D. Hoffmann u.a. (Hgg.): Das letzte Jahr der SBZ

Titel
Das letzte Jahr der SBZ. Politische Weichenstellungen im Prozess der Gründung der DDR


Herausgeber
Hoffmann, Dierk; Wentker, Hermann
Reihe
Sondernummer der Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Erschienen
München 2000: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
296 S.
Preis
€ 49,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marcel Boldorf, Universitaet Mannheim

Die Staatsgründung der DDR wird in der Literatur als längerfristiger Prozess beurteilt. Neben dem formellen Datum des 7. Oktober 1949 wird der Entscheidung zum Aufbau des Sozialismus auf der 2. Parteikonferenz der SED im Juli 1952 ein grosses Gewicht eingeräumt. Als weitere Vorschläge für eine "innere Staatsgründung" werden die Junikrise 1953, das Jahr 1955 als Zeitpunkt der ost- und westdeutschen Blockintegration oder gar erst das Datum des Mauerbaus, der 13. August 1961, genannt. Ungeachtet des längeren Prozesses des staatlichen Aufbaus und der staatlichen Konsolidierung steht in dem Sammelband die Vorgeschichte der DDR, das letzte Jahr der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) 1948/49, im Mittelpunkt, in dem die entscheidenden Weichenstellungen zur Errichtung eines ostdeutschen Teilstaates stattfanden. Die im dem Sammelband versammelten Beiträge gehen auf ein Kolloquium zurück, das die Aussenstelle Berlin des Instituts für Zeitgeschichte im November 1998 veranstaltete.

In fast allen staatlichen Bereichen markierte 1948/49 den Durchbruch zur Zentralisierung. Als markanteste politische Entscheidungen sind die Gründung der Deutschen Wirtschaftskommission (DWK) im Frühjahr 1948 und der Umbau der SED zu einer "Partei neuen Typus" zu nennen. Es fand eine Machtverschiebung von der sowjetischen Besatzungsmacht, der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD), hin zu den Regierungsorganen statt, also der DWK, die die wirtschaftlichen Zentralverwaltungen zusammenfasste, sowie der Deutschen Verwaltung des Inneren (DVdI). Es stellt sich die Frage, "in welchem Masse die 1948 eingeleiteten Entwicklungen in der SBZ bereits als formativ für die Staatsgründung der DDR gelten können." (Einleitung, S. 8). Die Herausgeber gehen davon aus, daß 1948/49 nicht als Epochenzäsur, sondern eine Etappenzäsur, eine Zäsur zweiter Ordnung, angesehen werden kann. Gleichzeitig habe das letzte Jahr der SBZ eine Scharnierfunktion gehabt, indem eine Beschleunigung vorher angelegter Prozesse stattfand.

Der Band ist in drei grössere Kapitel unterteilt:

I. Politische Weichenstellungen im Spannungsfeld von gesamtdeutschen Perspektiven und eigenstaatlicher Entwicklung,

II. Zentralisierung und Aufbau neuer politischer Instanzen im Vorgriff auf die DDR-Gründung,

III. Gesellschaftspolitik im Vorfeld der DDR-Gründung.

In einer Art Prolog äussert sich außerdem Bundesminister a.D. Wolfgang Mischnick zu seinen lebensgeschichtlichen Erinnerungen. Von seinem Eintritt in die Liberale Partei Deutschlands (LDPD) im Juli 1945 ausgehend, beschreibt er seine Wahl zum stellvertretenden Landesvorsitzenden dieser Partei, ein Amt, das er auf Intervention der SMAD nicht antreten durfte, bis zu seiner Ausreise nach West-Berlin 1948.

