R. Stöber: Mediengeschichte: Die Evolution "neuer" Medien

: Mediengeschichte. Die Evolution "neuer" Medien von Gutenberg bis Gates. Eine kommunikationswissenschaftliche Einführung. Band 1: Presse - Telekommunikation. Wiesbaden 2003 : Westdeutscher Verlag, GWV Fachverlage, ISBN 3-531-14038-8 238 S. € 19,90

: Mediengeschichte. Die Evolution "neuer" Medien von Gutenberg bis Gates. Eine kommunikationswissenschaftliche Einführung. Band 2: Film - Rundfunk - Multimedia. Wiesbaden 2003 : Westdeutscher Verlag, GWV Fachverlage, ISBN 3-531-14047-7 283 S. € 22,90

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Werner Faulstich, Institut für Angewandte Medienforschung, Universität Lüneburg

Der hier in zwei Bänden vorgelegte Versuch einer umfassenden Darstellung der Mediengeschichte betritt kein Neuland. Frühere Ansätze, teils ebenfalls mehrbändig, stammen von Werner Faulstich (ab 1996), Manfred Faßler/Wulf R. Halbach (1998), Joachim-Felix Leonhardt/Hans-Werner Ludwig/Dietrich Schwarze/Erich Straßner (ab 1999), Jürgen Wilke (2000), Jochen Hörisch (2001), Dieter Prokop (2001) und Helmut Schanze (2001).1 Sie bleiben hier kurioserweise allesamt entweder unerwähnt oder werden einleitend gleich ausgegrenzt (nur Wilke wird selektiv zitiert).

In einer 34-seitigen Einleitung werden zunächst abgehandelt: "Neue Medien", "Mediengeschichte" und "Theorien". Dabei handelt es sich um folgenreiche und hochproblematische Positionsbestimmungen.

Ad 1: "Die Medienauswahl orientiert sich am Kanon der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft", ergänzt um Telefon und "Multimedia" (S. 11). Das heißt: Der Medienbegriff ist weitestgehend unreflektiert. Da erscheinen etwa "Presse" und "Rundfunk" als Medien, andererseits werden Medien wie Buch, Plakat, Brief, Schallplatte oder Video de facto einfach weggelassen. Dass die Medien vor Gutenberg ebenfalls unterschlagen werden, soll offenbar schlicht durch das Adjektiv "neu" gerechtfertigt werden. Wieso dieser fragwürdige Medienbegriff, wo doch seit über dreißig Jahren die etablierte Disziplin Medienwissenschaft Generationen von Studierenden vermittelt, dass "Presse" kein Medium ist (sondern Zeitung und Zeitschrift), dass auch das Buch als ein Medium aufzufassen ist und dass natürlich auch im Mittelalter und in der Antike Medien existierten, die zentrale Kommunikationsleistungen wahrgenommen haben.

Ad 2: Fachliche Scheuklappen zeigen sich auch im Hinblick auf die Geschichtswissenschaft. "Nur die Methode der dichten Beschreibung ist imstande zu generalisieren." "Jede Zeit kann nur aus sich selbst heraus verstanden werden." (S. 20) Prämissen wie diese verraten bestürzende Defizite in der Kenntnis historiografischer Methoden. Ist das im Zeitalter einer programmatischen Interdisziplinarität noch erträglich?

Ad 3: Genutzt werden sollen "in Analogie" "die Evolutionstheorie" (aus der Biologie!) und "die Diffusionstheorie" (mit dem Dreiphasenkonzept "Invention, Innovation und Diffusion"), um "den medialen Wandel verständlicher werden (zu-)lassen" (S. 39). Im Grunde geht es hier freilich vor allem um die Abwehr der Systemtheorie - obwohl andererseits die Medien selbst doch als "Systeme" definiert wurden (S. 10). Bezeichnenderweise spielen die Schemakategorien auf den folgenden 400 Seiten keine Rolle mehr und es bleibt natürlich auch offen, warum etwa das heutige Fernsehen - im Sinne von "Evolution" - ein höherwertiges Medium sein soll als die frühere Zeitung.

