J. Petersen u.a. (Hgg.): Faschismus und Gesellschaft in Italien

Cover
Titel
Faschismus und Gesellschaft in Italien. Staat - Wirtschaft - Kultur


Herausgeber
Jens Petersen; Wolfgang Schieder
Reihe
Italien in der Moderne 2
Erschienen
Köln 1998: SH-Verlag
Anzahl Seiten
331 S.
Preis
€ 34,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hausmann, Prof. Dr. Frank-Rutger

"Die Beiträge dieses Bandes gehen auf Referate zurück, die im Oktober 1994 in Köln auf einer von der Arbeitsgemeinschaft für die neueste Geschichte Italiens und dem Deutschen Historischen Institut in Rom gemeinsam veranstalteten Tagung gehalten wurden" (S. 7). Die hier genannte 'Arbeitsgemeinschaft', die seit 1974 die zeitgeschichtlichen Italieninteressen im deutschen Sprachraum bündelt und ein Forum des wissenschaftlichen Austauschs bzw. bibliographischer Informationen geschaffen hat, wird von Wolfgang Schieder geleitet und hat sich nicht geringe Verdienste erworben. Jens Petersen, Stellvertretender Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Rom, darf als einer der besten Kenner des gegenwärtigen Italien gelten. Beide Gelehrte haben den Band vorzüglich eingeleitet, übersichtlich gestaltet und die einzelnen Beiträge knapp und treffend resümiert, so daß sie jedem Rezensenten seine Arbeit erleichtern. Der in dieser Beziehung heute nicht mehr verwöhnte Leser registriert besonders dankbar das Namensverzeichnis am Schluß des Bandes.

In der von beiden Herausgebern gemeinsam verfaßten Einleitung wird zunächst ein präziser Abriß der italienischen wie der deutschen Faschismusforschung nach 1945 geboten, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Während die italienischen Arbeiten lange vorzugsweise um Antifaschismus und Resistenza kreisten, die die Legitimationsgrundlage der jungen Republik Italien bildeten, sich somit auf die Seite der Sieger schlugen und auf Distanz zur eigenen faschistischen Diktatur gingen, die sich auf mannigfaltige Weise mit NS-Deutschland verbündet hatte, wurde in Deutschland auf breiter Basis theoretisch wie auch sachlich geforscht, so daß insbesondere im Bereich der politisch-militärischen Geschichte die wichtigsten Einzelheiten bekannt und Synthesen damit möglich sind. Die zentrale Bedeutung des Antisemitismus für Ideologie und Herrschaftspraxis des NS-Regimes bedingte eine eigene 'deutsche' Forschungslogik, die sich für die Italiener erübrigte. Sie wollten das faschistische Italien gerade aus dem "sengenden 'Lichtkegel des Holocausts'" heraushalten (S. 11) und behaupteten deshalb eine Sonderstellung des italienischen Faschismus, der sich mit keinem anderen Regime vergleichen lasse. Die 'gemeinsame' deutsch-italienische Vergangenheit war somit Ursache dafür, daß man bei der Erforschung des Faschismus getrennte Wege ging. In Deutschland gab es zudem keine besondere italienzentrierte Forschungstradition, doch ist infolge der Bemühungen der den vorliegenden Band tragenden Institutionen in der Zwischenzeit eine erhebliche Besserung eingetreten.

Neun jüngere Historikerinnen und Historiker berichten aus ihren laufenden oder soeben abgeschlossenen Dissertationen zum Thema des italienischen Faschismus, weitere Untersuchungen, über die nicht referiert wurde, sind in Arbeit. Und auch in Italien bahnt sich langsam ein Meinungsumschwung an, der darauf zielt, den italienischen Faschismus in internationaler Perspektive zu analysieren. Im vorliegenden Band kommen beide Sehweisen zum Tragen, denn insgesamt handelt es sich um vierzehn Beiträge aus höchst unterschiedlichen Bereichen, die sich jedoch drei zentralen Themen zuordnen lassen:

1.) dem Verhältnis von Gesellschaft und Staat im faschistischen Italien,

2.) dem Problem der Kultur im Faschismus und

3.) Fragen der faschistischen Wirtschaftsordnung.

Neben den deutschen Beiträgern finden sich auch vier italienische Zeithistoriker, die sich mit der faschistischen Vergangenheit ihres Landes befassen und sich, zumindest ansatzweise, auf eine 'komparatistische' Betrachtungsweise einlassen, die sich auf Ernst Nolte und sein 1963 Buch Der Faschismus in seiner Epoche zurückführen läßt.

Giuseppe Galasso (Neapel) bearbeitet im Bereich 'Staat' die Umgestaltung der Institutionen durch das faschistische Regime in der Machtergreifungsphase.

