Titel
Historiker in der DDR.


Herausgeber
Pohl, Karl Heinrich
Reihe
Kleine Vandenhoeck-Reihe 1580
Erschienen
Goettingen 1997: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
149 S.
Preis
DM 20.80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martin Sabrow, Berlin

"Historiker in der DDR", heisst eine Vortragssammlung, die der Kieler Professor fuer Geschichte und ihre Didaktik, Karl Heinrich Pohl, im Sommersemester 1996 an der Universitaet Kiel veranstaltet hat. Von den neun Beitraegen dieser Veranstaltung sind allerdings nur vier in die Publikation aufgenommen worden, allesamt von ostdeutschen Historikern, die ueber ihre Erfahrungen im wissenschaftlich-politischen System der DDR berichten, und vermehrt um eine Einleitung des westdeutschen Herausgebers.

Es sind dies schon fast 'unzeitgemaesse Betrachtungen'. Denn die auf die Wende folgende Phase der Erfahrungsberichte und Selbstreflexionen von Beteiligten in der Verarbeitung der DDR-Geschichtswissenschaft ist schon seit Jahren abgeklungen und durch staerker distanzierendere Untersuchungsansaetze ueberlagert, wenn nicht abgeloest worden. Doch setzt sich der Herausgeber auch gar nicht das Ziel einer "grundlegende(n), wissenschaftlichen Anspruechen genuegende(n) Behandlung der komplexen Gesamtthematik", sondern begruendet den Sinn seiner Vortragsreihe nicht zuletzt damit, dass "der innere Drang nach 'Vergangenheitsbewaeltigung' [...] hoch im Norden noch niemals besonders gross gewesen ist". Ob das von Pohl beschriebene Unterfangen, in "einer Gegend wie Schleswig-Holstein" ostdeutsche Historiker "als Objekte der Neugier" zum Zwecke der heimischen Laeuterung anzubieten, sinn- und erfolgreich war, muss den Leser nicht interessieren. Das schliesslich zwei Bundeslaender suedlich in Goettingen erschienene Baendchen gibt jedenfalls auch Nicht-Schleswig-Holsteinern interessante Aufschluesse ueber die fortbestehenden Schwierigkeiten, dem missgestalteten Seitentrieb der historischen Disziplin in der DDR in der Rueckschau fachlich beizukommen.

Denn obwohl alle Beitraeger professionelle Historiker sind, differieren ihre Sichtweisen erheblich. Einig sind sie sich lediglich darin, dass das geschichtswissenschaftliche System in der DDR eine willfaehrige Regimestuetze gebildet habe und zu Recht 1989/90 untergegangen sei. In seiner Einleitung reflektiert Pohl aus der Sicht des Aussenbetrachters ueber die Problematik der Urteilsbildung: An der radikalen Abrechnung des Unabhaengigen Historikerverbandes, der in seinem beruehmten Gruendungsaufruf der DDR-Historiographie Verrat an der Wissenschaft vorwarf, kritisiert er dichotomisches Freund-Feind-Denken und missbilligt "die manchmal nicht zu uebersehende Ueberheblichkeit [...], mit der eine kleine Gruppe Moral und ‘Wahrheit’ gepachtet zu haben scheint". (S. 11) Die Situation des unbeteiligten Westbetrachters scheint ihm auf der anderen Seite aber durchaus keine groessere Urteilsobjektivitaet zu sichern; gleichermassen suspekt ist ihm die besondere Forschheit, mit der die einen "das gegenueber der Nazizeit Versaeumte bei der Bearbeitung der DDR-Historie gewissermassen nachzuholen" versuchen, wie die entgegengesetzte Position des "scheuen Verstehens", die durch ihre vermeintlich vornehme Nachsichtigkeit in Wirklichkeit die Taeterperspektive uebersieht und die Opfer um die Gerechtigkeit betruegt: "Ueber das Mitleiden mit den Taetern werden sie wieder vergessen." (16)

Aehnlich ambivalent stellen sich Pohl auch andere Grundfragen der fachlichen Vergangenheitsbewaeltigung dar: Er fordert dazu auf, auch und gerade der Fuehrungsgarde der historischen Disziplin Gelegenheit zur oeffentlichen Reflexion zu bieten, und nimmt doch zugleich Anstoss daran, dass sich "auch der ehemalige 'Chefideologe' des DDR-Geschichtsdenkens, Wolfgang Kuettler, unwidersprochen als neuer 'Vordenker' hervortun kann" (S. 12, Anm. 14); er spricht sich auf der einen Seite gegen die Identifizierung von Moral und Wahrheit im Umgang mit der abgelebten Historiographie aus und tadelt auf der anderen, wenn 'ehemalige SED-Funktionaere heute das SED-Gewaltregime analysieren'.

