U. Bröckling u.a. (Hgg.): Armeen und ihre Deserteure

Titel
Armeen und ihre Deserteure. Vernachlaessigte Kapitel einer Militaergeschichte der Neuzeit


Herausgeber
Bröckling, Ulrich; Michael Sikora
Reihe
Sammlung Vandenhoeck
Erschienen
Goettingen 1998: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
321 S.
Preis
€ 26,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolfram Wette

Ueber Jahrzehnte hinweg war es ein Tabuthema par excellence. Heute sind wir weiter. Wir brauchen ueber die Deserteure der Wehrmacht nicht mehr hinter vorgehaltener Hand zu sprechen. Eine grosse Mehrheit unserer Zeitgenossen weiblichen wie maennlichen Geschlechts ist bereit, ihnen jenen Respekt zu zollen, der ihnen allzu lange vorenthalten worden ist. Die historische Forschung, die eigene Anstoesse zu diesem gesellschaftlichen Diskussionsprozess gegeben hat, ist ihrerseits dazu angeregt worden, sich mit dem so lange vernachlaessigten Thema intensiver und aus unterschiedlichen Perspektiven zu befassen. Das ist zu begruessen. Denn die unbefangene Befassung mit dem Problem der Desertion ist geeignet, ueber den Zusammenhang von individuellen Freiheitsrechten und der Zumutung des Kriegsdienstes nachzudenken.

Die Herausgeber Ulrich Broeckling und Michael Sikora sind sich ueber den politischen wie auch historischen Stellenwert des Problems im klaren. Sie betonen, die Desertion beruehre "den archimedischen Punkt politischer Herrschaft: ihren Anspruch auf die Ausuebung legitimer Gewalt" (S. 7). Eben diesen stellen die Deserteure naemlich in frage. "Die Geschichte der Desertion ist daher eingebettet in den Prozess der modernen Staatsbildung und beleuchtet Brueche und Widerstaende auf diesem Weg." (S. 9)

Den Zusammenhang von Staat und Dersertion in der Geschichte der Neuzeit von 1500 bis zur Gegenwart will der Band 'Armeen und ihre Deserteure' erstmals in seinen Kontinuitaeten und Bruechen beleuchten. Zehn juengere Historiker und eine Historikerin haben sich dieser Aufgabe gemeinsam gestellt. Dabei sind sie jener Perspektive verpflichtet, die als 'Militaergeschichte von unten' bezeichnet wird. Das heisst, sie behandeln nicht vordringlich die Methoden militaerischer Disziplinierung. Stattdessen gegen sie der Frage nach, was die Deserteure zum Desertieren veranlasste. Zugleich wollen sie in Erfahrung bringen, ob sich aus den Erscheinungsformen der Fahnenflucht Rueckschluesse auf den Charakter der jeweiligen Armeen ziehen lassen. War das Ausmass der Desertionen ein Indiz fuer die mangelnde Legitimation bestimmter Armeen und ihrer Kriege? Ging es den Fahnenfluechtigen um Ideale, ums Vaterland, um den Frieden oder um ihre Haut und ums Geld?

In der Zeit der Soeldnerheere jedenfalls desertierten die Landsknechte in der Regel nicht aus irgendwelchen ideellen Motiven. Sie liefen davon, weil die Logistik nicht funktionierte oder weil die Entlohnung auf sich warten liess. Dann verdingten sie sich dort, wo das materielle Leben eher gewaehrleistet zu sein schien. Frontenwechsel waren so keine Seltenheit. Wie Reinhard Baumann zeigt, war die Desertion in den klassischen Soeldnerheeren gar nicht die vorherrschende Protestform, sondern die Meuterei. Sie verfolgte das Ziel, den Kriegsherrn zur Einhaltung der geschlossenen Vertraege zu zwingen. Wenn es im Dreissigjaehrigen Krieg bei allen Kriegsparteien zu zahlreichen Desertionen kam, so lag dies, Michael Kaiser zufolge, vornehmlich an der psychischen Belastung durch die langdauernden Kriegsanstrengungen. Die stehenden Fuerstenheere des 18. Jahrhunderts reagierten auf diese Erfahrung mit rigorosen Disziplinierungsmassnahmen, die das Problem jedoch keineswegs zu loesen vermochten. Den Beitraegen von Peter Burschel und Michael Sikora ist zu entnehmen, wie in dieser Phase Repression von oben und Verweigerung von unten korrespondierten.