Árpád von Klimó (Humboldt-Stipendiat in Budapest) untersucht auf kollektivbiographischer Basis die ministeriellen Spitzenbeamten von drei italienischen Ministerien im Übergang vom liberalen zum faschistischen Italien.

Daniela Giovanna Liebscher (Tübingen) analysiert für die Zeitspanne von 1925-39 erstmals die Beziehungen zwischen Faschismus und Nationalsozialismus auf sozialpolitischer Ebene, hier der Freizeitorganisationen 'Opera Nazionale Dopolavoro' und NS-Gemeinschaft 'Kraft durch Freude'.

Gabriele Turi (Florenz) eröffnet den Bereich `Kultur' mit grundlegenden Ausführungen über die Bedeutung der Kulturpolitik als eines wichtigen faschistischen Herrschaftsinstruments. Entgegen früherer Auffassungen hätten sich die Intellektuellen dem Regime nur selten verweigert und dadurch zur Stabilisierung des Systems beigetragen.

Jürgen Charmitzky (Heidelberg) liefert einen Beitrag zur faschistischen Schulpolitik. Am Beispiel des Philosophen und Erziehungsministers Giovanni Gentile kann er zeigen, daß dieser, wenn auch teilweise unabsichtlich, den Weg in den totalen Erziehungsstaat des Faschismus geebnet hat. Die Jugendorganisation 'Opera Nazionale Balilla' konnte während seiner Amtszeit immer mehr Kompetenzen des öffentlichen Bildungswesens usurpieren.

Friedemann Scriba (Leipzig) stellt die 1937/38 in Rom veranstaltete 'Mostra Augustea della Romanità' vor, die sich nationalistischer wie katholischer Aktualisierungen der Antike bediente, um den Faschismus kulturell und ideologisch zu legitimieren.

Stefan Altekamp (HU Berlin) kann Analoges für die faschistische Kolonialarchäologie in Libyen beweisen.

Andrea Hoffend (Mannheim) vergleicht die faschistische 'kulturelle Expansion' mit dem nationalsozialistischen 'Kulturimperialismus' und kommt zu dem überzeugenden Schluß, daß die italienischen Primatansprüche wesentlich weniger aggressiv und taktisch geschmeidiger vorgetragen wurden.

Den Reigen der Beiträge zur Wirtschaft eröffnet Rolf Petri (Halle-Wittenberg). Er führt aus, daß sich die ökonomischen Eliten aufgrund ihrer Interessen nicht anders als die bürokratischen und kulturellen auch nur so lange mit dem System verbündeten, als dieses auf der Siegerstraße marschierte. Nach El-Alamein (1942) wandten sie sich rasch vom Faschismus ab und traten gelegentlich sogar in Opposition zum Regime.

Anne von Oswald (FU Berlin) befaßt sich mit den deutschen Wirtschaftsstrategien auf dem italienischen Markt in der giolittianischen Vor- und der faschistischen Zwischenkriegszeit, als es darum ging, Positionen zu behaupten oder solche, die im Ersten Weltkrieg verloren gegangen waren, wiederzugewinnen.

Brunello Mantelli (Turin) widmet sich vorzugsweise der an die von Frau von Oswald behandelte anschließende Epoche und zeigt, wie das faschistische Italien auch ökonomisch in immer stärkere Abhängigkeit vom Deutschen Reich geriet.

Alexander Nütznadel (Köln) befaßt sich mit der faschistischen Agrarpolitik im Rahmen von Autarkiebestrebungen. Es gelang Italien, vom Nettoimporteur zum Überschußland aufzusteigen.

Claudio Natoli (Cagliari) beschließt den Band mit kritischen Bemerkungen zur italienischen Faschismus- und Antifaschismusforschung. Er weist mahnend darauf hin, daß das faschistische Regime keinesfalls eine abgeschlossene Periode bilde und historisch verarbeitet sei, sondern "ein konstantes Monitum für das demokratische Bewußtsein in allen europäischen Staaten" (S. 327) darstelle. Als wichtigstes und überraschendes Ergebnis aller Einzelbeiträge läßt sich die große Nähe zwischen dem faschistischen Italien und NS-Deutschland festhalten, die bisher in der Forschung nur gelegentlich thematisiert worden ist.

