Cover
Titel
A History of Modern Palestine. One Land, Two Peoples


Autor(en)
Pappe, Ilan
Erschienen
Anzahl Seiten
356 S.
Preis
£15.99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Johann Büssow, Institut für Islamwissenschaften, Freie Universität Berlin

Ilan Pappes Geschichte des modernen Palästina behandelt auf relativ engem Raum die Geschichte des „Heiligen Landes“ von der Mitte des 19. Jahrhunderts (vom Ende des Krimkriegs 1856) bis ins Jahr 2003. Die Geschichte eines Landes zu schreiben, das erst mehr als sechzig Jahre nach Beginn des hier behandelten Zeitraums zu einer staatlichen Einheit wurde, das seither mehrere Kriege und Teilungen erlebte und zudem von einer Vielzahl sozialer und ethnischer Gruppen bewohnt wird, die sich unter anderem über völlig unterschiedliche kollektive Erinnerungen definieren (die im Titel erwähnten „zwei Völker“ sind ja lediglich die hervorstechendsten Einheiten und als politische Größen erst seit den 1920er-Jahren auszumachen) – die Geschichte eines solchen Landes zu schreiben, ist an sich schon ein kompliziertes Unterfangen. Pappe, Professor an der Universität Haifa und einer der prominentesten Vertreter der so genannten „neuen Historiker“ in Israel 1, hat sich aber einen noch weit darüber hinausgehenden Anspruch gesetzt. Seine Gesamtdarstellung will nicht einfach bereits bestehende Werke zum Thema ergänzen 2, sie präsentiert sich explizit als „alternative“ Geschichte.

Pappe entwickelt seinen Gegenentwurf aus der Dekonstruktion der „konventionellen“ Geschichtsschreibung (S. 6). Leider fallen in diesem Zusammenhang weder Namen noch Titel von Veröffentlichungen, so dass nicht recht deutlich wird, von welchen Positionen Pappe sich im Einzelnen absetzen möchte. Es geht ihm offensichtlich allgemein um das Paradigma einer stark reduktionistischen Modernisierungstheorie, verbunden mit nationalistischem Lagerdenken. Pappes Forderung lautet dem gegenüber, die Geschichtsschreibung Palästinas zu „ent-modernisieren“, und das heißt für ihn in diesem Zusammenhang vor allem, sie zu „ent-nationalisieren“ (S. 8). Anstelle der sonst für gewöhnlich dominierenden nationalistischen Eliten möchte Pappe zwei andere Akteure in den Vordergrund stellen. Der erste dieser (kollektiven) Akteure ist schlicht die nicht der politischen Elite zugehörige Mehrheit der Bevölkerung, die sich über ganz unterschiedliche Gruppenzugehörigkeiten definierte: als Stadt- und Landbewohner ebenso wie als Männer, Frauen und Kinder, als sunnitische Muslime, sefardische Juden oder griechisch-orthodoxe Christen. Pappes zweiter „Akteur“ ist das, was Modernisierungstheoretiker allgemein für eines der größten Entwicklungshindernisse halten: „die Vergangenheit“, die, sich manifestierend in „Traditionen, Religionen und Bräuchen“, Weltsicht und Lebenspraxis weiter Teile dieser Bevölkerung bestimmt und dies in wohl weit stärkerem Masse als die von Nationalisten so gerne beschworene antike, spätantike oder mittelalterliche Vergangenheit (S. 8f.).

