P. Münch (Hg.): Jubiläum, Jubiläum...

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Titel
Jubiläum, Jubiläum.... Zur Geschichte öffentlicher und privater Erinnerung


Herausgeber
Münch, Paul
Erschienen
Anzahl Seiten
320 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Adelheid von Saldern, Historisches Seminar, Universität Hannover

Untersuchungen über Jubiläen befinden sich im Aufwind, nicht zuletzt deshalb, weil sie eine handhabbare Möglichkeit bieten, die Themenfelder Geschichtskultur und Erinnerungspolitik zu bearbeiten.1 Handhabbar sind die Jubiläen deshalb, weil diese Ereignisse wegen ihrer genauen zeitlichen und räumlichen Rahmung und der meist guten Quellen über Abläufe und Inhalte auf der phänomenologischen Ebene relativ schnell rekonstruiert werden können. Schwieriger wird es schon, den Erkenntniswert solcher historiografischen Zugänge theoretisch zu bestimmen und überzeugend herauszuarbeiten. Zu fragen ist, wie weit solche „Sonden“ in das Innere von Gesellschaften einzudringen vermögen und ob dabei aussagekräftige Ergebnisse über diese Gesellschaften erzielt werden können – oder zumindest über die maßgeblichen Akteursgruppen und deren Weltsichten, Normen und Werte. Im hier zu besprechenden, aus einer Tagung hervorgegangenen Sammelband nehmen sich die AutorInnen der Jubiläen verschiedener Gesellschaften in verschiedenen Jahrhunderten und verschiedenen Ländern an. Wie steht es mit dem Erkenntniswert eines solchen Zugriffs?

Im ersten, von Winfried Müller verfassten Beitrag wird gut nachvollziehbar die Entstehungsgeschichte von Jubiläen dargestellt, vom jüdischen Sabbatjahr über das katholische Heilige Jahr bis zu den Jubiläumsfeiern der protestantischen Universitäten während der Reformationszeit. Bald darauf bildeten sich auch die typischen Strukturen des Gedenkens heraus, wie Arndt Brendecke am Beispiel des Tübinger Universitätsjubiläums von 1577 und anderen frühneuzeitlichen Gedächtnisreden hervorhebt. Als immer wiederkehrende Merkmale können Ausdrücke der Freude, des Dankes, der Mahnung sowie positiv gestaltete Geschichtsbilder gelten. Die „gewachsene Verfügbarkeit des historischen Arguments“ bei solchen Gedenkreden könne als modern gelten (S. 83). Die Reformation steht auch im Aufsatz von Hartmut Lehmann im Mittelpunkt, genauer: das Gedenken an Luthers Anschlag der 95 Thesen an die Tür der Wittenberger Schlosskirche vom 31. Oktober 1517. Lehmann verfolgt die Bedeutungszunahme dieses Ereignisses seit dem frühen 19. Jahrhundert, ferner die allmähliche politische Instrumentalisierung des Gedenktages, die im Zeichen eines überzogenen Nationalismus stand, und schließlich dessen Niedergang in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Für die Einprägung des angeblichen Hammerschlags spielten nicht zuletzt bildliche Darstellungen eine Rolle; für das Verblassen des Gedenkens waren in diesem Falle wissenschaftliche Forschungsergebnisse mit ausschlaggebend, wonach dem 31. Oktober 1517 keine welthistorische Zäsurbedeutung beigemessen, sondern mehr die Kontinuität vor und nach diesem Datum betont wurde.

Während es sich bei Luthers Hammerschlag um eine erfundene Tradition handelt, gibt es umgekehrt reale Ereignisse, die aus dem kollektiven Gedächtnis ausgesondert wurden, wie Heinz Duchhardt am Beispiel der Friedensschlüsse aufzeigt. Als Gründe nennt er eine bis 1945 währende Machtpolitik, die Kriege einkalkuliert und legitimiert hat, ferner die geringen Veränderungen, die Friedensschlüsse oftmals für die Menschen erbracht haben, sowie die fehlende Evokation von großen Emotionen. Geht es Duchhardt primär um das Vergessen, so präsentiert Klaus Deinats Beitrag Beispiele erinnerungspolitischer Konkurrenz. Aufgrund der wechselnden politischen Systeme sowie der starken Fraktionierungen der Akteursgruppen habe sich in Frankreich bis zur Centenaire-Feier von 1889 kein Revolutionsjubiläum einbürgern können.