Doch liegt die eigentuemliche Ambivalenz im Umgang mit der abgelebten DDR-Geschichtswissenschaft tatsaechlich mehr in der Sache als bei ihrem Interpreten, wie Pohl besonders an dem einen Aspekt deutlich machen kann, der alle Beitraege wie ein roter Faden durchzieht: der Gegenwehr gegen das verordnete Geschichtsdenken. War Widerstand gegen die Verwandlung von Geschichte in Herrschaftsideologie ueberhaupt moeglich? Wo begann er, und wo blieb er blosse Selbsttaeuschung? Und welche Funktion hatte er - fuer das Herrschaftssystem wie fuer den einzelnen?

Die biographischen Schilderungen der einzelnen Vortragenden naehern sich dieser Frage aus ueberaus unterschiedlichen Perspektiven. Die Innensicht der herrschenden Wissenschaft in der DDR vertritt Joachim Petzold, ueber dreissig Jahre Mitarbeiter am Institut bzw. Zentralinstitut fuer Geschichte bei der Akademie der Wissenschaften und 1984 mit der Leitung des infolge des Untergangs der DDR nicht mehr erschienenen Bandes 7 der "Deutschen Geschichte" beauftragt. Er leugnet keineswegs, dass "die meisten Historiker der DDR und mit ihnen der Verfasser [...] sich nicht dem Auftrag [verschlossen], politisch im Sinne der DDR zu erziehen. Zugleich aber beharrt er auf einer notwendigen Abstufung auch der systemloyalen Fachvertreter. Unter ihnen zaehlt er sich zu denen, die die politische Dienstfunktion der Historiographie im SED-Staat bejahten, aber gleichzeitig nicht als blosse Unterordnung unter die Partei verstanden, sondern sich bemuehten, "politische Zielstellungen mit wissenschaftlichem Verantwortungsgefuehl zu verbinden, in der Ueberzeugung, dass nur eine Politik richtig sein kann, die nicht im Widerspruch zur Wissenschaftlichkeit steht". Der fuer das systemloyale Geschichtsdenken in der DDR charakteristische Glaube, dass Parteilichkeit und Objektivitaet gar nicht in zwingendem Gegensatz stehen muessten, bot freilich einem Widerstand im eigentlichen Sinne gegen das verordnete Geschichtsbild keine Grundlage. Aber er schloss schwere Konflikte zwischen Historikern und Geschichtsfunktionaeren keineswegs aus. Petzold insistiert auf dem immerwaehrenden Spannungsverhaeltnis zwischen politischem Auftrag und wissenschaftlicher Verantwortung, das er mit eigenen Erfahrungen zum Umgang mit der Weimarer Republik in der ostdeutschen Forschung veranschaulicht. Doch so folgenreich eine abweichende Meinung ueber den Charakter der Novemberrevolution oder die Rolle der KPD in der Zeit des nationalsozialistischen Aufstiegs auch sein mochte; sie machte den Kritiker nicht zum Widerstaendler. Denn, wie Petzold mit Recht unterstreicht, hatten auch solche im einzelnen opponierenden Historiker "ihre wissenschaftliche Taetigkeit als einen politischen Auftrag verstanden". (S. 99) Aus seinen Ausfuehrungen ist einmal mehr zu lernen, dass sich die Frage nach Anpassung und Aufbegehren sogar innerhalb des Fuehrungszirkels parteiloyaler Geschichtsbildproduzenten stellte, dass es sozusagen auch einen "Widerstand der Taeter" geben konnte, der Analyse und Bewertung verlangt.