Sammelbände haben neben dem Vorzug der aktuellen Vielfalt bekanntlich auch gewisse, auf der Hand liegende Nachteile, und davon ist der hier anzuzeigende nicht ausgenommen. Sein Erkenntnisgewinn ist relativ, denn da die meisten Beiträge aus größeren, bereits publizierten Arbeiten hervorgegangen sind, wird ein Leser besser und umfassender informiert, wenn er gleich zu diesen umfassenderen Versionen greift. Wirklich Neues wird kaum geboten, auch wenn anders akzentuiert wird, da sich die Referenten meist auf einen, ihnen besonders wichtig erscheinenden Teilaspekt ihrer größeren Studien konzentrieren. Die im Titel suggerierte Gesamtschau vermag der Band nicht einzulösen, denn die behandelten Aspekte sind heterogen und ergeben nur ein unvollständiges Bild der faschistischen Wirklichkeit. Das hätte anders sein können, wenn man nicht überwiegend auf bereits Erarbeitetes zurückgegriffen, sondern, davon ausgehend, neue und unbekannte Sachverhalte erforscht und aufbereitet hätte.

Die einzelnen Beiträge lassen zudem nicht erkennen, daß mit der Verhaftung Mussolinis (25. Juli 1943) und dem dadurch bedingten politischen Seitenwechsel Italiens ein Riß durch das Land ging, da der von den deutschen besetzte Norden bis zum bitteren Ende in seiner Bündnistreue verharrte. Wenngleich die Repubblica Sociale di Salò ein Marionettengebilde von deutschen Gnaden war, so handelte es sich doch um einen faschistischen Satellitenstaat. Generell fehlt eine Thematisierung des Krieges, der starke Auswirkungen auf die Trias Staat - Wirtschaft - Kultur hatte, was nur gelegentlich aufscheint.

Der Band wird zudem von einer 'In-Group' getragen, fremde Leistungen zum Gegenstand werden nicht immer wahrgenommen. Dies gilt beispielsweise für die Literaturwissenschaft, wo es seit einiger Zeit eine respektable Erforschung des 'ventennio nero' gibt 1. Es gilt auch für den Bereich der Wirtschaft, wo z.B. die Arbeiten Gustavo Cornis zur Nahrungsmittelversorgung, insbesondere der italienisch-deutsche Vergleich, nur ungenügend rezipiert werden 2. Da die Autoren der Einzelbeiträge mit einer Ausnahme Historiker sind - Altekamp ist klassischer Archäologe -, konzentrieren sie sich allzu stark auf materielle Aspekte des Themas, auf Institutionen und ihre Organisationsverfahren, die besser nachprüfbar sind als ideologische Konzepte. Im Einzelfall wäre jedoch zu fragen, was das Aufkommen des Faschismus ermöglicht hat und wer jeweils welche Diskurse gepflegt hat 3. Hier gibt es sicherlich einen großen Nachholbedarf, denn die deutsche Forschung ist diesbezüglich weiter als die italienische 4.

Literatur- und Sprachwissenschaft haben mit Imagologie, Identitäts- und Alteritätsforschung, Kulturanthropologie, Begriffsgeschichte u.a. mehr, um nur ein paar Sehweisen zu benennen, ein besseres Verständnis des Funktionierens faschistischer Gesellschaftssysteme ermöglicht. Insofern liefert der vorliegende Band zwar eine interessante und höchst wichtige Bestandsaufnahme, kann oder sollte jedoch Ausgangspunkt für eine immer weiter voranzutreibende und zu verfeinernde Erforschung des hier interessierenden Gegenstandes sein. Die komparatistische Betrachtung, die allerdings in den von Deutschen verfaßten Beiträgen dominiert, erweist sich dabei als eine besonders taugliche Vorgehensweise, um das jeweils spezifisch Italienische oder Deutsche präzise zu erfassen. Der komparatistische Ansatz sollte sich jedoch nicht nur im bloßen Ländervergleich erschöpfen, sondern auch interdisziplinär und plurimethodisch vertieft werden.

 

Anmerkungen:
1 Stefani Arnold, Vergessene Literatur des ventennio nero. Italienische Kurzprosa zwischen 1922 und 1945 am Beispiel der frühen racconti Alberto Moravias, Bonn 1997 (mit Hinweisen auf die Arbeiten von Thomas Bremer, Susanne von Falkenhausen, Manfred Hardt, Helene Harth, Monika Kiffer, Manfred Weichmann u.a.).
2 Gustavo Corni, "Die Agrarpolitik des Faschismus: ein Vergleich zwischen Deutschland und Italien", Tel Aviver Jahrbücher für deutsche Geschichte 17 (1988), S. 391-432; Gustavo Corni / Horst Gies, Brot - Butter - Kanonen. Die Ernäherungswirtschaft in Deutschland unter der Diktatur Hitlers, Berlin 1997.
3 Vgl. z.B. jetzt die Briefauswahl von Aurelio Lepre, L'occhio del Duce. Gli italiani e la censura di guerra 1940-1943, Milano: Mondadori 1992.
4 Cornelia Schmitz-Berning, Vokabular des National-Sozialismus, Berlin/ New York, 2. Aufl. 1998.

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