B. Neff: Wilhelminisches Militärwesen

Titel
"Wir wollen keine Paradetruppe, wir wollen eine Kriegstruppe ...". Die reformorientierte Militärkritik der SPD unter Wilhelm II. 1890-1913


Autor(en)
Neff, Bernhard
Erschienen
Köln 2004: SH-Verlag
Anzahl Seiten
284 S.
Preis
€ 24,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Julia Angster, Seminar für Zeitgeschichte, Eberhard-Karls-Universität Tübingen

Die Haltung der Arbeiterbewegung zu Staat und Gesellschaft des wilhelminischen Kaiserreichs ist lange Zeit mit dem Begriff der „negativen Integration“ bezeichnet worden. Diese sei „gekennzeichnet durch zunehmende ökonomische Besserstellung und Tendenzen zur rechtlichen und faktischen Gleichberechtigung einerseits bei gleichzeitiger grundsätzlicher Verweigerung der Gleichberechtigung in Staat und Gesellschaft und Fortdauer der Ausbeutung und der Unterdrückungsmaßnahmen andererseits“.1 Diese Interpretation wird mittlerweile als zu pessimistisch und „der komplexen Wirklichkeit in der Vorkriegszeit nicht voll gerecht“ werdend kritisiert. Sie unterschätze das Maß an „positiver“ Integration und nationaler Loyalität der Arbeiterschaft in Gesellschaft und Staat des Kaiserreichs, die sich neben der Milieubindung und Gegenkultur der Arbeiterbewegung im Wilhelminischen Deutschland durchaus auch herausbildete.2 Ein Bereich, an dem sich diese Frage gut untersuchen lässt, ist die Militärpolitik der SPD im wilhelminischen Kaiserreich. Denn am Kernproblem der Landesverteidigung stellte sich für die SPD die Frage nach dem Widerspruch zwischen internationaler Arbeiterbewegung und nationalem Vaterland.

Schon seit den 1880er-Jahren verschmolz in der Sozialdemokratie allmählich die nationale mit der Klassenloyalität.3 Zunächst bestand die sozialdemokratische Militärpolitik, wie angesichts des Erfurter Programms von 1891 und seiner marxistischen Positionen nicht anders zu erwarten, in der fundamentalen Ablehnung des preußisch-deutschen Militärwesens (“Diesem System keinen Mann und keinen Groschen.“ S. 249). Wie aber kam es von dieser Fundamentalkritik zur Bewilligung der Kriegskredite durch die SPD im August 1914? Bernhard Neff hat jetzt in seiner Studie zur reformorientierten Militärkritik der SPD zwischen 1890 und 1913 das „’missing link’ zwischen unversöhnlicher Militarismuskritik und Integration der SPD“ (S. 253) untersucht, nämlich die zunehmend konstruktive und „systemkonforme“ Detailkritik der Sozialdemokraten am wilhelminischen Militärwesen. Neff untersucht nicht die – bereits hinreichend erforschte – Kritik an den Auswirkungen des preußisch-deutschen Militarismus auf die deutsche Gesellschaft, sondern die Forderung der SPD nach Reformen innerhalb der Armee. Im Mittelpunkt seiner Untersuchung steht die sozialdemokratische Parlamentsarbeit zu Militärfragen zwischen dem Ende des Sozialistengesetzes und der großen Heeresvorlage von 1913. Er bindet dabei die Haltung der Sozialdemokraten an die Militärkritik der Linksliberalen, der weiteren Öffentlichkeit sowie der Reformer innerhalb des Militärs zurück. Dabei geht es ihm „um das Nachzeichnen der parlamentarischen Integration der SPD in res militaribus“ (S. 11), um den Weg von der Fundamentalkritik zur Mitwirkung an einer Militärreform, die eine „kriegsmäßige“ Armee, ein in Taktik, Ausbildung und Kleidung den Erfordernissen des modernen, technisierten Massenkrieges entsprechendes Heer zum Ziel hatte. Durch die Konzentration auf die Arbeit im Reichstag stellt Neff die Vertreter des parlamentarischen Praktizismus in den Mittelpunkt seiner Studie, während die Radikalen weniger Beachtung finden. Als Quellen dienen ihm dabei die Stenographischen Berichte des Reichstags, die Sitzungsprotokolle der Haushaltskommission, die Akten der sächsischen, württembergischen und bayrischen Kriegsministerien sowie die Tagespresse. Neff zeichnet die Entwicklung chronologisch nach und bindet so den Wandel der sozialdemokratischen Positionen, aber auch die Reformschritte im Militär, an die zeitliche Entwicklung zwischen dem Burenkrieg und der zweiten Marokkokrise zurück. Dies führt allerdings manchmal, ebenso wie die etwas kleinteilig geratene Kapiteleinteilung, zu unnötigen Wiederholungen, die angesichts des ansonsten gut geschriebenen und knapp gehaltenen Bandes bedauerlich sind. Sonst wäre vielleicht mehr Platz geblieben, um die allgemeinen politischen und programmatischen Auseinandersetzungen innerhalb der SPD jener Jahre noch stärker mit in die Untersuchung hineinzunehmen. Die Stärke der Studie liegt jedoch in der Verbindung des militärgeschichtlichen bzw. politikgeschichtlichen Zugriffs mit mentalitäts- und kulturgeschichtlichen Aspekten. Hierzu gehören das Kriegsbild und die Kriegserfahrungen und ihre Wirkungen auf die Militärpolitik ebenso wie die Versuche auf der Rechten wie der Linken, konzeptionelle Antworten auf die Entstehung einer modernen Massengesellschaft zu finden.

