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Titel
Fritz Kolbe. Der wichtigste Spion des Zweiten Weltkriegs


Autor(en)
Delattre, Lucas
Erschienen
München 2004: Piper Verlag
Anzahl Seiten
399 S., 16 s/w Abb.
Preis
€ 22,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sebastian Weitkamp, Institut für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit, Universität Osnabrück

Die Geschichte des deutschen Diplomaten und Spions Fritz Kolbe lag für Jahrzehnte in den gesperrten Archivbeständen des amerikanischen Geheimdienstes OSS (Office of Strategic Services) verborgen. Lediglich eine Handvoll Zeitschriftenartikel befassten sich mit dem Mann, der seit dem Sommer 1943 den Amerikanern bei Kurierreisen in die Schweiz geheimstes Material aus der Zentrale der deutschen Führung zuspielte. Vor Öffnung der Archive widmete Klemens von Klemperer Mitte der 1990er-Jahre in seiner umfassend angelegten Studie zu den Auslandsbeziehungen des deutschen Widerstandes dem Fall Kolbe einige kurze Absätze.1 Er sichtete das Geheimdienst-Material, soweit es „vom CIA dem Archiv übergeben“ worden ist. Nach Freigabe der kompletten Unterlagen rollten zwei Spiegel-Redakteure den Vorgang im Jahr 2001 in einem Artikel erstmals für ein breiteres Publikum auf.2

Nun legt der französische Journalist und Historiker Lucas Delattre eine Biografie vor, die sich in chronologischen Kapiteln mit dem Handeln Kolbes im „Dritten Reich“ beschäftigt. Der 1900 geborene Sohn einer Handwerkerfamilie war zeitweise Eisenbahnobersekretär der Reichsbahn, bevor er 1925 in den mittleren Dienst des Auswärtigen Amtes eintrat. Angewidert von den diktatorischen Ansprüchen des sich ab 1933 etablierenden NS-Regime schaffte es der Individualist Kolbe stets, sich dem mehrfach angeratenen Beitritt zur NSDAP zu entziehen. Die Genese des Oppositionellen Kolbe stützt sich im Wesentlichen auf dessen privaten Nachlass, der erstmals einem Wissenschaftler zur Verfügung stand. Einen tiefen Blick in das Denken des Protagonisten erlauben die dort befindlichen, nach dem Krieg entstandenen autobiografischen Aufzeichnungen, die von Delattre teilweise unkritisch übernommen werden. Die starke Sympathie des Autors für sein Objekt ist deutlich spürbar.

Ende 1940 wurde Kolbe Referent des Botschafters Karl Ritter, der als Verbindungsmann zwischen dem Auswärtigem Amt und Wehrmacht agierte. Über Kolbes Schreibtisch gingen geheimste militärische und außenpolitische Unterlagen. Verzweifelt über den verbrecherischen Krieg und in der Überzeugung, die nationalsozialistische Herrschaft sei nur von außen zu stürzen, entschloss sich Kolbe, den Alliierten Kopien dieser Akten zu übergeben. Die Informationen sollten beitragen, die Niederlage Deutschlands so rasch wie möglich herbeizuführen, und das Regime zu beseitigen. Im Sommer 1943 gelang es Kolbe als Kurier in der neutralen Schweiz eingesetzt zu werden. Über einen ortsansässigen Freund nahm er zunächst Kontakt zu den Briten auf, die sich allerdings nicht interessiert zeigten. Anders reagierte der amerikanische Vertreter des OSS in Bern: Allen Dulles. Ohne finanzielle Gegenleistung war Kolbe aus idealistischen Motiven bereit, mehr Dokumente zu liefern. Bei vier folgenden Dienstreisen schmuggelte er Schriftstücke und verriet in persönlichen Gesprächen die Lage von Hitlers Hauptquartier in Ostpreußen und von Produktionsstätten für Waffensysteme. Er schilderte die Stimmungslage der Deutschen und die Schäden der Bombenangriffe. Zudem versorgte Kolbe die amerikanische Geheimdienstzentrale in Bern mit Unterlagen, welche die Schweiz mit Hilfe der regulären Diplomatenpost und eingeweihter Kontaktleute erreichte. Zum Schluss waren die Amerikaner im Besitz von 1600 diplomatischen Dokumenten aus dem Innersten des „Dritten Reiches“.

Anders als der Klappentext suggeriert, spielen Berichte über die laufende Judenvernichtung kaum eine Rolle. Kolbe lieferte hauptsächlich wirtschaftliche, militärische und außenpolitische Informationen, woran Dulles und Co. anscheinend am stärksten interessiert waren. Ob Kolbe größere Kenntnisse von der Durchführung der „Endlösung“ hatte, lässt Delattre zwar offen, es darf aber bei Kolbes Position und der Unterstützung des Amtes bei den Deportationen als wahrscheinlich gelten. Ein dezidiert humanitäres Handlungsmotiv zugunsten der Juden ist nicht erkennbar.

