H. Carl u.a. (Hgg.): Kriegsniederlagen

Cover
Titel
Kriegsniederlagen. Erfahrungen und Erinnerungen


Herausgeber
Carl, Horst; Kortüm, Hans-Henning; Langewiesche, Dieter; Lenger, Friedrich
Erschienen
Berlin 2004: Akademie Verlag
Anzahl Seiten
471 S.
Preis
€ 49,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Boris Barth, Fachbereich Geschichte und Soziologie, Universität Konstanz

Der zur Besprechung vorliegende, aufwendig gestaltete Sammelband ist aus zwei Tagungen hervorgegangen, die im Oktober 2002 und April 2003 von der Forschergruppe Krieg im Mittelalter (Regensburg), dem Tübinger Sonderforschungsbereich Kriegserfahrungen und dem Giessener Sonderforschungsbereich Erinnerungskulturen veranstaltet wurden. Der Schwerpunkt der Beiträge liegt eindeutig auf dem deutschsprachigen Raum und in der Neuzeit: Neben einer kurzen, aber lesenswerten und sensibel abwägenden Einführung der Herausgeber beschäftigen sich von 24 Aufsätzen 16 mit im weitesten Sinne deutschsprachigen Territorien. Zeitlich befassen sich zwei Autoren mit dem Mittelalter, sechs mit der frühen Neuzeit und 16 mit der Neuzeit, bzw. der Zeitgeschichte. Das Buch ist in fünf Hauptteile gegliedert (Historiografische und literarische Verarbeitung, Lernprozesse und politische Instrumentalisierungen, Religiöse Deutungsmuster, Diskurse um Geschlecht und Ehre, Mediale Bearbeitungen). Bedingt durch die Fragestellung, die sich nicht für die Niederlagen selbst, sondern für die jeweilige Verarbeitung, Rezeption, Bewältigung und Interpretation interessiert, ist die Militärgeschichte fast überhaupt nicht vertreten. Programmatisch wird hervorgehoben, dass ein kulturgeschichtlicher Zugang zum Thema Krieg erprobt werden soll und dass die wesentlichen Pfeiler der theoretischen Konzeption in den Kategorien Erfahrung und Erinnerung bestehen.

Es ist wegen des Umfanges des Bandes nicht möglich, einzelne Aufsätze zu diskutieren, bzw. angemessen zu würdigen. Stattdessen sollen einige generelle Aspekte vorgestellt werden. Die Beiträge zeigen vor allem, wie schwierig es zu sein scheint, den scheinbar unstrittigen und militärtheoretisch eindeutigen Begriff der „Niederlage“ im Krieg zu fassen, wenn die Perspektive der Unterlegenen mit ihren häufig vielfältigen Interpretationsversuchen untersucht wird. Niederlagen in einem Krieg wirken noch nach Jahrzehnten, manchmal sogar nach Jahrhunderten mythenbildend. Taktische Niederlagen können in strategische Erfolge umgedeutet werden, eindeutige militärische Niederlagen in moralische Siege, eine Niederlage kann als religiöse Bewährungsprobe und als Teil des göttlichen Handelns auf Erden, oder auch als Strafe Gottes verstanden werden. Eine Niederlage kann damit im Zusammenhang ferner in innenpolitischen Auseinandersetzungen gegen eine bestimmte konkurrierende gesellschaftliche Schicht oder soziale Gruppe in vielfältiger Weise politisch instrumentalisiert werden. Niederlagen können auch als notwendige Voraussetzung für einen Sieg im nächsten Krieg gedeutet werden, und sie können zu ausgeprägten Sonderwegsdeutungen (Langewiesche) führen. Auch zeigen einige Fallstudien, wie etwa das Beispiel der bayerischen Soldaten, die an Napoleons Russlandfeldzug teilgenommen haben, dass im Nachhinein durch einen grundsätzlichen Perspektivwechsel eindeutige Niederlagen in Siege umgemünzt werden können, auch wenn die ursprünglichen Quellen eine ganz andere Interpretationsweise nahe legen. Schließlich werden, wie im Falle Polens, Niederlagen als Teil einer Abfolge von nationalen Katastrophen begriffen, und sie schaffen auf diese Weise Kristallisationspunkte von kollektiver Identität. Die nationale Erinnerungskultur interpretiert dann die Qualität der Niederlagen gänzlich neu, und die Nation als Ganzes kann letztlich nur noch Siege erringen. Diese und weitere, im Einzelfall häufig schillernde und vielfältige Deutungsmuster finden sich als durchgängige Motive.