Zwei Lager standen sich in der Debatte um das wilhelminische Militärwesen gegenüber: die Vertreter des „militaristic way“ auf der einen und jene des „military way“ auf der andern Seite (S. 18f.). Mit dieser Begrifflichkeit wie in seinem Ansatz lehnt sich Neff an Stig Försters These vom „doppelten Militarismus“ an und ergänzt sie durch das Konzept von Alfred Vagts, dessen mentalitätsgeschichtliche Herangehensweise Försters stärker politikgeschichtlichen Ansatz ergänzen soll.4 So macht Neff zwei Positionen aus: Zum einen die Traditionalisten, für die „Schneid“, ritterliche Tapferkeit, Siegeswillen und Disziplin im Mittelpunkt militärischer Tugenden standen. Die Privilegien des Adels und des gehobenen Bürgertums galt es zu verteidigen, der Nivellierung eines Volkskrieges entgegenzuwirken. Der Drill stand im Mittelpunkt der Soldatenausbildung. Die Uniformen wurden, unter dem persönlichen Einfluss Kaiser Wilhelms II., immer prachtvoller und vielgestaltiger; dazu kamen schließlich groß angelegte Manöver mit theatralischen Kavallerieattacken, in denen die Garderegimenter des Kaisers, die von vorneherein als Sieger feststanden, ihre Reitkunst zur Schau stellen konnten. Dagegen richtete sich zum andern wachsende Kritik von zwei Seiten: von der parlamentarischen Linken aus Sozialdemokratie und Linksliberalismus auf der einen und von reformorientierten Militärs auf der anderen Seite, die oft Angehörige der ‚neuen Rechten’ waren: Der anachronistische „Dekorationsmilitarismus“ stehe im Widerspruch zu den Erfordernissen des modernen Krieges; die wilhelminische Armee werde durch die Privilegienwirtschaft des Adels und des vermögenden Bürgertums zweckentfremdet zu reinen „Tanzregimentern“, in denen verweichlichte Offiziere ihr übertriebenes Modebewusstsein auslebten. Und schließlich machten die bunten und glänzenden Uniformen die Offiziere angesichts des inzwischen raucharmen Pulvers zu weithin sichtbaren Zielen und damit zu den ersten Opfern eines Krieges, sie müssten daher durch feldgraue Tarnuniformen ersetzt werden. Kavallerieattacken mit Lanze und Säbel seien zudem angesichts der neuartigen Schnellfeuerwaffen reine Selbstmordkommandos und militärisch vollkommen sinnlos. Der Paradedrill wiederum gehe an den Anforderungen des modernen Feuergefechts vorbei, da im zu erwartenden Durcheinander des Schlachtfelds der selbständig agierende Soldat und nicht mehr der jederzeit von direkten Befehlen der Offiziere abhängige „gedrillte Zunftsoldat“ gefragt sei. Die Kritiker traten zudem dafür ein, durch Reformen der Taktik die Verluste unter Soldaten wie Offizieren möglichst gering zu halten: Unter Schnellfeuerwaffen sei die Defensive der „schneidigen“ Offensive vorzuziehen. Dagegen erhoben die Traditionalisten wiederum den Vorwurf der „Blutscheuheit“ und der „Deckungssucht“, denn die Qualität einer Truppe messe sich am Ertragen von Verlusten, und der Sieg hänge ausschließlich von der ritterlichen Tapferkeit und vom Siegeswillen der Offiziere ab. Schneid und Angriffswillen wiederum seien verkörpert in der Kavallerie.