Eine unvermeidliche Beschränkung für Pappes ehrgeiziges Unterfangen ergibt sich bereits aus der Quellenlage. Der Autor kann naturgemäß nur für einen kleinen Teil des hier behandelten Zeitraums auf eigene Forschungsarbeiten zurückgreifen. Der überwiegende Teil des Buches besteht daher aus Synthesen von Einzelstudien unterschiedlicher Herkunft, wobei neben englisch- und hebräischsprachigen Titeln auch arabische Primär- wie Sekundärquellen in größerem Umfang herangezogen werden. Wie weit allein eine umsichtige Kompilation und Synthese bereits publizierter historischer Literatur tragen kann, zeigen die beiden ersten Kapitel zum spätosmanischen Palästina. Hier gelingt es Pappe, ein Gesellschaftspanorama zu zeichnen, das sowohl die ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen der Epoche skizziert als auch die Lebenswelten unterschiedlicher Bevölkerungsteile mit einbezieht. Besonders aufschlussreich sind Beobachtungen zu einzelnen gesellschaftlichen Gruppen und ihren jeweiligen Möglichkeiten politischer Partizipation (so auf S. 43 zum Unwillen in der Bevölkerung gegenüber dem osmanischen Staatskult unter Sultan Abdülhamit II., auf S. 48 zur Rolle der Presse oder auf S. 60 zu Bildungschancen für Frauen). Zu bedauern ist hier die weitgehende Vernachlässigung der Tätigkeit der osmanischen Regierung.3 Nicht immer entgeht Pappe zudem der Gefahr, die Geschichte von ihrem Ende her zu lesen. So dominiert in seiner Darstellung der osmanischen Zeit das jüdisch-arabische Thema, selbst wenn aus der Perspektive der meisten Zeitgenossen wohl andere Probleme im Vordergrund gestanden haben.

Zum Abschluss dieses Teils weist Pappe zu Recht darauf hin, wie wenig die historische Zäsur von 1917/18 mit dem Ende der osmanischen Herrschaft und dem Beginn der britischen Mandatsherrschaft zunächst im Leben der ländlich geprägten Mehrheitsgesellschaft veränderte, doch gerät eben diese zuvor so eindrucksvoll porträtierte Gesellschaft in den folgenden Kapiteln zusehends aus dem Blick. Was folgt, ist über weite Strecken recht konventionelle Diplomatie, Kriegs- und Politikgeschichte. Statt „ent-nationalisierter“ Geschichte bekommt der Leser nun vor allem „bi-nationale“ Geschichte geboten, bei der die Betrachtung vom jüdischen zum arabischen Lager und zurück springt und direkte Interaktion nur selten deutlich wird. Eine eindrucksvolle Ausnahme hiervon bildet allerdings ein Exkurs zu den zahlreichen arabisch-jüdischen Geschäftspartnerschaften der Mandatszeit sowie zur palästinensischen Arbeiterbewegung, die über die Konfessions- und Sprachgrenzen hinweg bis in das Jahr 1947 hinein erfolgreiche Streiks zu organisieren vermochte (S. 109-116). Hier werden tatsächlich bislang unausgeschöpfte Potenziale für eine „alternative“ Geschichtsschreibung sichtbar.

Das Kapitel zum Krieg von 1948 fasst den aktuellen Forschungsstand zusammen und bietet einen guten Überblick zu diesem Schlüsseldatum, das die Geschichte des Nahen Ostens bis heute prägt. Die Darstellung der folgenden Jahrzehnte fällt leider nur noch recht skizzenhaft (und durchaus politik- und elitenlastig) aus. Gerade hier wäre aber der von Pappe programmatisch vertretene Ansatz der Gesellschaftsgeschichte geeignet gewesen, um nach wie vor verbreitete monolithische Bilder sowohl von der palästinensischen als auch von der israelischen Gesellschaft zu relativieren.