Band 1 bietet zwei große Blöcke: "Presse: die schwarze Kunst" (ca. 110 S.) und "Telekommunikation: das erste weltumspannende Großsystem" (ca. 70 S.). Noch am ehesten akzeptabel sind die Ausführungen zur Presse, bei der Zeitung und Zeitschrift als "Subkategorien" (S. 43) erscheinen (?). Das mag daran liegen, dass sich Rudolf Stöber bereits mehrfach als ausgezeichneter Kenner der deutschen Pressegeschichte bekannt gemacht hat. Ausgehend von einer Begriffs- und Vorgeschichte wird rasch der Bogen gezogen vom 15. Jahrhundert bis ins Jahr 2000, allerdings stark selektiv und unter Nutzung der eigenen Vorarbeiten.

Behandelt werden u.a. die Verdichtung des Zeitungssystems, die Zensurproblematik, die Entwicklung von Zeitungstypen, die Ausdifferenzierung in Ressorts und vereinzelt ökonomische Gesichtspunkte. Ganz entscheidende Aspekte werden in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung aber total unterschlagen, zum Beispiel: Aus welchen Vorläufermedien hat sich die "Zeitung" im 17. Jahrhundert überhaupt erst neu gebildet? Worin genau bestanden die Funktionen der "Zeitschrift" für die Herausbildung einer bürgerlichen Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert? Oder welche Umwälzungen innerhalb der "Presse" vollzogen sich in der Konkurrenz zu den elektronischen Medien im 20. Jahrhundert? Mit solchen gravierenden Lücken wird weit hinter den Erkenntnisstand zurückgegangen, der etwa in der einleitend erwähnten medienhistorischen Literatur ausgebreitet wurde.

Sehr viel knapper, noch sehr viel selektiver und entsprechend problematischer werden sodann Entstehung und Ausbreitung der "Telekommunikation" behandelt: Telegraf, Telefon (bis hin zum Mobiltelefon), Nachrichtenagenturen, aber ohne Fernsehen und World Wide Web, die gesondert thematisiert werden.

Band 2 ist in vier Hauptteile gegliedert: erstens "Film: die Magie der Bilder" (ca. 60 S.), zweitens "Rundfunk: das Fenster zur Welt" (ca. 80 S.), drittens "Computer und Internet: multimediale Neuerungen" (ca. 50 S.) und schließlich "Zusammenfassende und weiterführende Betrachtungen" (ca. 60 S.). Was für Band 1 bereits gesagt wurde, gilt überwiegend auch hier: eine starke Orientierung an veralteten kommunikationswissenschaftlichen Konventionen und Perspektiven; eine provokative Fachimmanenz; eine teils schwer erträgliche, arbiträr wirkende Selektion von Aspekten; das Ausklammern vieler medienhistorisch zentraler Befunde und Einsichten; eine faktografische, teils willkürliche und in der Regel einzelmedienimmanente Chronologie, die vieles beschreibt und nur wenig erklärt.

Das Kapitel über den Film will die Begriffsgeschichte erläutern, den modernen Film aus den älteren optischen Medien herleiten, die technischen Voraussetzungen des modernen Films und seine Weiterentwicklungen schildern und quantitativ-statistische Veränderungen beschreiben (S. 9). Das geschieht bestenfalls punktuell zutreffend und zudem mit großen Sprüngen, zum Beispiel von den technischen Voraussetzungen im 19. Jahrhundert zu Produktion und Markt ab dem 1. Weltkrieg und dann gleich zur Filmfinanzierung seit 1980. Für den Schritt "vom Stummfilm zum digitalen Vertrieb" werden nur wenige Seiten aufgewendet (S. 29ff.). Besondere Aufmerksamkeit wird stattdessen, ohne jegliche Begründung, den "Voraussetzungen und Faktoren des Filmerfolgs" und "gesellschaftlichen und politischen Reaktionen" gewidmet. Was in der medienhistorischen Darstellung komplett fehlt, ist all das, was den Film zum Film macht und Filmgeschichte zur Mediengeschichte: Filmproduktion und Filmstudios, Regisseure und Filmschauspieler, Kino- und Zuschauerentwicklung, Filmtheorie und Filmpolitik, vor allem Filmästhetik und die Filme selbst. Das Medium Film - selbst wenn man Dokumentarfilme, Werbefilme, Wissenschaftsfilme, Bildungsfilme, Kinderfilme oder Trickfilme ausklammert und sich nur auf den Film als den narrativen Kino-Spielfilm konzentriert - ist im Kern Produktgeschichte. Jedem Kenner der Filmgeschichte muss die Darstellung von Rudolf Stöber, die sich in vereinzelten Aspekten von Technik, Produktion und Distribution erschöpft, als unzureichend erscheinen, und bei jedem studentischen Laien besteht die Gefahr, dass er in die Irre geführt wird. Dass auch von den gerade für dieses Medium typischen nationalen Besonderheiten an keiner Stelle die Rede ist, kann nicht verwundern, wenn nicht einmal das Wort "Hollywood" Eingang ins Register gefunden hat.