Das kontroverse Kapitel I eröffnet ein Überblicksbeitrag von Udo Wengst. Aus einer Art "Vogelperspektive" (S. 9) läßt er das Jahr 1948 Revue passieren. Von der Londoner Aussenministerkonferenz Ende 1947 leitet er die interalliierten Konstellationen ab, die 1948 prägten. Neben den aussenpolitischen Konstellationen gilt sein Interesse der innerdeutschen (Auseinander-) Entwicklung im Bereich der Verwaltung, d.h. dem Ausbau eigenständiger Strukuren in der angloamerikanischen Bizone und der SBZ. In Kontrast zu seiner Darstellung setzt sich der folgende Beitrag von Elke Scherstjanoi zur Rolle der Sowjetunion bei der deutschen Teilung auseinander. Sie grenzt sich auch vom anderen einführenden Beitrag ab und möchte "eine von der weithin akzeptierten Deutung (auch der des engagierten Zeitzeugen Wolfgang Mischnick) abweichende Sicht auf die deutschlandpolitischen Intentionen der Stalinschen Führung" (S. 40) darstellen. 1948/49, so führt sie fort, habe die Sowjetunion weder eine klare Marschrichtung noch eine eindeutige Spaltungsabsicht verfolgt. Der deutschlandpolitischen Forschung wirft Scherstjanoi vor, daß sie in diesem Untersuchungsfeld hinter die Erkenntnisse der 70er und 80er Jahre zurückgefallen sei (S. 39), indem Forschungsansätze wie die gegenseitige Fehlperzeption der Besatzungsmächte zu Grabe getragen worden seien. Daher stünden wieder die Eindimensionalität und Kontinuitätsbetonung - gerade bei der sowjetischen Besatzungsmacht - wieder im Vordergrund.

Leider stehen der Forschung auch seit der Perestroika nur wenige neue Dokumente zur Erforschung der deutschlandpolitischen Absichten der Sowjetunion zur Verfügung, sieht man von zwei Quellenpublikationen der 90er Jahre ab, auf die sich fast alle Aussagen der Beitrage des vorliegenden Sammelbandes stützen 1. Quellen aus russischen Archiven konnten nur vereinzelt für die Forschung nutzbar gemacht werden. Als wesentlichen Punkt hebt Scherstjanoi hervor, daß führende deutsche Politiker wie Otto Grotewohl und Wilhelm Pieck bereits im Oktober 1947 viel stärker als die SMAD eine Dauerhaftigkeit der Zonengrenzen ins politische Kalkül aufgenommen hätten, obwohl auch die Besatzungsmacht Ende 1947 ein demokratisches Gesamtdeutschland nicht mehr für erreichbar hielt (S. 43). Allerdings betont sie, daß die weitere Entwicklung unklar gewesen sei und die Sowjets insgeheim eine gesamtdeutsche Lösung favorisiert hätten. Erst als sich bei den Briten und Amerikanern die Befürworter eines Weststaates durchsetzten, habe auch bei den Sowjets ein Umdenken begonnen. Mit Hilfe zweier zeitlich weit auseinanderliegender Dokumente (Sommer 1947 und Mai 1948) belegt sie die deutschlandpolitische Wende der sowjetischen Führung. Am 8. Mai 1948 argumentierte Sergej Tjul'panov für eine Einbeziehung der SBZ in den sich formierenden Ostblock (dieses Dokument wird auch von Wengst hervorgehoben, S. 32). Innerhalb des davor liegenden Zeitraumes von neun Monaten bleiben die sowjetischen Interna verborgen, so daß diese Lücke in Ermangelung an Quellen durch Interpretation geschlossen werden muss. So wird kleinen Indizien, wie dem Stalin-Einwurf nach dem Scheitern der Londoner Aussenministerkonferenz, daß die Sowjetunion als Reaktion auf die geplante Weststaatgründung aus Ostdeutschland ihren eigenen Staat machen wolle, ein wichtiger argumentativer Platz eingeräumt (Wengst, S. 31).

Aus dem Blickwinkel der sowjetischen Deutschlandpolitik liefert der Sammelband keine eindeutige Antwort auf die Interpretation der deutschen Teilung. Während Scherstjanoi auf die Einheitsoption als Leitmotiv für die sowjetische Politik pocht, betont Wengst die von der Besatzungsmacht gesetzte Priorität des Ausbaus des sozialistischen Systems. Im Grunde heben dabei beide hervor, daß die SED die eigenstaatliche Option weit mehr favorisierte als die Sowjetunion.

Dem schliesst sich auch der folgende Beitrag von Jan Foitzik zum Verhältnis der SED zur Besatzungsmacht an. Er bereichert das Bild um einige Thesen, die seinen früheren Publikationen und dem Studium russischer Archivalien entnommen sind. Dazu zählt, daß die SMAD die Abhängigkeit der SED, nicht aber ihren Gehorsam wünschte, die KPD/SED wurde nicht instrumentalisiert, sondern sie war "habituell ein politisches Instrument" (S. 63). Die Bestrebungen zur Vereinheitlichung der ostzonalen Politik gingen mehr von der SED selbst als von der Besatzungsmacht aus, wie schon im August 1947 die Äusserungen Ulbrichts im Zentralsekretariat der SED zeigten (S. 59).

