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Titel
Kanzlerdemokratie. Regierungsführung von Konrad Adenauer bis Gerhard Schröder


Autor(en)
Niclauß, Karlheinz
Reihe
UTB 2432
Erschienen
Paderborn 2004: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
414 S.
Preis
€ 16,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Beatrix Bouvier, Karl-Marx-Haus, Trier

Niclauß’ Arbeit über die Kanzlerdemokratie ist die aktualisierte Version der gleichnamigen politologischen Untersuchung aus dem Jahre 1988. Nach wie vor beginnend mit der Kanzlerschaft Adenauers 1949, ist sie nicht nur um die Analyse der Regierungsführung Helmut Kohls ergänzt, sondern enthält auch bereits ein Kapitel über die Kanzlerdemokratie Gerhard Schröders. Angesichts der Fülle von seither erschienenen politikwissenschaftlichen und zeitgeschichtlichen Arbeiten zur Bundesrepublik und einzelnen Kanzlerschaften konnte es nicht allein darum gehen, das Bisherige fortzuschreiben. Vielmehr handelt es sich um eine gründliche Überarbeitung unter besonderer Berücksichtigung von systematischen Aspekten des Regierungstyps „Kanzlerdemokratie“. Einem solchen Anspruch wird das Buch, das schließlich dem Studium dienen soll, gerecht.

Die Entwicklung von systematischen Fragestellungen und entsprechenden Analysen ist umso wichtiger, als der Beobachtung von Niclauß zuzustimmen ist, dass seit den späten 1980er-Jahren eine äußerst kurzfristige Wahrnehmung von Politik üblich geworden ist. Gleichwohl ist die Welt der Medien nicht die ganze Welt des Politischen, weil sie Kontinuitäten und langfristige Entwicklungen allenfalls am Rande berücksichtigt. Zu derartigen Konstanten gehört auch die Art und Weise der Regierungsführung (englisch „leadership“). Voraussetzung für die Untersuchung von „political leadership“ ist die Annahme, dass führende Politiker einen Einfluss auf die gesellschaftliche Entwicklung ausüben. Gegenstand entsprechender Studien sind aber nicht nur die Persönlichkeiten der Politiker, sondern vor allem die Institutionen und Instrumente ihrer Machtausübung sowie ihre politische Umgebung.

Schon die Begriffsbildung und -wahl macht deutlich, dass eine solche Untersuchung der Regierungsführung in Deutschland nicht ohne den Vergleich mit anderen Demokratien auskommt. Zum Verständnis des Buches und seiner Fragestellung ist es zudem wichtig – gerade für Studierende –, einen Rückblick in die deutsche Geschichte zu unternehmen, um die Amtsbezeichnung „Kanzler“ von dem lateinischen Ursprung bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zu erläutern. In diesen Kontext gehört auch der Hinweis, dass der Begriff „Kanzlerdemokratie“ bereits zu Beginn der 1950er-Jahre zur Charakterisierung der Bonner Regierungstätigkeit unter der Führung Konrad Adenauers diente. Er bezeichnet die frühe Effektivität und Stabilität der Bonner Regierung sowie das damals neue Selbstbewusstsein der Bonner Republik, das sich zunächst aus dem Vergleich mit der instabilen Weimarer Republik ergab.

Die Studie versteht sich als eine Strukturanalyse, womit sich Niclauß gegen die gegenwärtige Tendenz stellt, dass die Beschäftigung mit politischen Strukturen nicht besonders hoch im Kurs steht. Zusammengefasst verläuft die Analyse nach folgendem Plan: Zunächst wird die Regierungspraxis Konrad Adenauers geschildert, da sie für die Entstehung der Kanzlerdemokratie eine entscheidende Rolle spielte. Soweit Entscheidungsabläufe und Regierungsorganisation nicht durch das Grundgesetz vorgegeben waren, konnte Adenauer sie – begünstigt durch die Anfangssituation – nach seinen Vorstellungen formen. Anders als die etablierte Adenauerforschung lässt es Niclauß nicht mit entsprechenden Bemerkungen bewenden. Er systematisiert vielmehr Adenauers Regierungsführung und entwickelt fünf typische Merkmale der „Kanzlerdemokratie“: 1. Durchsetzung des Kanzlerprinzips, 2. Führungsrolle in der Partei, 3. Gegensatz zwischen Regierung und Opposition, 4. Einmischung in die Außenpolitik, 5. Medienpräsenz. Diese wiederum dienen dann als Kriterien für die Beurteilung der Amtsführung der sechs Kanzler, die bisher auf Adenauer folgten. Die Regierungsführung der Nachfolger soll keineswegs an der Politik Adenauers gemessen werden. Der Vergleich will vielmehr an die angelsächsischen Leadership-Studien anschließen und klären, wie der jeweilige Bundeskanzler ins Amt kommt, mit welchen Mitteln er seine Position an der Spitze der Regierung verteidigt, wo die Unterstützung für seine Regierungsführung zu suchen ist und welche Faktoren schließlich seine Amtszeit beendeten.

