Gegen das Vergessen 3

Cover
Titel
Gegen das Vergessen 3 - Die große Flucht. Umsiedlung, Vertreibung und Integration der deutschen Bevölkerung


Herausgeber
N.N.
Erschienen
Anzahl Seiten
4 CD-ROMs
Preis
€ 69,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Fischer, Gewerbeschule Steinhauerdamm, Hamburg

Rund 20 Millionen Menschen waren Ende des Zweiten Weltkriegs auf der Flucht vor brutalisierten Armeen, rachedurstigen Nachbarvölkern und menschenverachtenden Bürokraten. Über die Hälfte davon waren Deutsche aus Osteuropa. Millionen Einzelschicksale hinterließen ihre Spuren in Nachkriegsressentiments und Erinnerungsbrüchen und nicht zuletzt auch in den Sphären von Politik und Kultur. Sechzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs besinnen sich die Deutschen wieder einmal verstärkt ihrer eigenen Opfer, angestoßen von Günter Grass’ Romannovelle „Im Krebsgang“ über den Untergang der „Wilhelm Gustloff“, Jörg Friedrichs Gesamtdarstellung über den alliierten Bombenkrieg und die fünfteilige ZDF-Dokumentation „Die große Flucht“ (alle 2002). Letztere ist nun zum Hauptbestandteil der vorliegenden Multimedia-Anwendung geworden. Das war eine gute Entscheidung, denn so wird das anrührende und erschütternde Filmmaterial zum einen ergänzt durch Quellentexte, Auszüge aus der Fachliteratur, Karten und Zeitleisten, zum anderen aufgewertet durch die Stärken des Computers: Interaktivität, Suchfunktion, Exportmöglichkeiten. Ohne diese mediale Integration hingegen wären Reflexion und Hintergrundinformationen vermutlich entschieden zu kurz gekommen.

Hauptbestandteil der umfangreichen Dokumentation ist der Ereigniskomplex Flucht und Vertreibung. Die ZDF-Filme, zerteilt in unterrichtsgerechte, durchschnittlich anderthalb Minuten lange Brocken, unterlegt mit digitaler Streichermusik, zeigen historische und aktuelle Filmaufnahmen und Fotos sowie Interviews mit Zeitzeugen und Überlebenden.

Drei geografische Schwerpunkte werden in Bild und Ton vorgestellt: Zunächst Ostpreußen, beginnend mit den Luftangriffen auf Königsberg im August und dem Massaker von Nemmersdorf im Oktober 1944, gefolgt von den Flüchtlingstrecks über das zugefrorene Frische Haff, attackiert von sowjetischen Panzern und Flugzeugen, und gipfelnd in der Versenkung der „Wilhelm Gustloff“ durch das sowjetische Uboot „S13“ am 30. Januar 1945, bei dem 7.000-8.000 Flüchtlinge umkommen. Zweitens Pommern und Schlesien, die Kämpfe um Swinemünde und Breslau, eingeschoben der alliierte Luftangriff auf Dresden am 13. Februar 1945, dann das Leid der Deutschen, die ermordet und vergewaltigt, zur Flucht getrieben oder in Gefängnisse, Lager oder gar nach Sibirien verschleppt werden. „Der härteste Winter seit Jahrzehnten“ fordert gerade auch unter den Kleinkindern etliche Opfer, die aus lauter Verzweiflung am Wegesrand liegengelassen und von den Nachfolgenden als „Puppen“ bezeichnet werden - ein besonders entsetzliches Kapitel. Drittens das Sudetenland, wobei hier ausführlich die Vorgeschichte zur Sprache kommt, vom deutschen Einmarsch 1938 bis zum Massaker von Lidice 1942. Auch hier werden mit dem Kriegsende die Deutschen vertrieben, misshandelt, verschleppt und ermordet, wobei die Rachegefühle der Tschechen nach der langen und brutalen Okkupationszeit nicht verschwiegen werden. Aber es gab auch die Vertreibung aus politischem Kalkül und aus purer Habgier.

Es folgen noch vier Interviews mit Zeitzeugen aus der jugoslawischen Batschka, dem rumänischen Banat und Siebenbürgen. Die genannten und alle weiteren Regionen, vom Baltikum bis zur slowakischen Zips, werden außerdem per kurzem Text, Karte und ab und zu einem Foto vorgestellt.

Das zweite Kernstück dieser CDs neben den Filmen ist der Volltext des Standardwerks zu dieser Thematik, die vom Vertriebenenministerium herausgegebene und von Theodor Schieder u.a. bearbeitete „Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa“ (Bonn 1954-61), zu finden im Abschnitt „Archiv“. Eingeleitet wird diese umfangreiche Materialsammlung aus Zeitzeugenberichten, Aktenstücken, Statistiken und zusammenfassenden Abschnitten durch einen forschungsgeschichtlichen Überblick von Bernd Faulenbach, erschienen im Dezember 2002 in „Aus Politik und Zeitgeschichte“. Auch wenn die historische Forschung viele Erkenntnisse der damaligen Arbeitsgruppe inzwischen korrigiert hat, handelt es sich weiterhin um die maßgebliche Quellensammlung für diese Problematik.