Zweifel am Superlativ des deutschen Zusatztitel „Der wichtigste Spion des Zweiten Weltkrieges“ kommen auf, wenn man feststellt, dass das erstklassige Material letztlich zu großen Teilen in den Kanälen der alliierten Geheimdienste versandete, ohne wirklich politisch genutzt worden zu sein. Dabei handelte es sich um die einzige und wertvollste Nachrichtenquelle der Alliierten im Machtzentrum des Gegners, wie der französische Originaltitel „Un espion au cœur du IIIe Reich“ besser als der deutsche herausstellt. Obwohl man in London und Washington bestens hätte informiert sein können, profitierte in erster Linie nur die Gegenspionage von Kolbes Informationen; so konnten beispielsweise deutsche Agentenringe ausgehoben, ein Geheimsender in Irland zum Schweigen gebracht werden. Doch besonders britische Geheimdienstkreise zweifelten lange an der Authentizität von Dulles hochkarätiger Quelle in Berlin. Gereizt und erstaunt erkundigte sich Kolbe, warum diese oder jene von ihm genannten Ziele noch nicht bombardiert worden seien. „Schlaft ihr?“ fragte er Dulles. Den Kolbe-Dokumenten erging es hierbei wie dem „Cicero“-Material auf deutscher Seite. Als nämlich der Kammerdiener des britischen Botschafters in Ankara Geheimunterlagen an die Deutschen verkaufte, hielt man das Material in Berlin für zu gut, um echt zu sein.

Bei allem, was Kolbe tat, blieb er ein Einzeltäter. Er hatte nur vage Kontakte zur Peripherie des organisierten Widerstands und stützte sich bei seiner Spionagetätigkeit auf wenige Vertraute. Dass er den Verrat an den Feind als Mittel gegen das Regime wählte, verzieh ihm die spätere bundesrepublikanische Gesellschaft nicht. Nach dem Krieg gelang es Kolbe nicht, wieder Fuß zu fassen. Arbeitsverträge kamen nicht zustande, ein Wiedereinstellung ins Auswärtige Amt trotz Protektion Dulles ebenfalls nicht. Hier mag es Kolbe ergangen sein wie dem Diplomaten Erich Kordt, der 1938/39 gegen die Kriegspolitik Ribbentrops gearbeitet hatte. Bundeskanzler Konrad Adenauer entschied sich gegen eine Wiedereinberufung und soll entgegnet haben: „Der hat Ribbentrop betrogen und seine Politik hintertrieben. Was gibt mir die Gewissheit, dass er mich nicht ebenso behandelt!“ 3 1971 starb Kolbe kaum beachtet in Bern, doch der amerikanische Geheimdienst hatte seinen Agenten nicht vergessen. Im Namen des CIA-Direktors wurde ein Kranz niedergelegt.

Das Lektorat hat der Publikation leider keinen Gefallen getan. Der informative, 78 Seiten umfassende Anmerkungsapparat mit mehreren hundert Einträgen ist ans Ende des Textes gestellt und schmälert die Lesefreundlichkeit erheblich. Die Zitierweise in den Endnoten entspricht nur annähernd wissenschaftlichen Standards.
Und dennoch handelt es sich bei der vorgelegten Studie um eine äußerst lesenswerte und ebenso lesbare Lektüre, welche insbesondere durch die Auswertung des OSS-Materials sowie Kolbes Nachlass hohen Quellenwert besitzt. Delattre kann umfangreiche, internationale Recherchen vorweisen.

Klemens von Klemperer stellte 1994 die Frage: „Handelte es sich bei Kolbe nun um einen Spion oder um einen Widerstandskämpfer?“ Delattre gibt darauf die Antwort: Der Spion Kolbe ist Widerstandskämpfer. Diese Aussage verlangt eine Neudefinition des klassischen Widerstandsbegriffs. Während Oppositionelle wie Ludwig Beck oder Adam von Trott zu Solz mit Unterstützung des Feindes hofften, das Hitler-Regime zu stürzen, verrieten sie ihr Land nicht. Dies erleichterte ihre spätere Adaption als Vorbild und Widerständler. Aus ebenso idealistischen Motiven und ebenso tiefer Gegnerschaft zum Nationalsozialismus wählte Fritz Kolbe den Verrat als Waffe. Doch dabei forderte er die Bombardierung von ihm genannter Ziele und nahm so wissentlich auch unschuldige Opfer in Kauf. Forschung und Gesellschaft sind durch Delattre aufgefordert, Spione, wie Fritz Kolbe oder Richard Sorge, neu in den Widerstandskontext einzuordnen. Kann Spionage Mittel des Widerstandes sein, und wenn ja, wieweit darf dieser Verrat gehen, um dem hehren Ziel noch gerecht zu werden? Das Auswärtige Amt hat diese Frage für sich beantwortet: Für Fritz Kolbe ist eine Gedenkplakette im Gebäudes des Ministeriums geplant.

Anmerkungen:
1 Vgl. Klemperer, Klemens von, Die verlassenen Verschwörer. Der deutsche Widerstand auf der Suche nach Verbündeten 1938-1945, Berlin 1994, S. 275ff.
2 Vgl. „Der Bote aus Berlin“, in: Der Spiegel (37) 2001, S. 220-222.
3 Zit. nach Döscher, Hans-Jürgen, Verschworene Gesellschaft. Das Auswärtige Amt unter Adenauer zwischen Neubeginn und Kontinuität, Berlin 1995, S. 72.

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