So werden die Kanzlerschaften der Nachfolger Konrad Adenauers durchdekliniert. Abschließend wird mit der Latte der fünf Merkmale eine vorläufige Bilanz der Kanzlerschaft Gerhard Schröders gewagt: Danach gelang dem Bundeskanzler Schröder die Durchsetzung des Kanzlerprinzips (erstes Merkmal) schneller als seinem Vorgänger, wenn man von Kohls geschickter Koalitionsbildung und seiner zielstrebigen Bundestagsauflösung im Jahr 1983 absieht. Hinter die Führungsrolle Schröders in der SPD (zweites Merkmal) setzt Niclauß für die Anfangszeit ein Fragezeichen. Der Rücktritt vom Amt des SPD-Vorsitzenden zugunsten von Franz Müntefering ist in der Untersuchung nicht mehr berücksichtigt. Nach Beendigung der Rivalität der beiden sozialdemokratischen Spitzenpolitiker, d.h. nach dem Rücktritt Lafontaines, habe Schröder seine Position an der Spitze der SPD festigen können. Dem stand (oder steht) der Zustand der SPD entgegen, die als „stillgelegte Partei“ (Franz Walter) beschrieben wird. Eine Weiterentwicklung der Programmatik gibt es bislang nicht, und eine Neudefinition der Werte Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität fand nicht statt. Fraglich bleibt nach dieser Sicht, ob die Arbeit des Kanzlers durch die „Entideologisierung“ der SPD, d.h. durch den Verzicht auf Programmatik, erleichtert wird. Denn ein solcher Verzicht macht die Regierung gegenüber organisierten Interessen wehrlos. Problematisch bleibt weiterhin, dass die Maßnahmen im Bereich des Sozial- und Steuersystems von den sozialdemokratischen Mitgliedern nicht als in die Zukunft gerichtete Reformen, sondern als Reduktion des Sozialstaates empfunden werden.

Der Gegensatz zwischen Regierungslager und Opposition als drittes Merkmal der Kanzlerdemokratie habe in der bisherigen Regierungszeit Schröders nur gelegentlich die politische Auseinandersetzung bestimmt. Die Gründe hierfür werden in der Ausrichtung der Wirtschafts- und Sozialpolitik der rot-grünen Koalition nach dem Ausscheiden Lafontaines gesehen. In der Außen- und Sicherheitspolitik habe es anfangs kaum Differenzen zwischen Regierung und Opposition gegeben. Entscheidend sei jedoch die Verschiebung der Stimmenverhältnisse im Bundesrat nach der hessischen Landtagswahl von 1999 gewesen, weil die Regierung danach auf die Stimmen von Landesregierungen angewiesen gewesen sei, in denen die CDU mitregierte. Besonders leicht fiel die Antwort im Hinblick auf das vierte Merkmal der Kanzlerdemokratie, das sich auf das außenpolitische Handeln des Kanzlers bezieht. Trotz der unbestrittenen Popularität von Außenminister Fischer ist Schröders Engagement in der Außenpolitik unübersehbar. Als Stichwort für eigenes Agieren in der Außenpolitik sei lediglich seine Politik im Hinblick auf die militärische Intervention im Irak angeführt.

Als letztes und fünftes Merkmal der Kanzlerdemokratie gelten die Personalisierungstendenzen in der politischen Auseinandersetzung bzw. die davon nicht zu trennende Frage nach der Präsenz des Kanzlers in den Medien. Beides war und ist bei Schröder nicht zu übersehen. In diesen Kontext gehört auch eine gewisse Distanz zur eigenen Partei, um damit für den nicht-parteigebundenen Wähler attraktiv zu werden. Andere Beispiele untermauern dies. Und es wird die bei jeder Wahl neu aufgeworfene Frage gestellt, inwieweit die Person des Kanzlers tatsächlich wahlentscheidend war und ist. Eine genaue Messung erscheint nicht möglich, weil sich bei entsprechenden Wählerbefragungen die Befragten über ihre Motive nicht immer im Klaren sind. Differenziert wird die Wahlentscheidung dabei nach drei Faktoren: langfristige Parteibindungen, Einstellung zu politischen Sachfragen und Bewertung des Kandidaten. Auch wenn die Faktoren ineinandergreifen, so ist doch längst deutlich geworden, dass Wahlentscheidungen aufgrund von langfristigen Parteibindungen abnehmen.

Abschließend versucht Niclauß eine Bewertung des Regierungstypus „Kanzlerdemokratie“, wobei er erwartungsgemäß Ambivalenzen herausstellt. Dennoch beurteilt er die Kanzlerdemokratie insgesamt positiv, auch im Hinblick auf die unbestreitbare Personalisierung von Politik – nicht nur weil diese den Erwartungen und Bedürfnissen der Wähler entspreche, sondern weil in ihr auch ein tieferer Sinn gesehen werden könne. Nicht mehr Machtstreben der Politiker oder eine oberflächliche Erwartungshaltung seien tiefere Ursachen der Personalisierung, sondern die dahinter liegenden Erwartungen der Bürger, die angesichts der komplizierten Sachprobleme in modernen Gesellschaften einer konkreten Vereinfachung und damit der „leadership“ bedürften.

Niclauß’ politologische Untersuchung ist von der Anlage her eine trockene Lektüre, aber solche Strukturanalysen bleiben dennoch unersetzlich. Ob eine wissenschaftliche Arbeit dem Amtsinhaber und seinen Nachfolgern von Nutzen sein wird, weil sie hilft, für einzelne Entscheidungssituationen und für eine Vorausplanung von Politik historische Erfahrungen parat zu halten, mag dahingestellt bleiben.

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