Ein Beitrag von Theresia Bauer, der im vorgegebenen Kontext den Wandel der Blockpolitik und die Neugründung von Parteien (v.a. am Beispiel der Gründung der Demokratischen Bauernpartei, ihrem Dissertationsthema) untersucht, schliesst das Kapiel I ab.

Die Beiträge von Kapitel II verfolgen den Prozess der Zentralisierung und des Einflusses der Besatzungsmacht in einzelnen Politikfeldern. Zunächst widmet sich André Steiner der DWK-Gründung, die er aus der 1947 sich verschlechternden wirtschaftlichen Entwicklung und daraus sich ergebenden Notwendigkeit zur planwirtschaftlichen Steuerung ableitet. Da die Länder der SBZ in dieser Hinsicht nur begrenzte Möglichkeiten gehabt hätten, stelle sich die Zentralisierung der Entscheidungskompetenzen, mithin auch die DWK-Gründung, als ein "Zwang" dar (S. 86). Dieser Zwang galt aber nur unter dem von der SED bereits vorher abgesteckten Rahmen. Tatsächlich leisteten die ordnungspolitischen Entscheidungen der DWK seit ihrer Umstrukturierung im Frühjahr 1948 (die vorherigen wirtschaftlichen Zentralverwaltungen wurden zu Hauptverwaltungen der DWK) die Grundlagen zum Aufbau einer Planwirtschaft. Hierzu zählten: die Schaffung des "Volkseigentums", die Vereinheitlichungen der Institutionen zur Wirtschaftslenkung und die Durchsetzung der Wirtschaftsplanung (z.B. Konzeption des Zweijahresplanes 1949/50 seit Mai 1948). Somit trug die DWK zur Formierung einer zonalen Gesamtwirtschaft bei. Sie war ein ordnungspolitisches Machtinstrument, das von der SED genutzt wurde.

Dierk Hoffmann zeigt im Bereich der Zentralverwaltung für Arbeit und Sozialfürsorge, ab 1948 ein Teilbreich der Wirtschaftsverwaltung der DWK, wie widersprüchlich die Interessen der politischen Akteure in der SBZ sein konnten. Am Beispiel des Konfliktes um die Kommunalisierung oder Zentralisierung der Arbeitsämter zeichnet er nach, daß sich die SMAD im Einklang mit der alliierten Politik bereits früh auf eine kommunale Struktur festgelegt hatte und daher eine Zentralisierung nicht förderte. Vielmehr forderte dies die deutsche Zentralverwaltung, unterstützt durch die Zentralsekretariats-Abteilung der SED, im Hinblick auf einen reibungslosen Ablauf der Arbeitskräftelenkung. Ob die SMAD nun wirklich als "bremsender Faktor" (Einleitung, S. 11) bezeichnet werden kann, sei dahingestellt; immerhin erliess sie, als sie die deutschen Behörden von der Notwendigkeit zur Zentralisierung überzeugt hatten, die entsprechenden Anordnungen recht schnell. Hoffmann beschreibt die 1946 begonnene Diskussion, an der sich mehrere deutschen Instanzen (Länderministerien, FDGB-Bundesvorstand, SED-Zentralsekretariatsabteilung Arbeit und Sozialfürsorge, Deutsche Verwaltung bzw. DWK-Hauptverwaltung für Arbeit und Sozialfürsorge) beteiligten. Die deutschen Organe besassen z.B. auch im Bereich der Sozialpolitik einen relativ grossen Gestaltungsspielraum, wobei in wichtigen Punkten stets eine Abstimmung mit der SMAD-Abteilung Arbeitskraft erfolgte. Unter den Bedingungen eines fortschreitenden Ausbaus der zentralisierten und hierarchisierten Verwaltungsapparates besass 1948 das Konzept der kommunalen Verankerung der Arbeitsämter allerdings keine Chance mehr.

