation' war für die Turnvereine ein männlicher Körper. Die nationale Repräsentation der Nation in den Turnvereinen band je länger je mehr die Einheit der Nationan den Kraftbeweis von Männlichkeit und Wehrhaftigkeit. Männlichkeit, Sittlichkeit und nationale Eintracht blieben eng aufeinander bezogen. Die Autorin parallelisiert Männlichkeit, Sittlichkeit und nationale Eintracht so stark, daß Männer bei einem Mangel an nationaler Einheit letztlich ihre Männlichkeit in Frage gestellt sehen mußten. Hier scheint der Systemzwang des Argumentes durch. Insgesamt folgt Goltermann einer radikalkonstruktivistischen Lesart: nationale Identität geht in den Konstruktionsversuchen der Nationalisten genauso auf wie Männlichkeit in den Versuchen, Männlichkeit zu beweisen.

Die Reichsgründung veränderte für Svenja Goltermann zwar die staatlichen Rahmenbedingungen, bedingte auch einen gewissen Gestaltwandel des Nationalismus, stellte aber keine dem nationalen Habitus der Turner innerliche Zäsur dar. Von einem Funktionswandel des Nationalismus kann daher für sie keine Rede sein. Ihre Orientierung an einer Handlungen, Wahrnehmungen und Denken zugrunde liegenden Matrix erlaubt es derAutorin, die Charakteristika des Radikalnationalismus vor die Reichsgründung zurückzuverlegen. Früh datiert werden die aggressive Exklusion, die rassistische Xenophobie, der militaristische Männlichkeitswahn etc. Dem fluiden Charakter des nationalen Habitus geschuldet bleibt es aber nicht dabei: auch kosmopolitische Grundhaltungen, emanzipatorische Orientierungen und die 'Erziehung aus der Unmündigkeit' gingen in ihn ein. Nicht zufällig durchziehen das "sowohl als auch" und das "einerseits - andererseits" die Arbeit wie ein Leitmotiv. Die Kehrseite dieser Herangehensweise bildet die Schwierigkeit, den nationalen Habitus abzugrenzen, zumal er idealtypisch schließlich koextensiv mit der Dynamik der Gesellschaft werden müßte. Goltermann zeichnet sprachlich elegant und feinsinnig die Amalgamierung synchroner Dispositionen nach. Ihre Antwort auf die diachrone Fragestellung nach dem Wandel vom emanzipatorischen zum integralen Nationalismus nach der Reichsgründung ist dabei im Grunde methodisch schon vorentschieden. Dabei hätte die These vom Funktionswandel eine fundierte Kritik verdient. Der Nationalismus vor der Reichsgründung trug mehr machtorientierte integrale Züge, als lange angenommen. 2 Emanzipatorische Gehalte finden sich noch nach der Jahrhundertwende, als Frauen mit Verweis auf ihr nationales Engagement gegen das patrilineare Staatsbürgerschaftsrecht protestierten. Mit guten Gründen kann der Nationalismus als ein komplexes Ineinander von Partizipationsverheißung und Gewaltbereitschaft beschrieben werden. 3

Die Textorganisation um habituelle Muster herum bedingt eine gewisse Dominanz von ideellen Strukturen und Begriffen, die sich zudem in wechselnden Variationen in den beiden großenTeilen der Arbeit oft wiederholen. Die regionalen Differenzierungen treten bis auf Bayern und Österreich zurück. 'Agency' - eine zentrale Kategorie der neueren Kulturgeschichtsschreibung - verblaßt hinter der Wechselwirkung von 'Männlichkeit und Nation' oder 'Freiheit und Sittlichkeit'. Svenja Goltermann analysiert sprachlich gekonnt und mit aussagekräftigen Zitaten weniger die Turner als vielmehr die "Politik des Turnens". Die Dominanz von ideellen Strukturen tritt besonders deutlich hervor beim Zusammenhang von Männlichkeit und Wehrhaftigkeit. Im Zeitalter der allgemeinen Wehrpflicht hätte es nahegelegen, die immerwieder akzentuierte nationale Wehrhaftigkeit der Turner weiterzuverfolgen und nachzuprüfenan der tatsächlichen Reaktion der Turner auf den Wehrdienst im Nationalstaat bzw. am Stellenwert des Turnens im Militär.

Die Münchener Dissertation von Stefan Illig zu den bayerischen Turnvereinen zwischen 1848 und 1890 nähert sich ihrem Gegenstand weitaus konventioneller, indem sie sich ganz auf die Organisations- und Programmgeschichte der bayerischen Turner konzentriert. Im Unterschied zu Goltermanns Studie unterscheidet Illig nicht zwei Phasen in seiner Darstellung. Er untergliedert vielmehr in eine Organisationsgeschichte und eine Geschichte der sozialen Ideen bei den bayerischen Turnern. Illig analysiert die Turnvereine zwischen der Revolution von 1848/49 und der Reichsgründung. Die Zeit nach 1871 wird eher kursorisch behandelt. Die 600 Seiten umfassende Arbeit hätte der Lesbarkeit halber eine deutliche Verdichtung verdient,zumal sich Illig gerne in Details verliert. Weniger synthetisch ausgerichtet als Goltermann zeichnet er facettenreich sowie lokal und konfessionell differenziert die wechselhafte Karriere des Nationalismus in den Turnvereinen Bayerns nach. Illig legt Wert auf die Brüche innerhalb der Turnerbewegung, was sich in Austritten und Wiedereintritten einzelner Vereine (etwa Bambergs und Fürths in den 1860er Jahren) niederschlug. Auch die bayerischen Turner verstanden Freiheit seit den 1860er Jahren sittlich-moralisch und kamen ohne Forderungen nach Emanzipation oder gar Partizipation aus. Stärker als Goltermann gewichtet Illig die Bedeutung von Recht und Rechtsstaatlichkeit für den Freiheitsbegriff der Turner.