Abweichendem Verhalten innerhalb des gegebenen Doktrinsystems widmet sich auch Werner Bramke in seinen Ueberlegungen zu den "Freiraeumen und Grenzen eines DDR-Historikers". Staerker als Petzold akzentuiert er aus eigenen Erfahrungen an der Universitaet Leipzig den Beginn einer zoegerlichen Liberalisierung schon seit der Abloesung Ulbrichts und der Entspannungspolitik, die auch die SED-Fuehrung zu Zugestaendnissen gezwungen habe. Sein Beitrag stuetzt die vor 1989 im Westen besonders von Guenther Heydemann vertretene "Verwissenschaftlichungsthese" und haelt dafuer, dass die politische Entwicklung "Moeglichkeiten [...] zur allmaehlichen Herausloesung aus theoretischer und methodologischer Erstarrung bot". (S. 35) Dieses Urteil dient Bramke weniger zur Aufwertung der ostdeutschen Klio als zur selbstkritischen Abwertung ihrer ostdeutschen Juenger: "Das Grundproblem der Historiker in der DDR war vielleicht, dass Selbstblockaden sie hinderten, gewachsene Spielraeume zu erkennen und zu nutzen." (S. 41) Wie sehr gleichwohl auch hier die Grenzen zwischen Anpassung und Behauptung im "Ansteckungsstaat" DDR (Charles Maier) verschwammen, verdeutlicht eine Seitenbemerkung Bramkes ueber die Rolle seines Mentors Kurt Finker, der als Inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit berichtet hatte, dass Bramke die "Schnauze voll" habe. Diese aktenkundige Aeusserung war von einem anderen Historiker wiederum vor kurzem oeffentlich als Denunziation gebrandmarkt worden; Bramke selbst hingegen wertet sie als Versuch seines Lehrers Finker, ihn zu schuetzen.

Solche Phaenomene lassen sich freilich mit einem wie immer definierten Widerstandsbegriff kaum erfassen, um so weniger, als Herausgeber Pohl in seiner Einfuehrung unter Berufung auf Vera Wollenberger auch noch an die Differenz zwischen individuellem Wollen und tatsaechlicher Wirkung erinnert. Von der systemstabilisierenden Ventilfunktion einer "Pseudokritik", die ein Spiel im Salon geblieben sei, hatte Wollenberger gesprochen und den seltsamen Zustand beklagt, dass auch ehemalige Systemstuetzen sich nicht selten als unangepasste Regimegegner empfanden. Einen eindrucksvollen Bericht ueber die dahinterstehende Entwicklung des "gespaltenen Bewusstseins" in der DDR bietet der 1954 geborene Historiker Matthias Hahn unter dem Titel "Im Getriebe des DDR-Systems. Als 'Nachwuchswissenschaftler zwischen Anpassungszwaengen und Widerstehen'. Hahn behandelt die Widerstandsfrage aus der Sicht von unten; er nimmt seine Leser mit auf eine beklemmende Reise zu den einzelnen Stationen sozialistischer Sozialisation. Hier ist zu erfahren, wie Systempraegung im Alltag sich vollzog, wie Elternhaus, Schule, lebensweltliches Umfeld und intellektuelle Einfluesse jeden systemtranszendenten Bezug aufloesten, aus dem Widerstand erst hervorgehen kann: "Wer, wie ich, ganz und gar durch das Leben in der DDR gepraegt war, trug notwendig eine Reihe von festen Vorstellungen in sich, deren Ausbildung bereits in fruehester Kindheit begann. [...] So wurde auch der Mangel an einer demokratischen Kultur des Meinungsstreites in der Schule, wie er sich aus dem autoritaer gefuehrten Frontalunterricht mit ausnahmslos letztem Wort der lehrenden Autoritaet ergab, von der Allgemeinheit keineswegs als solcher empfunden." (S. 116)