Ergänzt werden diese Materialien durch knappe historische Längsschnitte (Bevölkerungsvertreibungen vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, die deutsche Ostsiedlung vom Mittelalter bis ins frühe 20. Jahrhundert, eine Chronik der thematisch relevanten Ereignisse von 1938 bis 1948), Hintergrundinformationen (Berechnungsgrundlagen, Statistiken, vertiefende Auszüge aus der Fachliteratur), Begriffsdefinitionen („Volk/Nation/Staat“, „Heimatvertriebener/Aussiedler“) und Auszüge aus völkerrechtlichen Dokumenten, das „Recht auf Heimat“ und das Verbot von Vertreibungen betreffend.

Der andere Ereigniskomplex, der hier dargestellt wird, ist die Integration der Vertriebenen in die west- und ostdeutsche Gesellschaft. Abgesehen von einem Fachaufsatz zur Situation in der SBZ dominiert die bayerische Perspektive: Die Eingliederungsprobleme sowie die politische, wirtschaftliche und kulturelle Bedeutung der Vertriebenen in Westdeutschland beleuchten Ausschnitte aus einem Ausstellungskatalog des Hauses der Bayerischen Geschichte und aus einer Handreichung für Gymnasiallehrer. Ausführlich vorgestellt werden die von Heimatvertriebenen gegründeten Ortschaften Geretsried, Kaufbeuren-Neugablonz und Waldkraiburg. Zu Wort kommen weiterhin vier Zeitzeugen aus Ebersberg und die Preisträger eines Landes-Schülerwettbewerbs von 2002/03 („Wie aus unerwünschten Flüchtlingen nach 1946 ‚Aufbau-Helfer’ der Gemeinde Königsbrunn wurden“). Am Anfang - so die wiederholte Erzählung - herrschten stets Misstrauen der Einheimischen, soziale Not, Arbeitslosigkeit und Wohnungsknappheit vor, doch durch disziplinierte Arbeit, wirtschaftlichen Wiederaufschwung sowie staatliche und kirchliche Hilfen gelang in den folgenden Jahren eine weitgehende Integration. Gewürdigt wird insbesondere die Leistung der Vertriebenenverbände, die „den Heimatgedanken wach“ hielten, die Rechte und Forderungen der Vertriebenen artikulierten und gerade nach 1989/90 „Brücken zur alten Heimat“ schlugen. Dass die Vertriebenenverbände bis zur Gegenwart eine sehr zwiespältige politische Rolle spielen, wird nicht gesagt.

Spätestens an dieser Stelle fällt auf, dass der Bund der Vertriebenen, der die Produktion dieser Dokumentation stark unterstützt hat, an keiner Stelle im Impressum Erwähnung findet. Auch andere Details stimmen bedenklich: Heinz Nawratils sehr problematisches „Schwarzbuch der Vertreibung“, seit 1982 in mehreren Auflagen bei Universitas erschienen, dient durchgängig als sachliche Basis vieler Berechnungen und Erläuterungen. Und in den Überschriften von Kapiteln und Filmchen ist immer wieder von „den Russen“ sowie „russischen“ Soldaten, Panzern und Truppen die Rede, auch wenn es in den Filmen stets korrekt „sowjetisch“ heißt. Kleinigkeiten?

Zur Software: Programmiert mit Macromedia Director, sind größere Personalisierungsmöglichkeiten wie z.B. Lesezeichen oder die Speicherung komplexerer Suchvorgänge ohnehin kaum zu erwarten. Man kann Screenshots und Texte ausdrucken oder exportieren. Die Volltextsuchfunktion erlaubt die Eingabe mehrerer Worte oder Wortbestandteile, die per „und“ oder „oder“ verknüpft werden können. Nicht durchsucht werden die Multimedia-Bereiche, hier wäre wenigstens eine grobe Verschlagwortung der genannten Ortsnamen angemessen gewesen.

Fazit: Abgesehen von den genannten „Kleinigkeiten“ handelt es sich bei der vorliegenden Dokumentation um eine gelungene Synthese aus Informationstexten und Multimedia-Elementen, nüchtern in der Aufmachung, aber informativ und erschütternd in der Sache. Das Thema „Integration“ hätte vielleicht ausführlicher ausfallen sollen, das Thema „Flucht und Vertreibung“ wird hingegen umfassend aufbereitet. Die komplette Digitalisierung des Schieder-Werkes und die Integration von rund vier Stunden Film entschädigen für vereinzelte Mängel.

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