Zurückhaltender als in anderen Regionen redeten die Turner im gemischt-konfessionellen Bayern über Frömmigkeit, zumal die Turnbewegung nicht auf protestantische Gegenden beschränkt blieb. Obgleich dort zahlenmäßig schwächer und organisationsgeschichtlich weniger agil konnten die Turner auch in Altbayern Fuß fassen. Während des bayerischen Kulturkampfes gestaltete sich das Verhältnis der bayerischen Turnvereine zur katholischen Kirche zwar schwieriger als zuvor. Einen ständigen Konfliktpunkt bildete die Einführung des obligatorischen Turnens in den Volksschulgesetzentwürfen, was von der katholischen Schulaufsicht verhindert wurde. Auch fanden sich in der fränkischen Turnerpresse heftige Angriffe auf die "Pfaffenpartei". Dieser Konflikt blieb indessen Teil des regionalen Gegensatzes zwischen alt- und neubayerischen Gebieten und konnte sich in den Turnvereinen nicht verselbständigen. Die Turnvereine hielten sich in Altbayern, weil sie dem Verdacht entgegenwirkten, einseitig konfessionell Partei zu ergreifen. In katholischen Gebieten ordneten sie sich der lokalen Deutungsmacht Kirche ohne größere Reibereien unter. Die enge Verbindung zu den Kirchen wurde schon dadurch unterstrichen, daß die Turnvereine für ihre Fahnenweihen kein eigenes Zeremoniell entwickelten, sondern regelmäßig auf kirchliche Assistenz zurückgriffen.

Mit dem spannendsten Detail geizt der Autor bis wenige Seiten vor dem Ende des Buches: der Einführung des Leistungsprinzips in das Vereinsturnen. Anhand von Leistungen, die individuell in Zentimeter, Gramm und Sekunden gemessen wurden, motivierten die Turnvereine neue Mitglieder und stellten das Turnen in der Öffentlichkeit nachvollziehbar dar. Mit dem Siegeszug des Leistungsprinzips in Gestalt des in allen europäischen Staaten eingeführten c-g-s Systems (Centimeter - Gramm - Sekunden) aber änderte sich der Charakter des Turnens und der Turnbewegung von Grund auf. Auf dem Rücken des Leistungsprinzips hielt der Wettbewerbsgedanke in die Turnvereine Einzug. Mehr als im Bezug auf Sittlichkeit und Eintracht rückte das Leistungsprinzip die Turnvereine in die Mitte der industriegesellschaftlichen Dynamik. Leistung trat an die Stelle jener Mischung aus Idealismus und Sittlichkeit, wie sie in jenem Merkspruch zu Ausdruck kam, der so viele deutsche Giebel zierte: "Es ist der Geist, der sich den Körper schafft". Die Zukunft gehörte dem enthemmten Leistungsideal des modernen Sports.

Bei allen Unterschieden bieten beide Studien beeindruckende Synthesen zur Geschichte der Turnvereine in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Svenja Goltermann gelingt einsprachlich gut geschriebenes Portrait der nationalen Motivationsstruktur in den deutschen Turnvereinen, das untergründige Zusammenhänge zwischen Freiheit und Einheit auf mehreren Ebenen sichtbar macht. Illigs anschaulich geschriebene Geschichte der bayerischen Turner bettet die Turnvereine und ihre Ideologie breit ein ins zeitgenössische Geflecht von Politik,Kultur und Sozialstruktur. Methodisch deutlich unterschieden belegen beide Studien die andauernde Fruchtbarkeit der Beschäftigung mit dem organisierten Nationalismus.

Anmerkungen:
1 Vgl.: R. Chickering: We Men Who Feel Most German. A Cultural Stu-dy of the Pan-German League 1886 - 1914, Boston 1984. Zur Debatte um den Stellenwert der nationalistischen Massenvereine vgl.: H.-U. Wehler: Zur Funktion und Struktur der nationalen Kampfver-bände im Kaiserreich, in: W. Con-ze u.a. (Hg.): Modernisierung und nationale Gesell-schaft im ausge-henden 18. und 19. Jahrhundert; Berlin 1979, 113 - 124. Gegenposition: G. Eley: Some thoughts on the nationalist pressure groups in Imperial Germany, in: P. Kennedy u.a. (Hg.): Nationalist and Racialist Movements in Britain and Germany before 1914, Oxford 1981, 40-67.

2 Vgl.: M. Meyer: Freiheit und Macht. Studien zum Nationalismus süddeutscher, insbesondere badischer Liberaler 1830-48, Frankfurt a.M. 1994.

3 Vgl.: D. Langewiesche: Nationalismus im 19. und 20. Jahrhundert: zwi-schen Partizipation und Aggression., Bonn 1994; ders.: Nation, Nationalismus, Nationalstaat. Forschungsstand und Forschungsperspektiven, in: NPL 40 (1995), 190 - 236.

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