Das gleiche gilt tendenziell auch für den Abschnitt über "Rundfunk" und "Computer und Internet": ein bisschen Technik, ein bisschen Markt, hier allerdings immerhin "nationale Rundfunkpolitiken" und nationalspezifische Verbreitung von Computern, einige Zahlen und Tabellen, wieder das besondere Augenmerk auf dem "Rundfunkerfolg" bzw. dem "Multimediaerfolg". Erneut fehlt alles, was die Radiogeschichte und die Fernsehgeschichte im Kern ausmacht, insbesondere die Programmgeschichte. Das Literaturverzeichnis enthält nicht einmal die "Geschichte des deutschen Fernsehens" von Knut Hickethier, die mit gutem Grund längst zum Standardwerk avanciert ist und heute als gelungenes Beispiel für eine Mediengeschichte als umfassende Systemgeschichte gilt.2 Charakteristisch vielmehr wieder die Vermischung von PC, Internet, Multimedia, wobei dann aber E-mail, Intranet/Extranet oder Chat nicht einmal erwähnt werden.

Es bleibt zum Schluss die Zusammenfassung, bei der die Evolutions- und Diffusionstheorie aus der Einleitung wieder hervorgezogen werden. Die Befunde zur "Mediengeschichte", nun überraschend als Aspekt der allgemeineren Kulturgeschichte" charakterisiert (S. 207), sind ebenso verblüffend wie unglaubhaft: Medienentwicklung gilt erstens als "zirkulärer Prozess" und kann zweitens in drei Phasen (Invention, Innovation und Diffusion) mit einem vergleichbaren Lebenszyklus eingeteilt werden. Rudolf Stöber formuliert, keineswegs selbstironisch gemeint: "Ohne Zweifel sind die Geschichte und das Leben voller überraschender Wendungen." (S. 207) Auch wie sich Zirkularität zur Evolution verhält, wird nicht ganz verständlich; vielleicht deshalb spricht er auch nur noch vom "quasi-evolutionstheoretischen Modell". Und es wird eingestanden: "Die Evolutionstheorie erklärt [...] nicht alles." (S. 222) Das gebiert Thesen wie zum Beispiel: "Kein Medium hätte sich auf Dauer etablieren können, wenn sich mit ihm nicht hätte Geld verdienen lassen." (S. 218). Das Phasenmodell, in das die 400 Seiten Mediengeschichte gepresst werden, führt mit Blick auf die Medienwirkungen zu Einsichten wie: "So werden die Medien mit zunehmender Selbstverständlichkeit zu einer nicht mehr reflektierten Grundlage der Gesellschaft." (S. 256) Oder: "Medien fordern mit ihrer Existenz die Kontrolle durch Politik und Gesellschaft heraus." (S. 261)

Einleitend schreibt Rudolf Stöber: "Die Leser sind aufgefordert, sich auf dieses Buch einzulassen." Ich kann dazu leider nicht raten.

Anmerkungen:
1 Faulstich, Werner, Die Geschichte der Medien, bisher 4 Bde., 1996ff.; Faßler, Manfred; Halbach, Wulf R. (Hgg.), Geschichte der Medien, München 1998; Leonhard, Joachim-Felix; Ludwig, Hans-Werner; Schwarze, Dietrich; Straßner, Erich (Hgg.), Medienwissenschaft. Ein Handbuch zur Entwicklung der Medien und Kommunikationsformen, Berlin 1999ff.; Wilke, Jürgen, Grundzüge der Medien- und Kommunikationsgeschichte. Von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert, Köln 2000; Hörisch, Jochen, Der Sinn und Die Sinne. Eine Geschichte der Medien, Frankfurt am Main 2001; Prokop, Dieter, Der Kampf um die Medien. Das Geschichtsbuch der neuen kritischen Medienforschung, Hamburg 2001; Schanze, Helmut (Hg.), Handbuch der Mediengeschichte, Stuttgart 2001.
2 Hickethier, Knut, Geschichte des deutschen Fernsehens, unter Mitarbeit von Peter Hoff, Stuttgart 1998.

Kommentare

Re: R.Stöber: Mediengeschichte: Die Evolution "neuer" Medien von Gutenberg bis Gates

Von Stöber, Rudolf15.07.2004

Nun hat Werner Faulstich endlich Gelegenheit gefunden, an renommierter Stelle meine deutliche Besprechung der ersten drei Bände seiner „Geschichte der Medien“ zu beantworten. 1 Wenngleich die Rezension nicht grundlos erfolgte, ist sie doch inhaltlich unbegründet. Darum seien einige Anmerkungen erlaubt:

I.

Dass Werner Faulstich sich mit dem von mir in Anlehnung an Niklas Luhmann, Harry Pross, Jürgen Gerhards und Friedhelm Neidhardt gewählten Medienbegriff nicht anfreunden kann, will ich akzeptieren, sofern ich nicht den von ihm favorisierten Begriff des „Menschmediums“ („Am Anfang war die Vulva“) 2 übernehmen muss.

Wenn Faulstich der „Mediengeschichte“ vorhält, „Hollywood“ fehle im Register, so müsste ergänzt werden, dass z.B. auch Mainz (für Presse) oder Genf (für WWW) nicht auftauchen. Das Werk hat nämlich überhaupt kein Ortsregister. Sollte er andeuten wollen, „Hollywood“ – als Chiffre für den amerikanischen Film – sei nicht behandelt worden, so ist dies eine grobe Entstellung: Unter ökonomischen, rechtlichen und künstlerisch-filmischen Gesichtspunkten spielt die Darstellung des Universums „Hollywood“ eine zentrale Rolle.

Die Unterstellung, die von mir hochgeschätzten Kollegen Jürgen Wilke und Knut Hickethier nicht angemessen berücksichtigt zu haben, ist unrichtig. Die „Mediengeschichte“ bezieht sich an mehreren Dutzend Stellen auf sie. Dagegen ist der Anmerkung, Fernsehen sei kein „höherwertiges“ Medium als die serielle und quasiserielle Presse, durchaus zuzustimmen. Allerdings wird die Ambivalenz des Fortschrittsbegriffs thematisiert und ein anderer Vergleich gewählt. 3 Insofern trifft auch dieser Vorwurf nicht.

Weitere Kritik Werner Faulstichs (es fehlten die Vorgänger der seriellen Zeitung, die funktionale Bedeutung der Presse für den Wandel der Öffentlichkeit, Statistiken zur Filmentwicklung, Produktionsbedingungen des Kinos, die Programmgeschichte des Rundfunks, die Behandlung von Email und Chats etc. pp.) überlasse ich der Bewertung der Leserschaft.

II.

Notwendig ist hingegen noch eine Bemerkung zum theoretischen Rahmen: Die „Mediengeschichte“ ist eine komparatistisch angelegte Studie zur gesellschaftlichen Institutionalisierung neuer Kommunikationsmöglichkeiten. Aus pragmatischen Gesichtspunkten beschränkt sie sich auf die Neuzeit, mithin auf die sekundären oder tertiären Medien. Um die Interpretation zu strukturieren wurde zu einer Kombination von Innovations- und Evolutionstheorie gegriffen. Dabei steht die „Evolutionstheorie“ als Chiffre für einen ergebnisoffenen historischen Prozess, dessen Entwicklung nur ex post zu verstehen ist. „Innovationstheorie“ steht für rational erklärbare Faktoren der Durchsetzung und gesellschaftlichen Institutionalisierung neuer Medien. Darum werden die Voraussetzungen und Faktoren der Durchsetzung von der Presse bis hin zu Multimedia durchdekliniert. Damit wäre auch Werner Faulstichs Monitum aufgeklärt, in der „Mediengeschichte“ seien „ohne jegliche Begründung“ die Durchsetzungsvoraussetzungen der Medien behandelt.

Die Evolution der Medien enthält zufällige Momente und bringt emergente Phänomene hervor. Endogene und exogene Faktoren erzeugen ein komplexes System sozialer Kommunikation. Neue Medien entstanden in einem Wechselspiel zwischen technischen Innovationen, ökonomischen Erfordernissen und gesellschaftlichen Bedürfnissen. Aus neuen technischen Optionen wurden erst dann neue Medien, wenn sowohl neue Geschäftsmodelle deutlich als auch die gesellschaftlichen Funktionszuweisungen erkennbar wurden.