Doch lehrt sein Rueckblick gleichzeitig, dass die Durchherrschung auch ihre Grenzen hatte und den quaelenden Prozess eines inneren Ausstiegs wohl behindern, aber eben nicht gaenzlich verhindern konnte. In eine innere Verweigerungs- und Abwehrhaltung getrieben, suchte Hahn seine "Identitaet auf der verborgenen Seite des gespaltenen Bewusstseins" (S. 128), was ihn zu einer Art zweigleisiger Rezeption und Verarbeitung von Geschichte fuehrte - einem offiziellen auf der schmalen Basis des verordneten Wissens und zu einem privaten, an der Literatur des Historismus orientierten Geschichtsbild. Ist der von Hahn vorgestellte "double talk" als Widerstand zu bewerten? Wohl kaum. Dennoch: Die "gewaltige Anpassungsleistung, in einem als unertraeglich empfundenen Arbeitsleben gegen den eigenen Willen ausgehalten zu haben, buchstaeblich bis an die Schmerzgrenze seelischer Ertraeglichkeit" (S. 144), die der Autor als Resuemee zieht - hat sie nun das Regime bis zu seinem Zusammenbruch verlaengern helfen, oder hat sie im Gegenteil gerade seine Grundlagen gruendlicher unterminiert als die offene Empoerung?

Der einzige Beitrag, der nicht in diese Ambivalenz muendet, stammt von dem saechsischen Landeshistoriker Karlheinz Blaschke. Kenner wissen, dass allein diese Berufsbezeichnung in der DDR doppelt unmoeglich war: Das verordnete Geschichtsbild kannte keine Laenderzuordnung ihrer Historiker, und sie kannte "Landesgeschichte" nur als ein "buergerliches" Residuum, bekaempft und ueberwunden durch die marxistische "Regionalgeschichte". Blaschke aber blieb ueber vierzig Jahre DDR hinweg saechsischer Landeshistoriker erst in der enger werdenden Nische des staatlichen Archivwesens, dann als Dozent im Kirchendienst am Theologischen Seminar Leipzig. Sein Abriss "Als buergerlicher Historiker am Rande der DDR" bietet die "Erlebnisse, Beobachtungen und Ueberlegungen eines Nonkonformisten", der sich dem dominierenden Geschichtbild konstant verweigerte und das Bekenntnis zum Marxismus unverstellt ablehnte. Nicht verwunderlich, dass Blaschkes berufliche Biographie keine Geschichte des fachlichen Aufstiegs ist, sondern eine des wissenschaftlichen Ueberlebens. Er sind vorwiegend bittere und oft demuetigende Erfahrungen, die er mitzuteilen hat. Blaschke wurde im ostdeutschen Wissenschaftsleben zur Unperson, und in seiner Stasi-Akte findet sich 1968 der Vermerk: "Wann endlich erfolgt aktive Bearbeitung und Haft"? (S. 60 f.) Trotzdem bleibt erstaunlich, dass Blaschke seinen Weg allen Huerden und Angriffen zum Trotz durchzuhalten vermochte. Er selbst markiert die Grenze der Non-Konformitaet in der sozialistischen Diktatur der DDR, wenn er ueber sich schreibt: "Was ueber mein Verhalten unter diesen Bedingungen zu sagen war, zeigt keinen Helden, aber auch nicht nur einen Stillen im Lande, vielleicht doch einen Kaempfer mit den Mitteln des Geistes. Ich war bereit, Verantwortung gegenueber der Macht wahrzunehmen, ohne meine Existenz oder auch nur meine koerperliche Freiheit zu gefaehrden." (S. 89) Seinem Widerstand gegen das herrschende Geschichtsbild lag ausser dieser Erkenntnis noch etwas anderes, Entscheidendes zugrunde, das ihn von den anderen ostdeutschen Beitraegern dieses Bandes unterscheidet: die Verankerung des 1927 Geborenen in einem anderen "Wertesystem" (S. 47), dessen Stabilitaet er dem des DDR-Sozialismus entgegenzusetzen vermochte und das erst das furchtlose Bekenntnis "Etiamsi omnes ego non" moeglich machte: "Wenn auch alle anderen - ich nicht!"

Im Ergebnis bestaetigen alle vier Beitraege den nicht neuen Befund, dass das Regime keineswegs in der Lage war, seine innere Herrschaft selbst in der oberflaechlich so angepasst wirkenden Geschichtswissenschaft ganz durchzusetzen. Die Ursachen allerdings, warum das auf radikale, Exklusivgeltung, Geschlossenheit und Aussenabschottung zielende Doktrinsysstem der sozialistischen Diktatur aeussere und innere Grenzen seiner Durchherrschung trotz aller Anstrengung nicht zu ueberwinden vermochte, laesst auch Pohls Band "Historiker in der DDR" offen.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch