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Titel
Aus Katastrophen lernen?. Grundlagen zeitgeschichtlicher Bildung in menschenrechtlicher Absicht


Autor(en)
Brumlik, Micha
Erschienen
Berlin 2004: Philo Verlag
Anzahl Seiten
188 S.
Preis
€ 19,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bert Pampel, Stiftung Sächsische Gedenkstätten, Dresden

Das „Lernen aus der Geschichte“ wird schon seit der Antike zugleich beschworen und bezweifelt. Die genozidalen Verbrechen des 20. Jahrhunderts haben für eine ungebrochene Aktualität des Topos gesorgt und Optimisten wie Pessimisten zur wiederholten Auseinandersetzung mit ihm angeregt. Auch – und vielleicht besonders – in Deutschland gehören Wendungen wie „Aus der Vergangenheit für die Zukunft lernen“ zum Standardrepertoire von Geschichtspolitikern, Gedenkstätten und zeitgeschichtlichen Bildungseinrichtungen. Appelle an das Erinnern und gegen das Vergessen finden ihre Begründung in Warnungen vor einer Wiederholung der Geschichte, falls die „Lektionen der Vergangenheit“ nicht gelernt würden. Doch lässt der formelhafte Charakter solcher Redewendungen sie mehr und mehr als abgegriffen und inhaltsleer erscheinen, so dass jede Publikation Aufmerksamkeit verdient, die – wie die hier zu besprechende – erwarten lässt, nach der Berechtigung von Gemeinplätzen zu fragen oder sie zu konkretisieren.

Was also kann es heißen, aus der jüngeren Geschichte zu lernen? Können durch zeitgeschichtliche Bildung moralische Werte vermittelt oder gefestigt werden? Können Kenntnis und Verständnis menschengemachter Katastrophen zu zivilisierenden Einsichten führen? Micha Brumlik, Professor für Erziehungswissenschaft an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main und zugleich Direktor des Fritz Bauer Instituts – Studien- und Dokumentationszentrum zur Geschichte und Wirkung des Holocaust – stellt sich diesen Fragen in fünf Kapiteln.

Im einführenden Teil „Fernstenliebe im Zeitalter der Extreme“ fragt Brumlik, was aus einer Erschütterung über das Leiden ferner und fremder Menschen in den Massenverbrechen des 20. Jahrhunderts eigentlich folge. Unter den Stichworten „human rights education“ bzw. „Pädagogik der Menschenrechte“ formuliert er die These, „daß weltbürgerliche Bildung die Form einer Menschenrechtspädagogik annimmt, deren kognitive und motivationale Grundlage die Einsicht in das Leiden der Fernsten ist“ (S. 28). Doch auf welche Weise können solche Einsichten vermittelt werden? Kann das Menschenrechtsbewusstsein durch Verbreitung von Kenntnis und Verständnis des Holocaust vorangetrieben werden? Reicht eine Erziehung aus, die darauf abzielt, dass „Auschwitz“ nicht noch einmal sei (Adorno), oder ist nicht vielmehr ein erweitertes und differenziertes Verständnis von Völkermord notwendig?

Brumlik plädiert angesichts struktureller Übereinstimmungen mit anderen Massenverbrechen dafür, zur Erklärung des Holocaust den rein nationalgeschichtlichen Rahmen zu verlassen. Dabei weist er insbesondere auf jüngere Untersuchungen zur Bedeutung des transatlantischen Sklavenhandels für die Entwicklung des modernen Rassismus hin. Wurzeln und Vorbildfunktionen für den Judenmord sieht Brumlik nicht erst in den Vorläuferverbrechen an Kubanern, Hereros oder Armeniern. Die Strukturlogik des Lagers als eines rechtsfreien Raumes kündige sich bereits in einer Entscheidung des revolutionären Frankreich von 1791 an, den Status „unfreier“ Menschen in den französischen Kolonien zu billigen. Angesichts dieser Hypothesen bleibt unklar, warum Brumlik nachfolgend gerade „Auschwitz“ als Maßstab für die Bewertung von Menschenrechtsverletzungen jedweder Dimension ansieht. Warum soll die Auseinandersetzung mit dem Holocaust zentral für die Menschenrechtsdidaktik sein? Eignen sich nicht auch viele andere Menschenrechtsverletzungen für eine solche Didaktik?

Im zweiten Kapitel beleuchtet Brumlik Grundzüge des historischen Bewusstseins, seine Beziehungen zu autobiografischem und kollektivem Gedächtnis sowie seine Bedeutung als Garant von Identität. Dabei macht er Anleihen bei der Entwicklungspsychologie, der Verhaltens- und Soziobiologie und insbesondere der Psychoanalyse. Von ihr entleiht er auch die Kategorie der Trauer und fragt – anknüpfend an bereits früher geäußerte Gedanken1 – nach ihrer Bedeutung für die Geschichtswissenschaft. Im dritten Teil zeigt Brumlik unter dem Titel „Philosophien der Geschichte“, welche Antworten so verschiedene Autoren wie Hegel, Dilthey, Nietzsche, Benjamin, Popper, Foucault, White oder Evans auf Fragen nach dem Sinn und der Gültigkeit historischer Erkenntnis gegeben haben.

Nach diesen eher praxisferneren theoretischen Ausführungen widmet sich Brumlik im vierten Kapitel den Problemen des „Unterrichtens des Ununterrichtbaren“ in der Schule und in Gedenkstätten. Zu Recht hebt er die Bedeutung von Selbstgefühl, Selbstrespekt und Selbstachtung – das heißt von Gegenwartserfahrungen – als lebensweltlichen Voraussetzungen für die Einsicht in die Würde anderer Menschen hervor und zeigt damit gleichzeitig die Grenzen zeitgeschichtlicher Bildung in menschenrechtlicher Absicht auf. Die Ansätze, Schwierigkeiten und Grenzen historisch-politischer Bildung in Gedenkstätten handelt er jedoch nur sehr oberflächlich ab. Er wiederholt im Wesentlichen seine bereits an anderer Stelle publizierte Kritik an dem Versuch der Resozialisierung straffälliger und rechtsextremistisch eingestellter Jugendlicher durch Gedenkstättenbesuche.2

Im Hinblick auf die schulische Vermittlung von Wissen über den Holocaust meint Brumlik unter Bezug auf empirische Untersuchungen, dass die Hoffnung auf moralisches Lernen durch Narrative des Leidens und Grauens sich nicht erfüllen kann, da die moralische Eindeutigkeit der Verbrechen einer Schärfung der Urteilskraft durch fehlende Konfrontation mit Mehrdeutigkeiten entgegenstehe. Das mag für die unmittelbare Konfrontation mit den Verbrechen stimmen, doch scheint mir die Geschichte des Nationalsozialismus insgesamt genügend Anknüpfungspunkte für eine Bearbeitung von Moralkonflikten zu bieten.

Im abschließenden Kapitel „Aus der Katastrophe lernen?“ kommt Brumlik auf die eingangs gestellten Fragen zurück und benennt drei Paradoxien der öffentlichen Erinnerung an den Holocaust: Darstellbarkeitsparadox, Vergleichbarkeitsparadox und Aktualisierungsparadox. Aus dem Zwang der Befassung mit der Massenvernichtung bei gleichzeitiger Unmöglichkeit, das Unvorstellbare öffentlich und ästhetisch angemessen zu repräsentieren, ergibt sich das Darstellbarkeitsparadox. Es zieht die Frage nach sich, ob und wie die Erinnerung an den Holocaust überhaupt wachgehalten werden kann. Brumlik meint, dass diesem Anspruch weder wissenschaftliche Aufklärung noch ritualiertes Gedenken gerecht werden könne, sondern allein eine „negativistische, nicht einfach darstellende, sondern jede Darstellung kritisierende Ästhetik“ (S. 176). Eng verbunden mit dem Problem der Darstellbarkeit ist die Frage nach der Vergleichbarkeit des Holocaust. Das Vergleichbarkeitsparadox ergibt sich für Brumlik daraus, dass für die Feststellung der Singularität dieses Verbrechens der Vergleich mit anderen Massenverbrechen Voraussetzung ist. Auch wer eine Wiederholung der Verbrechen verhindern will, muss vergleichen. Das darin begründete Aktualisierungsparadox besteht darin, dass die Erinnerungskultur zum einen die Geschichtlichkeit des Vergangenen behauptet, dies jedoch nicht in der Absicht eines „zweckfreien Gedenkens“, sondern in dem Bemühen, Wiederholung zu verhindern.

Die Ausführungen Brumliks zeichnen sich durch Eloquenz und Stilsicherheit aus und benennen wichtige Probleme, vor denen die zeitgeschichtliche Bildungsarbeit steht. Doch kann dies nicht verdecken, dass es sich bei dem Band insgesamt um ein fragmentarisches Sammelsurium handelt. Zu oft reißt Brumlik die wichtigen und richtigen Fragen nur an, um sich hinterher in seinen Gedanken zu verlieren, anstatt sie systematisch durchzuarbeiten. Wegen einer gewissen Sprunghaftigkeit bleiben seine Ausführungen vielfach zusammenhanglos. Ganz sicher handelt es sich um alles andere als eine „systematische Entfaltung“ von Grundlagen der Didaktik zeitgeschichtlicher Bildung, wie im Klappentext versprochen. Die Veröffentlichung geht inhaltlich nicht über das hinaus, was Brumlik zu dieser Thematik bereits vor einiger Zeit gesagt hat 3; zum Teil hat er Absätze aus früheren Veröffentlichungen wortwörtlich übernommen. Die didaktische Konkretisierung zeitgeschichtlicher Bildung im Horizont menschenrechtlicher Sensibilisierung, die man von dem Band erhoffen konnte, ist damit leider ausgeblieben.

Anmerkungen:
1 Vgl. Brumlik, Micha, Trauerrituale und politische Kultur nach der Shoah in der Bundesrepublik, in: Loewy, Hanno (Hg.), Holocaust: Die Grenzen des Verstehens. Eine Debatte um die Besetzung der Geschichte, Hamburg 1992, S. 191-212.
2 Vgl. Brumlik, Micha, Gedenkstättenarbeit mit rechten Jugendlichen: sozialpädagogisch überflüssig und bildungstheoretisch sinnlos, in: Nickolai, Werner; Lehmann, Henry (Hgg.), Grenzen der Gedenkstättenpädagogik mit rechten Jugendlichen, Freiburg im Breisgau 2002, S. 100-106.
3 Generationen und Geschichtsvermittlung der NS-Erfahrung. Einleitende Überlegungen zu einer künftigen Didaktik der Menschenrechte am Beispiel ihrer Verletzung, in: Kiesel, Doron u.a. (Hgg.), Pädagogik der Erinnerung. Didaktische Aspekte der Gedenkstättenarbeit, Frankfurt am Main 1997, S. 19-37.

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