Titel
Forschungsfeld Stadt. Zur Geschichte der volkskundlichen Erforschung städtischer Lebensformen


Autor(en)
Hengartner, Thomas
Reihe
Lebensformen 11
Erschienen
Anzahl Seiten
379 S, 4 Abb.
Preis
€ 35,00
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Beate Binder, Philosophische Fakultaet I Institut fuer Europaeische Ethnologie, Humboldt Universitaet zu Berlin

Über die lang währende Haßliebe zwischen (Groß-)Stadt und Volkskunde zu räsonieren, ist in deutschsprachigen volkskundlichen wie kulturanthropologischen Stadt-Studien ein fast selbstverständlicher Topos. Die großstadtfeindlichen Aussagen des volkskundlichen "Stammvaters" Wilhelm Heinrich Riehl bleiben dabei allerdings allzu häufig der einzige Beleg für die schwierige Beziehung zwischen der Disziplin Volkskunde und dem Forschungsfeld Stadt. Hier setzt die Arbeit von Thomas Hengartner an, die 1995 als Habilitation an der Universität Bern eingereicht und 1998 für die Drucklegung überarbeitet wurde. Diese Daten für eine Einschätzung im Blick zu behalten, ist wichtig, denn - wie Hengartner selbst in seinem Vorwort bemerkt - seit diesem Zeitpunkt ist das Forschungsfeld "Stadt" im Fach Volkskunde / Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie stark in Bewegung geraten. Unter Einfluß insbesondere der amerikanischen Anthropologie sind inzwischen an einigen deutschsprachigen volkskundlichen Instituten Studien entstanden, die das von Hengartner präsentierte Spektrum erweitern.1

Aber das Ziel der vorliegenden Arbeit ist es auch nicht, den aktuellen Diskussions- und Forschungsstand zu referieren. Hengartner will vielmehr mittels eines wissenschaftshistorischen Zugriffs die "Geschichte der volkskundlichen Erforschung städtischer Lebensformen" im deutschsprachigen Raum aufarbeiten. Der fachgeschichtliche Rückblick soll dabei aber nicht nur vergessene und/oder unbeachtet gebliebene Versuche, die Formierung städtischer Lebensweisen aus volkskundlicher Perspektive zu beschreiben, zu tage fördern, sondern vor allem auch die vom Autor konstatierte fehlende oder stagnierende Diskussion um Urbanität im Fach anstoßen. In einem zweiten Teil wird die interne Fachgeschichte durch den Blick von außen ergänzt: Zugänge, Modelle, Überlegungen zur Erforschung urbaner Lebensformen und von Stadt werden vorgestellt mit dem Ziel, "die wirkmächtigsten Diskurse als Kontext für die Entwicklung des volkskundlichen Herangehens an das Forschungsfeld Stadt zu benennen" (S. 10). In einem knappen Ausblick werden dann abschließend mögliche Perspektiven für die volkskundliche Untersuchung von Stadt und Urbanität diskutiert.

Der Schwerpunkt liegt - auch in Hinblick auf die Seitenzahl - auf der Fachgeschichte. Im ersten Teil - "Volkskunde der Stadt - Volkskunde in der Stadt. Zur wissenschaftsgeschichtlichen Verortung des Themenfeldes 'Stadt' in der Volkskunde" - führt Hengartner die LeserInnen nach einer kurzen Einführung in zwei forschungsgeschichtlichen Abrissen von den "frühen Blicken auf städtische Alltage" bis zu "aktuellen volkskundlichen Diskussionen" der 1980er Jahre. Fokussiert ist die Darstellung dabei darauf, mögliche Ansätze für eine übergreifende Theorie und methodische Prinzipien einer (Groß-)Stadtvolkskunde herauszuarbeiten. Volkskundliche Beschäftigung mit Stadt hat, so Hengartner, bislang einzelne Segmente städtischen Lebens beleuchtet, statt sich um eine breitere Fundierung und theoretische Verankerung zu bemühen, die versucht hätte, Stadt als komplexes Gebilde lebens- und alltagsweltlicher Erfahrungen zu beschreiben. Die Fixierung auf den Kanon hat zudem über lange Zeiträume dazu geführt, daß das Dorf in der Stadt gesucht wurde, statt das Spezifische städtischen Lebens zu beschreiben. Bei dem Gang durch die Fachgeschichte werden die bisherigen Forschungsergebnisse daher darauf geprüft, inwieweit sie zu einem übergreifenden, theoretisch wie methodisch fundierten, fachspezifischen Zugriff auf Stadt und Urbanität beitragen können. Damit geht die Monographie über die bereits vorliegenden Arbeiten von Thomas Scholze und Paul Hugger hinaus.2 Diese Brille erlaubt es Hengartner, die volkskundlichen Arbeiten - etwa von Lorenz Westernrieder, Justus Möser, Wilhelm Heinrich Riehl, Adolf Spamer, Will-Erich Peuckert, Leopold Schmidt, Hans Commenda - nicht allein auf ihren ideologischen oder normativen Gehalt hin abzuklopfen, sondern deren methodische und theoretische Zugriffe jenseits dieser Perspektivverengung kritisch zu würdigen. Hengartner streicht etwa in Hinblick auf Riehl heraus, daß dessen kursorische Gedankensplitter zu städtischem Leben durchaus den Grundstock für einen Fachdiskurs hätten legen können. Denn Riehl hätte zentrale Momente des soziodemographischen Wandels erkannt und in der - in seinen Augen - "monströsen Stadt" trotz allen Widerwillens zumindest die Entwicklung eigengesetzlicher Lebensformen entdeckt (S. 51ff). Hengartner stellt einzelne, heute wenig bekannte Ansätze und programmatische Entwürfe gleichermaßen vor wie bekannte Texte, ohne dabei im Nachhinein einen Fachdiskurs zu konstruieren, den es in dieser Form nie gegeben hat; die methodische wie theoretische Reflexion des Forschens in der Stadt ist nach wie vor Desiderat. Im Ergebnis bietet sich im 19. und 20. Jh. zwar eine durchaus reiche Palette an Einzeluntersuchungen. Doch diese fanden - so Hengartner - ebensowenig wie der Volkskundekongreß von 1983 zum Thema "Großstadtvolkskunde", auf dem Helge Gerndt und Hermann Bausinger programmatische Entwürfe für die zukünftige Forschung vortrugen, kaum einen Niederschlag im weiteren Fachdiskurs. Angesichts dieses Befunds resümiert Hengartner: "Volkskunde in der Stadt bildet kaum ein geschlossenes, kohärentes und ganzheitlich reflektiertes Themenfeld; Volkskunde in der Stadt hat sich selbstverständlich und in unterschiedlichen Facetten etabliert" (S. 170).

Hengartners Darstellung isoliert die Arbeiten dabei leider so weit, daß die Entstehungsbedingungen und institutionellen Kontexte für volkskundliches Arbeiten keine Erwähnung finden. Und dort, wo die Betrachtung bis in die 1980er Jahre fortgeführt wird, bleiben unter dem Label "Volkskunde" die Differenzen innerhalb des Fachs, die unterschiedlichen Selbstverständnisse und Perspektiven, unsichtbar. Zugleich wird aber der Eindruck geweckt, als sei mit Volkskunde doch nur ein bestimmter Ausschnitt der Forschung im Fach gemeint. So stellt Hengartner die Arbeiten des Frankfurter Instituts für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie, das auf eine lange Tradition der Erforschung von Urbanität und städtischem Leben zurückblicken kann, als vom "Gros der - im übrigen recht heterogenen - volkskundlichen Produktion" (S. 176) unterschieden dar. Die knappe Skizze dieser "kulturanthropologischen Herangehensweise" soll dann zwar verdeutlichen, daß hier Ansätze und Denkweisen eingebracht werden, die "für das weitere urbanvolkskundliche Arbeiten von großer Bedeutung sein können", und es sich daher lohnen könnte, "die da und dort gezogenen Grenzen zwischen unterschiedlichen Sichtweisen des Faches zu überspringen" (S. 181). Doch wenn der Anspruch, wie Hengartner ihn formuliert hat, auf eine gemeinsame theoretische fachliche Fundierung stadtvolkskundlicher Forschung besteht, müßten solche Differenzen an zentraler Stelle erörtert werden.

Im zweiten Teil "Stadt-Ansichten" wird der enge volkskundliche Diskussionszusammenhang verlassen, um den "Wegmarken der Auseinandersetzung mit städtischen Strukturen und urbanen Lebensformen" zu folgen. Hier werden im "Sinne einer 'Ideengeschichte' Zugänge, Modelle und Überlegungen erörtert, die nachhaltig die Art und Weise, wie 'Stadt' gedacht und wie urbane Lebensformen untersucht haben, mitgeprägt haben" (S. 201). Um den Blick der Moderne auf Stadt darzulegen, schildert Hengartner zunächst nochmals die großstadtfeindlichen Bilder, wie sie Wilhelm Heinrich Riehl, Friedrich Nietzsche und Willy Hellpach gezeichnet haben, und betont die graduellen Unterschiede in deren Betrachtung des Städtischen. Auch bei den "klassischen" Sichtweisen des Urbanen werden also Namen genannt, die in der volkskundlichen Wissensproduktion eine wichtige Rolle spielten. Auf Ferdinand Tönnies' Gegensatz von Gesellschaft und Gemeinschaft wird dann ebenso eingegangen wie auf Georg Simmels Sicht des großstädtischen Geisteslebens. Werner Sombarts und Max Webers Versuche einer Typologie des Städtischen werden skizziert, und Louis Wirths' wegweisender Aufsatz zur "Urbanität als Lebensweise" wird diskutiert. Hengartner verfolgt, wie der Fokus der Betrachtung sich von der "Stadt als Einheit zur Urbanität als Lebensstil" entwickelte und sich zugleich immer weiter auf städtische Teilräume verengte. Dem Stadtteil als Lebensraum - vom Chicagoer Theorem der natural areas, über die Sozialraumanalyse von Eshref Shevky und Wendell Bell bis zu Paul Henri Chombart de Lauwes "petit quartier" als Fokus sozialer Wertvorstellungen - und dem Spannungsfeld von Öffentlichkeit und Privatheit, wie es von Hans Paul Bahrdt als Konzept zur Beschreibung von Stadt entwickelt wurde, schreibt Hengartner bei der Formierung des Blicks auf Stadt eine zentrale Rolle zu. Spätestens in den 1980er Jahren, so Hengartner, wurden die Versuche eines definitorischen Zugriffs auf Stadt aufgegeben. Sowohl die Versuche, Stadt auf der Grundlage statistischer Daten zu definieren, wie auch solche, die das Spezifische der Stadt aus soziokulturellen Interaktionsmustern ableiteten, wurden angesichts der Heterogenität und Komplexität des Phänomens Stadt als zunehmend brüchig wahrgenommen.