Eine ganz neue Dimension des Problems brachte die Franzoesische Revolution hervor. Nun wurde tendenziell die gesamte maennliche Gesellschaft fuer den Kriegsdienst in Anspruch genommen und dieser selbst ideologisch aufgeladen. Die preussischen Militaerreformen des fruehen 19. Jahrhunderts folgten dem Vorbild des revolutionaeren Frankreich insoweit, als auch hier die Wehrpflicht eingefuehrt wurde, womit sich die Rahmenbedingungen fuer militaerische Verweigerung massiv verschlechterten. Die Wehrpflicht wurde zum Ausgangspunkt fuer ein neues Verhaeltnis zwischen den Armeen und ihren Deserteuren. Wo Soldaten im Zuge innenpolitischer Auseinandersetzungen schiessen sollten, mehrten sich die Faelle von Desertion. Sabrina Mueller zeigt dies anschaulich in ihrer Studie ueber die Revolution von 1848/49.

Im Kontingentsheer des 1871 gegruendeten preussisch-deutschen Kaiserreiches spielte die Fahnenflucht keine besondere Rolle. In den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg bahnte sich allerdings - und zwar in medizinischen Fachdiskursen - eine besondere Form der Diskriminierung der Desertion an: Abweichendes Verhalten wurde im Kontext sozialdarwinistischen Denkens als minderwertig, schwachsinnig und krankhaft gewertet. Die Frage, ob, wann und wie diese - von Ulrich Broeckling nachgezeichnete Theoriedebatte - dann auch praktisch wurde, bleibt offen. Christoph Jahr, der sich mit der Desertion und der Militaergerichtsbarkeit waehrend des Ersten Weltkrieges auseindersetzt, berichtet jedenfalls nichts ueber die Einweisung von Verweigerern und Deserteuren in Irrenanstalten, sondern weist darauf hin, dass die deutsche Militaerjustiz mit den Deserteuren milder umging als dies in England und Frankreich der Fall war. Da fuer Desertion nur selten die Todesstrafe verhaengt wurde, handelten sich die Militaerrichter von nationalistischer Seite den Vorwurf ein, den militaerischen Zusammenbruch mit verschuldet zu haben.

In diesen Zusammenhang muss man die Radikalisierung der Militaerjustiz waehrend des Zweiten Weltkrieges stellen. Als Reaktion auf die genannten Vorwuerfe legte sie eine masslose Haerte an den Tag und verhaengte mehr als 20.000 Todesurteile wegen Fahnenflucht, von denen mindestens 15.000 auch vollstreckt wurden. "Keine andere Armee in diesem Jahrhundert ist so ausserordentlich brutal gegen Deserteure vorgegangen wie die Deutsche Wehrmacht" (S. 238). Dieter Knippschild, der den Forschungsstand ueber die Wehrmacht-Deserteure resuemiert, betont einmal mehr den - fuer die Geschichte der desertion insgesamt charakteristischen - Tatbestand, dass die Motive der Fahnenfluechtigen recht unterschiedlich waren.

In seinem Beitrag ueber Desertion aus der Nationalen Volksarmee - sie war zeitweise geradezu ein Massenphaenomen - macht Ruediger Wenzke deutlich, dass Fahnenflucht hier in aller Regel mit Republikflucht identisch war, also keine unmittelbar militaerischen Ursachen haben musste. NVA-Deserteuren wurden im Westen haeufig politische Motive unterstellt, auch wenn diese gar nicht bestanden.

Ulrich Broeckling setzt sich in seinem abschliessenden Beitrag mit der Frage auseinander, weshalb es auch in der Bundesrepublik Deutschland, trotz legalisierter Kriegsdienstverweigerung sowie der - bis 1990 bestehenden - Moeglichkeit, in das entmilitarisierte West-Berlin zu ziehen, 'Truppenfluechter' gab. Im Jahre 1972 wurden in der Bundeswehr nicht weniger als 12.643 Faelle von Fahnenflucht und eigenmaechtiger Abwesenheit gezaehlt (S. 302). Weiterhin informiert er ueber die Motive der sogenannten Totalverweigerer, die auch die Ableistung eines Zivildienstes ablehnen.

Heute kann man ueber das Thema Desertion sprechen, ohne dafuer als Geisteskranker oder 'Volksschaedling' diskriminiert zu werden. Dafuer garantiert nicht zuletzt unsere Verfassung. Der Kriegsdienst als existenzielle Zumutung fuer jeden maennlichen Buerger in einem bestimmten Lebensalter ist in Deutschland seit 1945 kein akutes Problem mehr. Dieser Befund darf allerdings nicht mit Entwarnung gleichgesetzt werden. Denn auch die staatlichen Gewaltapparate haben sich infolge der veraenderten Kriegstechnik fundamental gewandelt. Die Massenarmeen mit ihren spezifischen Formen der Desertion gehoeren in den Industriestaaten unwiderruflich der Vergangenheit an. Aber der kriegerische Konfliktaustrag ist keineswegs unwiderruflich gebannt. So wird auch das Militaer des High-Tech-Zeitalters den Deserteur nicht abschaffen, sondern einen neuen Typus hervorbringen.

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