Stiftung Stadtmuseum Berlin: Juden Bürger Berliner

Titel
Juden Bürger Berliner. Das Gedächtnis der Familie Beer - Meyerbeer - Richter


Herausgeber
Stiftung Stadtmuseum Berlin; Kurt Winkler, Sven Kuhrau
Erschienen
Berlin 2004: Henschel Verlag
Anzahl Seiten
272 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martin Holler, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

Giacomo Meyerbeer gehört neben Felix Mendelssohn-Bartholdy zu den Aushängeschildern Berliner Musikgeschichte. Ähnlich wie bei letzterem stehen die übrigen Familienmitglieder Meyerbeers in ihrer heutigen Wahrnehmung im Schatten des Genies, obwohl manche von ihnen zu Lebzeiten bedeutende und angesehene Persönlichkeiten waren. In einer Sonderausstellung, die vom 19. März bis zum 27. Juni 2004 im Märkischen Museum zu sehen war, wurde versucht, das Leben des berühmten Komponisten als Teil einer bemerkenswerten Familiengeschichte darzustellen. Ermöglicht wurde das Projekt durch eine Schenkung der Nachfahren Elisabeth Beare und Reinhold Becker im Jahre 2000. Die Stiftung Berliner Stadtmuseum erhielt hierbei den Vorzug vor dem Jüdischen Museum, was nicht zuletzt das Selbstverständnis der Familie als aktive Vertreter des Berliner Bürgertums widerspiegelt. Zusammengefasst wurde der Neuerwerb in einer unselbständigen Hans-und-Luise-Richter-Stiftung, da die Namensgeber den Familiennachlass auch nach 1933 verwahrten und damit für die Nachwelt retteten.

Im Zentrum der Ausstellung stand neben den wirtschaftlichen und kulturellen Leistungen der Familie Beer-Meyerbeer-Richter ihre gesellschaftliche Entwicklung von der Akkulturation zur Assimilation bis hin zu deren gewaltsamer Rücknahme im 20. Jahrhundert. Aufbau und Inhalt der Ausstellung inszenierten diese Grundthemen äußerst geschickt. Im Großen Saal des Märkischen Museums wurden hellgrüne Stellwände zu einem begehbaren Kubus vereint, dessen Mitte ein kleiner Raum mit jüdisch-rituellen Gegenständen einnahm. Auf diese Weise kreiste die Familiengeschichte symbolisch um den Bezug zur jüdischen Herkunft, den sich jede Generation neu definieren musste. Neben gegenständlichen Objekten wie Alltagsutensilien, Schmuck und Gemälden waren es vor allem die schriftlichen Exponate (Testamente, Eheverträge u.a.), die einen tiefen Einblick in die Familienchronik gestatteten. Der Übergang von einer Generation zur nächsten wurde von kurzen, prägnanten Erläuterungen begleitet.

Die einzig unglückliche Entscheidung der Kuratoren bestand darin, Teile der Familienchronik bereits in der Dauerausstellung des Museums zu integrieren, um sie in ihren stadthistorischen Kontext zu stellen. Die gute Absicht barg mehr Nach- als Vorteile. Zum einen wurden die Personenportraits auseinander gerissen, wenn sich zum Beispiel Informationen zu Wilhelm Beer gleich in drei verschiedenen Themenräumen fanden. Zum anderen erforderte es vom Besucher ein übertriebenes Maß an Eigeninitiative, um mit Hilfe eines Faltblattes die über das mehrstöckige Gebäude verteilten Schautafeln aufzuspüren. Eine kompakte Darstellung im Großen Saal, der genügend Raumkapazität hierfür geboten hätte, wäre für die Zeit der Sonderausstellung mit Sicherheit sinnvoller gewesen.