Teilweise explizit, teilweise indirekt stellen mehrere Autoren das bekannte Diktum von Koselleck an den Anfang ihrer Darstellung, nach dem der Verlierer nach einem Krieg über eine höhere Analysefähigkeit verfügt, als der Sieger. Allerdings wird dieser auf den ersten Blick einleuchtenden These von mehreren Autoren (z.B. Kortüm am Beispiel der Azincourt-Rezeption) widersprochen. Die Franzosen, so die These, hätten sich nicht mit der verlorenen Schlacht, sondern mit dem Krieg, den sie gewonnen hätten, befasst, und die Engländer hätten sich mit der Schlacht, die sie gewonnen hätten und nicht mit dem Krieg, den sie verloren hätten, beschäftigt (S. 93). „Nicht die Niederlage an sich erzeugt Erfahrungsgewinn, sondern die Art, wie die Nachkriegsgesellschaft mit ihr umgeht.“ (Einleitung, S. 9) So sind auch Fälle bekannt, analysiert etwa am Beispiel von 1866, wo das von der Wirklichkeit konterkarierte Weltbild bei einigen Gruppen zementiert wurde, und der Trend zur radikalen Opposition in die politische Isolation führte. Im Gegensatz hierzu definierte die bayerische Geschichtspolitik die Niederlage wirkungsmächtig zu einem retrospektiven Sieg um. Tübinger Studenten wurden nach 1918 faktisch zu Gefangenen ihrer eigenen Interpretation, das nationale Vermächtnis ihrer gefallenen Kommilitonen in einem neuen Krieg zu wahren, um dem Opfertod einen Sinn zu geben. Studenten aus Cambridge hingegen konnten sich durch den Sieg vom Krieg selbst distanzieren, auch weil die öffentliche Sinnstiftung in England einfacher als in Deutschland war. Da die Gefallenen mit dem Sieg im Weltkrieg ihre Mission verwirklicht hatten, hatte ihr Tod einen unmittelbar erfassbaren Inhalt.

Positiv ist zu vermerken, dass fast alle Autoren dieses Bandes neben klassischen methodischen Ansätzen moderne Diskurs- und Perzeptionsanalysen benutzen. Diese werden nicht in umfangreichen theoretischen Exkursen dargelegt und gerechtfertigt, sondern jeweils auf den konkreten Stoff angewandt. Deshalb zeichnen sich fast alle Beiträge durch einen hohen Grad von angewandter theoretischer Reflexion aus. Auch wenn viel von Ehrbegriffen, gender und religiösen Deutungsmustern die Rede ist, und die Rezeptionsebene eindeutig im Mittelpunkt steht, gerät das Politische nie aus dem Blick: In geradezu vorbildlicher Weise wird moderne Politikgeschichte geschrieben. Eindeutig positiv fällt an diesem Band ferner auf, dass fast alle Autoren in der Lage sind, nicht nur ihr jeweiliges Untersuchungsgebiet knapp und präzise darzustellen, sondern vor allem ihren Stoff mit übergreifenden Fragestellungen vergleichend zu diskutieren. Dadurch sind beispielsweise die Darstellung und Interpretation des Rolandliedes, die mediale Verarbeitung der Schlacht von Sempach (1386) oder die Verarbeitung des Schmalkaldischen Krieges auch für den Neuzeithistoriker von Interesse. Das Niveau der Beiträge ist durchweg hoch, die Argumentation fast immer souverän. Der Band verfügt deshalb über ein hohes Maß an innerer und begrifflicher Kohärenz und Klarheit, eine Stärke, die sonst bekanntermaßen bei Sammel- und Tagungsbänden eher selten ist.

Der Rezensent ist von der Konzeption des Bandes und dem Niveau der Beiträge überaus angetan und hat nur zwei kleine Dinge zu bemängeln: Erstens fehlt dem Buch leider ein Register, wodurch die Benutzbarkeit eingeschränkt wird, und zweitens ist das Thema sehr stark von der mitteleuropäischen Region her definiert. Die außereuropäische Welt ist nur durch zwei Beiträge zu den USA (davon einer zum 11. September 2001) vertreten. Dadurch wird nicht wirklich deutlich, ob die vielfältigen und uneinheitlichen Versuche, mit Niederlagen im Krieg umzugehen, bzw. sie in Erfolge umzudeuten, ein vorwiegend mitteleuropäisches, bzw. westliches Phänomen sind, oder ob es sich universalistisch verallgemeinern lässt. Letzteres wäre zumindest zu vermuten.

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