J. Baten: Ernährung und wirtschaftliche Entwicklung in Bayern

Titel
Ernährung und wirtschaftliche Entwicklung in Bayern (1730 - 1880).


Autor(en)
Baten, Jörg
Erschienen
Stuttgart 1999: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
217 S., 42 Abb., 40 Tab., 12 Ktn.
Preis
€ 40,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Prof. Dr. Andreas Bodenstedt, Institut für Agrarsoziologie und Beratungswesen, Justus-Liebig-Universität Giessen

Die Ernährung des Menschen ist zweifellos ein Lebensbereich - und zwar ein problematischer, der mit seiner Entwicklungsgeschichte aufs engste verbunden ist und diese aufs selbstverständlichste bestimmt hat. Um so erstaunlicher ist es, dass sich eine eigene "Ernährungswissenschaft" erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts herausgebildet hat. Und auch diese hat derzeit noch Mühe, ihr disziplinäres Selbstbild im Wettbewerb von naturwissenschaftlicher und geistes- (kultur-, sozial-)wissenschaftlicher Betrachtungsweise einzurichten .

Daher gibt es zum Thema Ernährung eine nahezu unübersehbare Bandbreite von Beiträgen aus sehr unterschiedlichen Disziplinen, auch kulturwissenschaftlichen - darunter auch von den Geschichtswissenschaften. Aber wir verfügen über kein Standardwerk, das umfassend imstande ist, die spannende Frage zu beantworten: ""Ist der Mensch, was er isst?" Oder unter einem anderen Blickwinkel: "Warum isst der Mensch, was er isst?" Oder noch ein anderer Gesichtspunkt: "Welche Folgen hat das, was er isst?"

Jörg Baten urteilt nach eigenem Bekunden "etwas überspitzt", wenn er feststellt, dass die Wirtschaftsgeschichte oft einfach mit Industriegeschichte gleichgesetzt und die Ernährung daher entweder der Sparte der Diätratgeber oder der entwicklungsökonomischen Literatur zugeordnet werde. Jedenfalls nimmt er in seinem Buch "Ernährung und Entwicklung in Bayern (1730 - 1880)" weder von der Ernährungsgeschichte (Teuteberg, Wiegelmann, Spiekermann) noch von der Ernährungsepidemiologie (Oltersdorf) und der Ernährungsökologie (Leitzmann) nennenswerte Notiz. Trotzdem hat er ein Buch geschrieben, das dem Rezensenten Respekt abnötigt und das einen Preis (des Volkswirte-Alumni-Clubs München) erhalten hat.

Dies, wie ich meine, zu Recht, denn sein Buch hat drei wesentliche Ziele erreicht: 1. Methodische Fortschritte, 2. einen integrierend-verallgemeindernden Ansatz (statt eines spezialisierenden) und 3. eine angemessene Berücksichtigung der Komplexität der Ernährung, d.h. ihrer Voraussetzungen und Folgen.

Im Kreislauf von "Voraussetzungen - Handeln - Folgen (die wiederum zu Voraussetzungen erneuten Handelns werden), befasst Baten sich vornehmlich mit den beiden letzten Faktorbereichen, allerdings in umgekehrter Reihenfolge: auf welches Handeln (Ernährungsverhalten) lässt gemessene Körpergröße schließen ?

Im Kap. 1 (Erkenntnisziele und Aufbau der Arbeit) weist er auf die zentrale Bedeutung des "Kriteriums der 'Messbarkeit' eines Zusammenhanges" hin. Er verschleiert nicht die schwierige Frage, wie dieses Kriterium bei weitläufig vermittelten statistischen Variablen zu behandeln sei. Gerade die vermittelnden "Lebens- oder Umweltbedingungen", seien es klimatische, wirtschaftliche oder politische, müssen bei einer solchen Untersuchung oft geschätzt oder aus weiter entfernten Quellen erhoben werden, das kann Anlass zu Zweifeln geben. Mit großer Akribie überprüft er die Daten-Verteilungen daraufhin, ob sie Verzerrungen enthalten und korrigiert diese, so dass sie, so gut es geht, als Ausdruck der wahren allgemeinen Verteilung angenommen werden können.

2. Mit dem integrierend-verallgemeinernden Ansatz meine ich, dass er den Mut hat, aus seinen Datenquellen praktisch so etwas wie eine Kongruenz von anthropometrischer, Ernährungs-, Wirtschafts- und Agrargeschichte zu entwickeln.