Die SPD hatte bereits seit den 1890ern neben ihrer weiterhin bestehenden fundamentalen Militarismuskritik einen Kurs der systemkonformen und konstruktiven Militärkritik eingeschlagen, für die vor allem August Bebels Reden im Reichstag maßgeblich waren. Bebels Ziel war eine effiziente Landesverteidigung, insbesondere gegen Russland, und zugleich eine Verbesserung der Situation des einfachen Soldaten. Ab 1907 konzentrierte sich unter Federführung Gustav Noskes die Militärkritik der SPD noch stärker auf die Frage der Kosten und der Effizienz, die Fundamentalkritik trat weiter in den Hintergrund. Nicht mehr die revolutionäre Miliz, sondern das nationale, alle Bevölkerungsschichten umfassende „moderne Volksheer“ war am Vorabend des Ersten Weltkriegs das militärpolitische Ziel der Parteizentrale wie der Revisionisten, und damit der großen Mehrheit der Sozialdemokratie: demokratisch legitimiert und verfasst, mit kurzer Dienstzeit und rein der Landesverteidigung verschrieben ( S. 241, 250) Mit Volk war nun das „gesamte Staatsvolk“ (S. 250) gemeint, nicht mehr die Arbeiterklasse. Dies war, so Neff, Ausdruck des Willens „zur Annäherung an bzw. Integration in das bestehende System“ (S. 248).

Das Bild vom modernen Krieg, das den Reformzielen von Sozialdemokraten, Linksliberalen und rechten Militärkritikern gleichermaßen zugrunde lag, beruhte auf den Erfahrungen des Krieges von 1870/71 sowie des amerikanischen Bürgerkriegs. Der Burenkrieg bestätigte ab 1899 diese Einschätzungen, aber erst in Folge des russisch-japanischen Kriegs kam es ab 1905 innerhalb des Militärs zu umfassenden Reformen, insbesondere in den Bereichen der Ausbildung und der Uniformierung. Technische Effizienz und Massenheere wurden nun zur Grundlage militärischer Überlegungen. Im Kern ging es in der militärpolitischen Auseinandersetzung jener Jahre um den Umgang mit dem modernen industrialisierten Massenkrieg und seinen Folgen für Staat und Gesellschaft. Technische Effizienz im Krieg und der Wandel zum Volksheer waren die Kernforderungen der Militärreformer von links wie rechts. Die Debatte um die Militärreform kann daher als Debatte um die moderne Industriegesellschaft und ihre gesellschaftspolitischen Rückwirkungen gelesen werden. Dies macht die Pointe des Buches umso spannender, nämlich die Beobachtung, dass die SPD in ihren konstruktiven Reformbestrebungen zunehmend mit den militärpolitischen Forderungen der neuen Rechten konform ging, auch wenn deren Motivation eine gänzliche andere war. Diese „unbequeme Allianz“ beruhte auf einer ähnlichen Einschätzung der Anforderungen an eine moderne Armee auf beiden Seiten, und die gemeinsame Ablehnung traditioneller Dispositionen in der preußisch-deutschen Armee. Die jeweiligen Ziele waren jedoch denkbar weit voneinander entfernt: Lag der sozialdemokratischen Reformpolitik eine auf effiziente Landesverteidigung und das Wohlergehen des einzelnen Soldaten gemünzte Strategie zugrunde, so ging es den Militärkritikern der neuen Rechten um eine effiziente und aggressive Militärpolitik, mittels derer expansive außenpolitische Ziele verfolgt werden sollten.

Anmerkungen:
1 Groh, Dieter, Negative Integration und revolutionärer Attentismus. Die deutsche Sozialdemokratie am Vorabend des Ersten Weltkriegs, Frankfurt am Main 1973, S. 36.
2 Schönhoven, Klaus, Die deutschen Gewerkschaften, Frankfurt am Main1987, S. 85f.; Alexander, Matthias, Rezension zu Dieter Groh: Emanzipation und Integration. Beiträge zur Sozial- und Politikgeschichte der deutschen Arbeiterbewegung und des 2. Reiches, Konstanz 1998, in der FAZ vom 26. April 1999, S. 11.
3 Groh, Dieter, Brandt, Peter, ‚Vaterlandslose Gesellen’. Sozialdemokratie und Nation 1860-1990, München 1992, S. 9f.
4 Förster, Stig, Der doppelte Militarismus. Die deutsche Heeresrüstungspolitik zwischen Staus-quo-Sicherung und Aggression 1890-1913, Stuttgart 1985; Vagts, Alfred, A History of Militarism. Civilian and Military, New York 1959.

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