Eine literarische und historiografische Bereicherung stellt in jedem Fall der von Sven Kuhrau und Kurt Winkler herausgegebene Begleitband zur Ausstellung dar, der sich aus einem darstellenden und einem dokumentarischen Teil zusammensetzt. Der darstellende Teil besteht aus gesammelten Biografien, die zumeist erfreulich eng an den neu erworbenen schriftlichen und gegenständlichen Quellen argumentieren. Die Grundfragen der Ausstellung werden von Liliane Weissberg in einer lesenswerten Einleitung zum Begleitband weiter geführt. Nach theoretischen Ausführungen über das Zusammenspiel von Familien- und Stadtgeschichte formuliert sie die Fragestellung, die sich wie ein roter Faden durch die Familienchronik zieht: Das Verhältnis der einzelnen Generationen zur jüdischen Identität.

Die Familie Beer-Meyerbeer-Richter kann in dieser Beziehung als nahezu exemplarisch gelten, denn ihr Streben nach rechtlicher und gesellschaftlicher Gleichstellung führte über die allmähliche kulturelle Anpassung schließlich zur Konversion. Im Vergleich zu vielen anderen jüdischen Familien Berlins folgte dieser Schritt indes recht spät. Gerd Heinemann sieht einen Grund hierfür im Willen des Großvaters Giacomo Meyerbeers, Liepmann Meyer Wulff (1745-1812), der seine Erben testamentarisch zur Wahrung des jüdischen Glaubens gemahnt hatte. Zum Vermächtnis des erfolgreichen „Geschäftsmanns im Dienste dreier Könige“ (so der Titel des Beitrags) an den ältesten Enkel gehörte auch die Privatsynagoge in seinem Wohnhaus, welche dieser „in gehöriger Ordnung, und in gutem Zustande“ zu halten versprechen musste (S. 46).

Wulffs Schwiegersohn Jacob Herz Beer (1769-1825) war ein nicht weniger begabter Unternehmer, der sogar zum reichsten Einwohner Berlins aufstieg. Sebastian Panwitz beschreibt Beer als einen äußerst vielseitigen Mensch, der zu einem Vorreiter des Berliner Reformjudentums wurde. 1815 eröffnete er einen privaten „Tempel“, in welchem jüdische Gottesdienste mit Chor- und Orgelbegleitung sowie einer Predigt in deutscher Sprache abgehalten wurden. Und auch wenn Friedrich Wilhelm III. den Tempel wenig später verbieten ließ, hält Panwitz die Bemühungen Beers für einen erfolgreichen Versuch, „neben dem allgemeinen gesellschaftlichen Umbruch auch die tief greifenden Veränderungen im Judentum zu bewältigen und mit seinem persönlichen Jüdischsein in Einklang zu bringen“ (S. 82).

Ähnliches galt für Amalie Beer, geborene Wulff. Entgegen dem damaligen Trend trat die Gastgeberin bedeutender Gesellschaften aus Aristokratie und Beamtentum nicht zum Christentum über. Sven Kuhrau prägt in seinem anregenden Beitrag den Begriff der individuellen Akkulturation, um Amalies bewusste Balance zwischen bewahrter Religiosität und Anpassung an das moderne Umfeld zu beschreiben. Der Familiennachlass untermauert die Ambivalenz ihres Lebensstils: während ein romantisierendes Portrait Amalies von 1803 (S. 49) keinerlei Hinweise auf die jüdische Identität der Dargestellten gab, stilisierte und empfand sie sich vor ihren Kindern als „Priesterin des Hauses“ (S. 57).

Der Nachwelt sollte Amalie Beer in erster Linie als Wohltäterin im Gedächtnis bleiben. Für ihre Verdienste in der Verwundetenversorgung während der Befreiungskriege wurde sie schließlich mit dem Luisenorden ausgezeichnet. Dass Friedrich Wilhelm III. ihr statt des Kreuzes eine Sonderform des Ordens verlieh, wurde in der bisherigen Forschung als königliches Feingefühl gegenüber der frommen Jüdin gewertet. 1 Kuhrau widerlegt das tradierte Bild überzeugend als Schönfärberei. Aus zeitgenössischen Briefen und Berichten wird ersichtlich, dass sowohl Amalie Beer als auch die jüdische Gemeinde Berlins die als „gekoschertes Kreuz“ verspottete Sondermedaille als Demütigung empfanden. Von der antijüdischen Motivation des Königs zeuge ferner die Tatsache, dass er erst auf den dritten ausdrücklichen Antrag des Luisenstifts einer Verleihung zustimmte. Mit dieser Neuinterpretation leistet Sven Kuhrau den innovativsten Beitrag des gesamten Bandes.

Die folgende Generation war die letzte, die am jüdischen Glauben festhielt. Auffallend ist, dass sich die Söhne von Amalie und Jacob Herz Beer allesamt der Kunst oder Wissenschaft verschrieben und damit ein neues Kapitel in der Familiengeschichte aufschlugen. Die Autoren der jeweiligen Biografien sind sich einig, dass die Salongesellschaft ihrer Mutter diesen Wechsel von der Wirtschafts- zur Bildungselite entscheidend beeinflusste. In besonderem Maße trifft dies auf den jüngsten Sohn Michael Beer (1800-1833) zu, der bereits mit 14 Jahren seine ersten Gedichten schrieb. Lothar Schirmer polemisiert in seinem Beitrag vehement gegen das in der Literaturwissenschaft gängige Bild, wonach das Werk des Poeten allgemein, insbesondere aber sein Einakter „Paria“, auf die soziale Benachteiligung der Juden anspiele. 2 Schirmers Gegenargument, Beers Themenwahl sei stattdessen in der Orientalismus-Mode der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu verorten (S. 121), ist jedoch wenig stichhaltig, denn es stellt keinen zwingenden Widerspruch zur Plausibilität der bisherigen Interpretation dar.

Ebenfalls ein wenig aus dem Rahmen fällt Schirmers Biografie zu Giacomo Meyerbeer, da ihr das Gefühl für die richtige Gewichtung abgeht. Der Autor widmet sich zwar äußerst kompetent, jedoch viel zu ausführlich der Werkanalyse des Opernkomponisten, ergänzt durch ein paar biografische Details zu den Ämtern, die Meyerbeer in seiner Berliner Zeit bekleidete. Die Frage nach der jüdischen Identität Meyerbeers wird unterdessen schlicht ausgeklammert. Das gilt auch für die antisemitischen Anfeindungen Richard Wagners gegen Meyerbeer, die Schirmer mit keinem Wort erwähnt.

Bei Jürgen Bluncks Biografie zu Wilhelm Beer (1797-1850) handelt es sich um eine gekürzte Fassung einer früheren Abhandlung zum gleichen Thema. 3 Wilhelms Leidenschaft galt der Astronomie, wovon zwei nach ihm benannte Mond- und Marskrater zeugen. Gleichzeitig ist er wohl das „preußischste“ aller Familienmitglieder. Im Parlament galt er als königstreuer, extrem konservativer Abgeordneter. Sein Festhalten am jüdischen Glauben war dabei in Bluncks Augen durchaus konsequent, „denn zeitlebens hat sich Beer vorbehaltlos zur christlich-jüdischen Zusammenarbeit bekannt“ (S. 108). Zu dieser Haltung passe auch, dass er in jungen Jahren als Freiwilliger in den Befreiungskriegen mitwirkte.

Den Schritt zur Assimilation tat die jüngste Tochter von Giacomo Meyerbeer, Cornelie, deren Lebenseinstellung Annette Bossmann und Alice Uebe wie folgt beschreiben: „Cornelie Richter verfügte zwar über Reichtum im ökonomischen Sinne. Es war aber die äußere Wertschätzung, die Reputation, die sie anstrebte.“ (S. 134) Ein indisches Armband, das ihr die Kaiserin als Geschenk vermachte, zeigt am deutlichsten, wie nah sie ihrem Ziel kam. Ferner war sie als konvertierte Salondame und Gattin des Malerfürsten Gustav Richter (Beitrag von Isabelle von Feilitzsch) formell zu einem voll akzeptierten und integrierten Teil der höheren Gesellschaft geworden. Doch selbst dies schützte sie nicht vor antisemitischen Seitenhieben. Uebe und Bossmann zeigen an Briefen und Memoiren ihrer Zeitgenossen, dass Cornelie Richter auch Jahre nach ihrer Konversion und Heirat von einem großen Teil der Gesellschaft als Jüdin angesehen wurde.

Die Söhne von Cornelie und Gustav Richter spielten keine exponierte gesellschaftliche Rolle. Neben Ministerialdirektor Reinhold (Beitrag von Angelika Königseder) und Privatdozent Raoul (Herbert Kopp-Oberstebrink) war vor allem der Rechtsanwalt und Notar Hans Richter dem bürgerlichen Mittelstand zuzuordnen. Kurt Winkler rekonstruiert mit Hilfe einiger Briefe und für die Anerkennung als Opfer des Nationalsozialismus angefertigte Lebensläufe eine Biografie, die stellvertretend für viele so genannte „Mischlinge ersten Grades“ im NS-Deutschland stehen kann. Dank des „arischen Vaters“ war Hans Richter von den Deportationen ausgenommen, wurde aber in den vorzeitigen Ruhestand ohne finanzielle Entschädigung versetzt. Kurioserweise war es ein kleiner, in fehlerhaftem Russisch verfasster Briefumschlag, der Richter auch in der Endphase des Krieges vor eventuellem Ungemach schützte. Seine Frau Lusie hatte ihn als „Bescheinigung“ an das Gartentürchen ihrer Villa angefügt, um den Halbjuden und angeblichen „Mitarbeiter der örtlichen Polizei“ vor Plünderungen der Roten Armee zu schützen. Es sind vielleicht gerade die kleinen Objekte wie dieser Briefumschlag, die dem Nachlass der Familie Beer-Meyerbeer-Richter einen unschätzbaren Wert verleihen.

Der zweite Teil des Bandes besteht aus einem umfassenden Bestandsverzeichnis sämtlicher Neuerwerbungen und besticht durch seine nutzerfreundliche Übersichtlichkeit. In dreijähriger Arbeit wurden die sehr unterschiedlichen Nachlassstücke erfasst und inventarisiert. Hierbei wurden die Objekte in Archivalien, Fotografien, Kunstwerke, Kunstgewerbe und Bücher eingeteilt. Ein gesondertes Verzeichnis erhielt das beeindruckende Konvolut von 972 Briefen. Die einzelnen Sachgruppen wiederum wurden chronologisch den Familienmitgliedern zugeordnet und bei schwierigen Fällen mit kurzen Erläuterungen versehen. Durchgehende Verweise auf Abbildungen und inhaltliche Zusammenhänge komplettieren das positive Bild und erleichtern die Anwendung.

Alles in allem hinterlässt sowohl die Einarbeitung der Neuerwerbungen als auch die wissenschaftliche Darstellung einen starken Eindruck. Die Einbettung der Familienchronik in den historischen Gesamtkontext ist größtenteils ebenso gelungen wie die Wahrung einer individuellen Perspektive auf die einzelnen Persönlichkeiten. Man kann der Stiftung Stadtmuseum zur Schenkung und der Art ihrer Präsentation daher nur gratulieren.

Anmerkungen:
1 Das gilt neben den zeitgenössischen Kommentaren auch noch für die heutige Historiografie. Jüngstes Beispiel ist Hertz, Deborah, Ihr offenes Haus – Amalie Beer und die Berliner Reform, in: Kalonymos. Beiträge zur deutsch-jüdischen Geschichte aus dem Salomon Ludwig Steinheim-Institut 2,1 (1999), S.1-4.
2 Im Zentrum der Kritik steht Stenzel, Jürgen, Assimilation durch Klassik, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts, Frankfurt am Main 1987, S.314-335.
3 Blunck, Jürgen, Wilhelm Beer. Genius der Astronomie und Ökonomie. 1797-1850, Ausstellungskatalog, Berlin 1997.

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