3. Baten operiert mit einer ganzen Menge unterschiedlicher Variablen und er geht mit ihnen, wie mir scheint, souverän um. Zur allgemeinen Charakterisierung der sozialen und wirtschaftlichen Lage im Königreich Bayern und seinen pfälzischen Territorien im 18./19. Jahrhundert richtet er zunächst sein Augenmerk auf sechs umweltrelevante Variablen: Produktionsstruktur, Außenhandel, Bevölkerungsdichte und -wachstum, Säuglingssterblichkeit und Reallöhne (Kap. 3 Wirtschaftliche und demographische Situation Bayerns im 18. und 19. Jahrhundert): "so entsteht das Bild eines Agrarlandes, das einen immerhin mittelmäßigen Wohlstand und eine eher geringe Dynamik in der Bevölkerungsentwicklung auswies." (50)

In späteren Abschnitten wird die Produktionsstruktur in verfeinerter Weise wieder aufgenommen, nämlich aufgegliedert nach Getreide-, Kartoffel- und Fleisch-/Milch-Produktion. Das Merkmal des Reallohnes wird auch, so weit es geht hinsichtlich seiner Varianz und Verteilung und bezüglich der relativen Preise von Industriegütern untersucht. In den regional und schicht-spezifischen Analysen treten Arbeitsbelastung und Krankheitsumfeld hinzu.

Soweit bewegt er sich in den analytischen Bereichen, die von den sozialwissenschaftlich orientierten Ernährungswissenschaften heute hauptsächlich mit Hilfe empirischer Erhebungen bearbeitet werden. Während die Ernährungsthematik, zumal der Zusammenhang zwischen genetischen Vorgaben, Umwelteinflüssen und dem Ernährungsverhalten heute meistens (vor allem im bunten Blätterwald der Illustrierten) mit Bezug auf die Gegenwart abgehandelt wird, befasst Baten sich mit Befunden, die er aus 120 bis 270 Jahre alten Datenreihen ableitet, nämlich aus Körpergrößenmessungen und Einkommenserhebungen aus den Jahren 1730 bis 1880. Seiner Arbeit liegen sowohl die veröffentlichten Rekrutierungsstatistiken bayerischer Wehrpflichtiger aus den Jahren 1809 -1890 (ca. 8 Mill. Fälle) wie eigene Stichproben zugrunde, die er den Musterungsunterlagen der bayerischen und pfälzischen Armeen entnommen hat. Sie gliedern sich in eine "frühe" Stichprobe (1760-87, ca. 11.000 Fälle) und eine "späte" Stichprobe (1770-94, ca. 4.600 Fälle).

Batens theoretischer Schlüsselansatz besteht darin, dass er die in den Ernährungswissenschaften übliche "Ernährungs-Bilanzierung" abwandelt in die definitorische Unterscheidung von "Bruttoernährung" (Gesamtmenge der durchschnittlich aufgenommenen Nährstoffe) und "Nettoernährung" (abzüglich der Verluste durch Arbeitsbelastung und Krankheiten = Leistungsumsatz; 13 f.). Er unterstellt offenbar gleich hohe Grundumsätze bei den Probanden, so dass sich die Differenz als wachstumsrelevante Größe und die menschliche Körpergröße sich als aussagekräftiger Indikator des durch die "Nettoernährung" bewirkten Ernährungsstatus erweisen.

Das Einkommen (Reallohn) nimmt er als einen ebenso beweiskräftigen Anzeiger von Ernährungsweise und Ernährungsniveau. Das heißt, er zieht aus den in archivierten Statistiken enthaltenen Daten über die Körpergrößen von Rekruten und Gefängnisinsassen und aus der Untersuchung der Frage "wann und in welcher Situation eine Korrelation von Körpergröße und Reallöhnen feststellbar" sei (17), Rückschlüsse auf "den biologischen Zusammenhang zwischen Nahrungsaufnahme und menschlicher Körpergröße" (13) und damit auf Umweltgegebenheiten, die das Ernährungsverhalten und damit den Ernährungsstatus der Bevölkerung bestimmt haben.

Die Bemühungen um eine anthropometrische Geschichte begannen im 19.Jahrhundert. Sie kreisten um die Frage, wie die Zunahme oder der Rückgang durchschnittlicher Körpergrößen zu erklären sei. Da diese Untersuchungen verhältnismäßig kleine, aber zahlreiche Regionen betrafen, ergibt sich für die heutige Forschung der große Vorteil, "dass eine wichtige Literatur zu Körpergrößenunterschieden in Mitteleuropa existiert, die in der neueren Literatur der anthropometrischen Wirtschaftsgeschichte bisher wenig rezipiert wurde" (37; Kap. 2: Anthropometrische Literatur und anthropometrische Wirtschaftsgeschichte).