Es folgen drei Beiträge zur inneren Sicherheit, zur Justiz und zur staatlichen Kontrolltätigkeit. Jens Gieske blickt auf die Vorgeschichte des 1950 gegründeten Ministeriums für Staatssicherheit. Er stellt heraus, daß bereits die DVdI, die zweite Säule der zonalen Verwaltung neben der DWK, einen starken Einfluss auf die Polizei zu nehmen suchte. 1948 entstand die Volkspolizei, in deren Apparat sich eine SED-Parteistruktur entwickelte. Gleichzeitig begann der Aufbau einer politischen Polizei. Zuverlässige SED-Parteigänger übernahmen allmählich die Aufgaben der sowjetischen Sicherheitsorgane. 1948 markierte somit den Beginn einer ostdeutschen Geheimpolizei.

Hermann Wentker interpretiert 1948 als das Jahr des Auftaktes der Zentralisierung, Politisierung und einer erst in Ansätzen erkennbaren "Sowjetisierung" des Justizwesens. Dem Umbau dienten, wie auch in anderen Bereichen der öffentlichen Verwaltung, personelle Neubesetzungen, bei denen das Kriterium der Parteizugehörigkeit an Bedeutung gewann. 1948 fand die Beseitigung der Eigenständigkeit der Länderjustizen und der Übergang zu einer zentralen Steuerung der Justiz statt.

Jutta Braun beschreibt von den Unruhen in sächsischen Textilindustrieorten im Juni 1948 ausgehend die Wirkungsweise der Zentralen Kontrollkommission (ZKK). Schauprozesse wie derjenige von Glauchau-Meerane legitimierten die Enteignungspolitik in der Gründungsphase der DDR. Eng durch die SED kontrolliert, übernahm die ZKK die Funktion eines "Untersuchungsorgans" nach dem Vorbild des Anfang der 1920er Jahre von Stalin geleiteten Volkskommissariats der "Arbeiter- und Bauerninspektion". Dies ist einer der wenigen Beiträge des Bandes, wo überhaupt Bezug zu einem vorbildhaften sowjetischen Modell genommen wird.

Im dritten Kapitel des Sammelbandes untersuchen Michael Schwartz die Vertriebenenproblematik 1948-50, Gert Geissler das Bildungswesen, Rüdiger Schmidt mit dem gewerblichen Mittelstand eine sozioökonomische gesellschaftliche Grossgruppe und Arnd Bauerkämper die Auswirkung der SED-Politik 1948/49 auf das dörflich-agrarische Milieu. In diesen Beiträgen sind politikgeschichtliche Ansätze weniger dominant. Im Hinblick auf die Leitfragen des Sammelbandes wird deutlich, daß in manchen Politikbereichen der Hegemonialanspruch der SED (z.B. in der Bildungspolitik) im "letzten Jahr der SBZ" kaum verwirklicht werden konnte.

Insgesamt festigt der von Hoffmann und Wentker vorgelegte Sammelband das Bild, daß man in der Gründungs- und Frühphase der DDR - von wenigen direkten Eingriffen der SMAD abgesehen - mehr von einer eigenständigen, von deutschen Organen getragenen Entwicklung, denn von einer "Sowjetisierung" sprechen kann. Zumindest trifft dies auf die Politik- und Verwaltungsgeschichte im Gegensatz etwa zur Kulturgeschichte zu 2. Dies erhellt ein detaillierter Blick in die einzelnen politischen Teilbereiche. Wie beschrieben waren die Weichenstellungen des Jahres 1948 im Hinblick auf die Gründung und Entwicklung der DDR wegweisend.

Anmerkungen:
1 Badstübner, Rolf / Loth, Wilfried (Hgg.): Wilhelm Pieck - Aufzeichnungen zur Deutschlandpolitik 1945-1953, Berlin 1994; Bonwetsch, Bernd/Bordjugov, Gennadij/Naimark, Norman N.: Sowjetische Politik in der SBZ. Dokumente zur Tätigkeit der Propagandaverwaltung (Informationsabteilung) der SMAD unter Sergej Tjul'panov, Bonn 1998.
2 Vgl. dazu z.B. einzelne Beiträge des Bandes Jarausch, Konrad / Siegrist, Hannes (Hgg.): Amerikanisierung und Sowjetisierung in Deutschland 1945-1970, Frankfurt/ New York 1997.

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