Im letzten Abschnitt "Stadt als Einheit in der Vielfalt" diskutiert Hengartner schließlich "strukturorientierte Sichtweisen des Lebens in städtischen Räumen". Doch auch hier bleiben Menschen, deren Alltag und Lebensweise in der Stadt, hinter strukturanalytischen Verfahren weitgehend unsichtbar. Das sozialräumliche Paradigma wird von Hengartner entlang der drei Stichworte "Menschen im städtischen Raum", "städtische Lebensräume" (Wohnung, Nachbarschaft, Stadtviertel) und "Stadtstruktur in Form subjektiver Stadtpläne und Aktionsräume" entfaltet. "Schlaglichter auf die volkskundliche Analyse des Lebens-Raums Stadt" schließen den Forschungsüberblick ab.

Die bis zu diesem Punkt unterbliebene Diskussion, was das Spezifische einer volkskundlichen Perspektive auf Urbanität und Stadt sein könnte, holt Hengartner im letzten Kapitel ein Stück weit nach. Sicherlich hätte diese Reflexion an früherer Stelle im Buch die Möglichkeit eröffnet, klarere Kategorien für die Betrachtung inner- wie außerfachlicher Stadtforschung zu entwickeln, vielleicht auch manche Wiederholung vermeiden helfen und die von Hengartner gemachten Angebote, Entwicklungslinien zu bündeln, hätten dann wahrscheinlich noch deutlicher werden können. Im letzten Abschnitt skizziert Hengartner äußerst knapp weg- und zukunftsweisende "Ansätze zur Untersuchung von Stadt und Urbanität" in der Volkskunde. Aus dem Fehlen einer volkskundlichen Theorie der Stadt könne das Fach eine Tugend machen, wenn volkskundliche Stadtforschung sich in verschiedene Kontexte hineinvernetze, zugleich den Fokus auf die Menschen in der Stadt richte und sich nicht scheue, aus dieser Perspektive an einer Theorie der Stadt mitzuschreiben. In diesem Sinn plädiert Hengartner dafür, Urbanität als Kategorie zu etablieren - ohne sie allerdings als räumliche, lebensweltliche, personelle oder kontextuelle Größe des Ausschlusses zu mißbrauchen -, die Kategorie des Orts (und bedingt auch des Nicht-Orts im Sinne von Marc Augé) weiter als Fokus zu nutzen, das Theorem der "inneren Urbanisierung" (Gottfried Korff) auch für gegenwartsbezogene Forschungen im Sinne von Urbanisiertheit als Formanten städtischer Existenzweise zu reflektieren und schließlich die historische Situiertheit von Urbanität und urbanem Lebensweisen weiter zu explorieren.

Insgesamt läßt einen Hengartners Gang durch die Wissenschaftsgeschichte mit einer Fülle von Eindrücken zurück. Dank des Personenregisters und des ausführlichen Literaturverzeichnisses ist es zudem möglich, die Monographie in Teilen wie ein Nachschlagewerk zu nutzen. Deutlicher herausgearbeitet und kontextualisiert hätte aber die spezifisch volkskundliche Sichtweise auf Stadt werden können, gerade wenn der Gang durch die Wissenschaftsgeschichte mit der Absicht geschah, eine Perspektive für die zukünftige Forschung zu entwickeln. Gewünscht hätte ich dem Buch außerdem ein Lektorat, das den Text nicht nur von der leider recht großen Zahl an Fehlern, sondern auch von manchem allzu umständlichen Schachtelsatz befreit hätte.

Anmerkungen:
1 Vgl. etwa "Transformationen des Städtischen. Stadtethnologie in Europa". Berliner Blätter nr. 17 (1998), wo die Ergebnisse einer Sommerschule am Institut für Europäische Ethnologie in Berlin zusammengefaßt sind, oder das interdisziplinäre Forschungsprojekt Stadt am Hamburger Institut für Ethnologie, an dem auch Thomas Hengartner beteiligt ist.
2 Thomas Scholze: Im Lichte der Großstadt. Volkskundliche Erforschung metropolitaner Lebensformen, Wien, St. Johann/Pongau 1990; Paul Hugger: Die Stadt. Volkskundliche Zugänge, Zürich 1996.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
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