Ein weiterer Aspekt darf nicht verschwiegen werden, der das Buch leider zu einer teilweise regelrecht ärgerlichen Lektüre macht: die erschreckende Anhäufung von handwerklichen Fehlern. Namen von Personen und Orten sind oft so entstellt, dass sie fast nur für Eingeweihte zu entschlüsseln sind. „Kaucuc Kaynerge“ (S. xii) als Umschrift für den türkischen Ortsnamen Küçük Kaynarca wirkt unglücklich. Auch die Formulierung „The House of Ottoman“ (S. 46) scheint nicht gerade von einer vertieften Beschäftigung mit osmanischer Geschichte zu zeugen. Aber nicht nur osmanisch-türkische Termini sind betroffen, auch die Schreibung arabischer, hebräischer und anderer Begriffe ist oft erratisch (z.B. „A’ayan“ anstatt a’yan, S. 29; „Herzel“ für Herzl, S. 288; „Ahmad Qar’“ für Ahmad Qurai’ S. 267). Gravierender noch ist das Fehlen wichtiger Belege (so auf S. 28 zum Aufstand in Nablus 1858, auf S. 93 zur Idee des „Transfer“, auf S. 99 zum Shaw Report). Gänzlich unverständlich ist schließlich die Vielzahl fehlerhafter Jahresangaben. Einige davon sind als Flüchtigkeitsfehler zu entschuldigen, im Extremfall stellen sie aber Pappes Interpretationen bestimmter Ereignisse in Frage. Die Gründung Tel Avivs von 1909 auf 1907 vorzuverlegen (S. 54), ist sicherlich ein kleinerer Lapsus. Wenn es aber heißt, die in historischen Darstellungen bereits vieldiskutierten Nabi Musa-Unruhen im Jahr 1920 seien von Mitgliedern der militanten zionistischen Organisation Beitar provoziert worden (S. 83), so ist das schlicht unhaltbar, wurde die Organisation doch erst 1923 in Riga gegründet. Ebenso unhaltbar ist es, wenn Pappe davon spricht, Nordpalästina sei 1918 „in aller Stille“ unter britische Kontrolle gekommen – und dabei die Schlacht von Megiddo im September desselben Jahr unterschlägt (S. 72). Einen nicht unbeträchtlichen Teil der Schuld trifft hier den Verlag. Zwar macht sich in jüngerer Zeit auch bei Titeln anderer Verlagshäuser das Einsparen von Lektorenstellen negativ bemerkbar, doch geht in diesem Fall die Anzahl der Fehler erheblich über das übliche Maß hinaus.

Ilan Pappes Geschichte des modernen Palästina ist ein wichtiges Buch, das wertvolle Fragen stellt und wegweisend für weitere gesellschaftsgeschichtlich orientierte Arbeiten zum Nahen Osten insgesamt sein dürfte. Der Autor wird seinen eigenen Ansprüchen selbst aber nicht immer gerecht. Als einführende Studienlektüre ist die Darstellung aufgrund der angesprochenen Fehler überdies nur eingeschränkt zu empfehlen. Einer (prinzipiell wünschenswerten) Übersetzung ins Deutsche müsste eine gründliche Überarbeitung vorausgehen.

Anmerkungen:
1 Vgl. einführend zu “neuen Historikern” und “Postzionismus” in Israel: Schäfer, Barbara (Hg.), Historikerstreit in Israel. Die “neuen” Historiker zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit, Frankfurt am Main 2000.
2 Zu nennen wären unter den Veröffentlichungen jüngeren Datums v.a.: Kimmerling, Baruch, Migdal, Joel, The Palestinian People. A History, Cambridge 2003; zur Rolle Israels im Nahostkonflikt: Shlaim, Avi, The Iron Wall. Israel and the Arab World, London 2000; Pappes Darstellung kommt vom Ansatz her am nächsten: Krämer, Gudrun, Geschichte Israels, München 2002. Es gehört zu den nicht nachvollziehbaren Unterlassungen des Autors, gerade diesen Titel ignoriert zu haben. Sprachliche Hürden können nicht der Grund dafür gewesen sein, da Pappe auch einige deutsche Titel in seine Bibliografie aufgenommen hat.
3 Grundlegend (aber leider von Pappe nicht herangezogen) ist z.B.: Gerber, Haim, Ottoman Rule in Jerusalem 1890-1914, Berlin 1985 und neuerdings in türkischer Sprache: Avci, Yasemin, Degisim Sürecinde Bir Osmanli Kenti. Kudüs (1890-1914), Ankara 2004.

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