Ohne gesellschaftliche Funktionszuweisung, Formatierung oder Institutionalisierung der Inventionen hätten neue technische Optionen die älteren Medien nur im Rahmen ihrer bisherigen Verwendung verbessert: Die Erfindung Gutenbergs wäre das ideale Buchkopistenwerkzeug gewesen, die elektrische Telegrafie die Verbesserung des staatlichen Informationssystems der optischen Telegrafie, die bewegten Lichtbilder ein weiteres Jahrmarktvergnügen, die drahtlose wäre die Verbesserung der leitungsgebundenen Telegrafie (one to one) gewesen. Die Funktion des Fernsehens hätte sich im Bildtelefon erschöpft, das Internet wäre ein Rechnerverbund zu Timesharing-Zwecken geblieben.

Erst mit den neuen kommunikativen Funktionen, welche die Gesellschaft in den Optionen entdeckte, wurden die neuen Medien zu qualitativ Neuem. Es entstanden die periodische Presse, Nachrichtenagenturen, Spiel- und Dokumentarfilm, Hörfunk, Fernsehen und Multimedia. Die Innovationen hatte kaum jemand imaginiert, aber obwohl oder auch weil niemand darauf gewartet hatte, wurden die neuen Medien zu überragenden Erfolgen. Ein solcher Funktionswandel taucht analog in der Bio-Evolution auf.

Bei der Abwägung von Für und Wider, Nutzen und Grenzen der Theorie überwiegt also der Nutzen einer Kombination von Evolutions- und Innovationstheorie. In Kombination mit der „rational choice“-Theorie Schumpeters zur Innovation ökonomischer und kultureller Neuerungen trägt die stochastische, nicht intentionale Steuerung, wie sie die Evolutionstheorie beschreibt, Erhellendes zur Ausdifferenzierung der Mediensysteme in Neuzeit und Moderne bei. Den Nutzen haben auch schon andere Wissenschaften erkannt wie z.B. die wirtschaftswissenschaftliche, auf Schumpeter zurückgehende Teildisziplin „Evolutionsökonomie“ und die Existenz eines „Journal of Evolutionary Economics“ hinlänglich belegen.

Darüber hinaus sei betont, dass die Evolutionstheorie per se eine historisch argumentierende Theorie ist – auch erkenntnistheoretisch: Schon Charles Darwin reflektierte in seiner „Entstehung der Arten“ ausführlich (in Kap. 10) darüber, ob und wie die Zufälle der Überlieferung die Interpretation lenken und im Extremfall selbst interpretatorische Artefakte schaffen. Ohne auf Darwin zu verweisen kam der Historiker Arnold Esch vor beinahe 20 Jahren zu ähnlichen Schlussfolgerungen. 4

Darwins und Eschs Argumentation zielen auf das Gleiche: Werden nur (in rein positivistischer Manier) die überlieferten Quellen in die historische Interpretation einbezogen, sind Fehlurteile zwangsläufig. Dabei ist ein Zuviel an Rankeschem Positivismus ebenso schädlich wie eine Geschichtsschreibung ohne Berücksichtigung der Quellen. Historiker versuchen, die Lücken der historischen Überlieferung zu interpolieren, Evolutionsbiologen suchen nach den „missing links“. Die Analogie wird jedoch nur jenen einleuchten können, die bei ihrer (Medien-) Geschichtsschreibung auch Akten, andere Überreste und Traditionsquellen berücksichtigen und nicht nur Vorveröffentlichungen zusammenfassen.

Rudolf Stöber, Lehrstuhl für Kommunikationswissenschaft an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg

Anmerkungen

1 Vgl. Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte, 2. Jg. (2000), S. 231-233.
2 Vgl. Werner Faulstich, Geschichte der Medien, Bd. 1, Göttingen 1997, S. 35.
3 Vgl. Rudolf Stöber, Mediengeschichte. Die Evolution "neuer" Medien von Gutenberg bis Gates. Eine kommunikationswissenschaftliche Einführung. Band 1: Presse – Telekommunikation. Wiesbaden 2003, S. 36-39.
4 Charles Darwin, Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl. Übersetzung von Carl W. Neumann (basierend auf der 6. Aufl. von 1872). Hamburg: 2004, S. 428-467. Esch, Arnold: Überlieferungschance und Überlieferungszufall als methodisches Problem des Historikers. In: Historische Zeitschrift, 240. Bd. (1985), S. 529-570.


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