Die daraus ermittelten Kurvenverläufe der Körpergrößen-Erhebungen werden dann (mit Hilfe der Roggenlohnmethode) mit der Entwicklung der Reallöhne, der Getreide- und der Kartoffelproduktion verglichen und weiterhin mit dem Verlauf der Klimakurve verglichen (schlechtes Klima bedingt den Rückgang der vegetabilen und der tierischen Produktion von Fleisch und Milch). "Der festgestellte Zusammenhang von Winterskälte, Reallöhnen und Körpergröße wurde mit der Situation in Österreich-Ungarn und England verglichen und konnte für beide Länder bestätigt werden." (87; Kap. 4).

In gleicher Weise werden die Untersuchungen über das 19. Jahrhundert geführt und die Ergebnisse mit denen aus "dem anthropometrisch bisher am besten erforschten Land, Großbritannien" (101) verglichen. Dort wie erfahrungsgemäß in allen Industrieregionen besteht aber ein deutlicher Unterschied zu dem in Bayern beobachtbaren Zusammenhang zwischen dem Auf und Ab der Reallöhne und der Zu- und Abnahme der Körpergrößen. Baten weist daher auf eine Reihe anders gelagerter Faktoren hin, um den abweichenden Verlauf in England zu erklären (Kap.5). Es fällt auf, dass er eben nicht nur seinen Hypothesen günstige Korrelationen, sondern auch gegenläufige Ergebnisse auf die Plausibilität anderer Annahmen hin zu prüfen bereit ist.

Dass die durchschnittlichen Körpergrößen abnehmen, wenn die Reallöhne steigen (33; USA, England), wird u.a. als Folge einer zunehmend ungleichen Verteilung der Einkommen erklärt - immerhin auch eine Erscheinung von derzeit höchster Aktualität, nämlich in den Gesellschaften des Südens.

Baten gibt sich allerdings nicht zufrieden mit den sozusagen global aus den bayerischen Datensätzen abgeleiteten Zusammenhängen, sondern beobachtet und untersucht zusätzlich eine Differenzierung, die sich aus den innerbayerischen regionalen Strukturen ergibt (Kap. 7). Er folgert, "dass regionale Unterschiede der Wirtschaftsstruktur einen wesentlichen Einfluss auf den biologischen Lebensstandard gehabt haben" (138). Vor allem tritt der Einfluss der Verfügbarkeit von hochwertigem tierischen Protein aus Milch (und weniger: aus Fleisch) in den Rinderhaltungsgebieten hervor. Unverarbeitete Milch konnte nicht über weite Strecken transportiert und daher auch nicht so profitabel vermarktet werden. Sie verblieb daher in höherem Maße auch in abgelegeneren und weniger entwickelten "Milchregionen" zur Verfügung der einheimischen Bevölkerung und sicherte dieser einen vergleichsweise besseren Ernährungsstatus.

Schließlich (Kap. 7 und 8) werden die statistisch ermittelten Werte kleiner Teilregionen auf ein flächendeckendes Bild von insgesamt 7 Großregionen Bayerns übertragen und daraus der Einfluß des interregionalen Nahrungsmittelhandels erschlossen. Schichtspezifisch kommt Baten zu dem Schluss, dass sich "die Hypothese einer zunehmenden (finanziellen, d.V.) Ungleichheit in der Frühphase der industriellen Revolution auch für die Verteilung der Nahrungsressourcen belegen lässt" (164). Viele der beobachteten, aber zuzugebenderweise auch aus Schätzungen abgeleiteten Umstände bedürfen nach Meinung Batens weiterer intensiver Forschung. "Nicht weniger wichtig ist es jedoch, dass anthropometrische Geschichte uns dabei hilft, das große Wunder besser zu verstehen, dass äußerst arme Volkswirtschaften des 18. Jahrhunderts sich zu einem derart hohen Wohlstand entwickelten" (172).

Wie gesagt, was diese mit den strengen Maßstäben mathematischer Ökonometrie arbeitende Darstellung auch für Leser sympathisch macht, ist der Versuch, die Komplexität menschlichen Handelns nicht allein den quantifizierenden Faktoren zu unterwerfen. Der Zufall will es, dass der Rezensent zeitgleich mit dieser Lektüre eine Arbeit vorliegen hat, die ebenfalls mit Hilfe ökonometrischer Gleichungsmathematik nachzuweisen sucht, dass das Ernährungsverhalten, also das, was Baten Nettoernährung nennt, in signifikanten Maße mitbestimmt wird durch Wertorientierungen. Die spielen bei Baten keine Rolle, denn sie sind seinen Datenquellen nicht zu entnehmen. Ein Grund mehr, ihm zuzustimmen, wenn er abschließend aufzählt, was an Forschungswegen noch zu gehen ist, um das "Geheimnis" um die menschliche Ernährung zu enträtseln.

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