Im Unterschied zu den meisten anderen Beiträgen, die auf die Entwicklungsgeschichte von Jubiläen oder den Wandel eines bestimmten Gedenktages abheben, konzentriert sich Klaus Tenfelde auf die Analyse einer einzigen Feier. Quellengesättigt und facettenreich untersucht er die Kruppsche Jahrhundertveranstaltung im Jahr 1912 und beschreibt die durch den Kaiserbesuch ins Märchenhafte gesteigerte Machtinszenierung. So nimmt es nicht wunder, dass der Selbstentwurf der Firma – „Erfindungsgeist, Aufbau aus kleinsten Anfängen, Opferbereitschaft, geniales Unternehmertum“ – auch mit der Größe des Deutschen Reiches verkoppelt, das Zusammenspiel von Politik und Großunternehmertum unterstrichen und die Belegschaft als Werksgemeinschaft verklärt wurde.

Während Tenfelde mit seinem Beitrag klar konturierte Einblicke in die Jubiläumskultur des Großunternehmertums um 1900 gibt, führt uns der einprägsam geschriebene Aufsatz von Michael Zimmermann zu den Strategien heutiger Kommunen. Seine mehrdimensionale Analyse der Feier „1150 Jahre Stift und Stadt Essen“ (2002) lässt den Konstruktionscharakter solcher Feste besonders gut erkennen, angefangen bei der Datumssuche über die Vermischung von Stadt und Stift bis hin zur Reaktualisierung des Mittelalters via Madonna-Kult. Denn städtische Sinnstiftung, so Zimmermann, sollte nicht mehr hauptsächlich auf der Industrialisierung der Ruhrgebietsstadt basieren. Das Ziel der Feier, eine Brücke zwischen den weit zurückreichenden Geschichtstraditionen, den gegenwärtigen Verhältnissen und den zukünftigen Visionen zu bauen, konnte jedoch nicht glaubhaft vermittelt werden.

Zurück ins 19. Jahrhundert führt uns Rüdiger vom Bruch in seinem Beitrag über die vielen, insbesondere vom Bürgertum getragenen Gedenkfeiern, bei denen Dichter, Musiker, Maler und Gelehrte geehrt wurden. Vom Bruch thematisiert die im Kaiserreich zur Hochblüte gelangten national-deutschen Zuschreibungen und betont außerdem, dass sich die ursprünglich bildungsreligiös akzentuierte deutsche Nationalkultur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer mehr wissenschaftsreligiös besetzten Nationalkultur entwickelt habe. Da der mit der Kulturgeschichte sehr vertraute Autor hier ein tour-d’horizon-Verfahren wählt, vermisst man – besonders im Hinblick auf die einzelnen Phasen des 20. Jahrhunderts – genauere Einbindungen in die jeweiligen gesellschaftlichen und politischen Zusammenhänge. Ähnliches lässt sich auch von dem leider sehr kurz geratenen Aufsatz der Volkskundlerin Christel Köhle-Herzinger sagen, bei dem private Gedenktage im Mittelpunkt stehen. Am Beispiel der Jubiläumsfeier einer Primizbraut (ehedem eine in weiß gekleidete Achtjährige, die ihren Onkel bei seiner priesterlichen Primizfeier an herausgehobener Stelle begleiten durfte) sowie mit Blick auf Berufsjubiläen lenkt sie die Aufmerksamkeit der LeserInnen zwar auf wichtige, in der Literatur meist vernachlässigte Aspekte – so auf Geschlechterfragen, Verschränkungen des Privaten mit dem Öffentlichen und den Aufbau einer eigenständigen Jubilarkultur mit Urkunden, Girlanden und Geschenken –, doch wird der Aussagewert durch das Skizzenhafte der Ausführungen begrenzt.

Im letzten Teil des Buches schweift der Blick auf andere Länder. Claire Cantet beschäftigt sich nicht mit Jubiläen, sondern mit der Entwicklung der französischen Theorien über das „kollektive Gedächtnis“, die vor allem durch die Einflüsse von Halbwachs, Nora, Veyne, Farge und Ricœur geprägt worden seien. Über die englischsprachigen Debatten berichtet Charles Zika, der in Melbourne lehrt. Der Autor zeigt unter anderem mit Blick auf die Aborigenes, welche Diskrepanzen zwischen den von kulturellen Minderheiten erinnerten Ereignissen und der offiziellen Geschichtskultur vorhanden seien, und plädiert dafür, dass dieser Sachverhalt auch für die Geschichtsschreibung Folgen haben müsse. Anders gelagert sind die Schwierigkeiten, die Rudolf Jaworski in seinem informativen Überblick zu den vielfältigen Versuchen, eine Erinnerungskultur in den (mittel)osteuropäischen Nationen aufzubauen, gut herausarbeitet. Er schließt mit einem Blick auf die Gegenwart: In diesen Regionen werde versucht, sich als historische Mitte Europas zu definieren. Spannend zu lesen ist schließlich der Beitrag von Christoph Marx, der das Jubiläum der Buren Südafrikas am 16. Dezember 1938 genau beschreibt und interpretiert. Aus dem Kreuzzug im Geiste eines afrikaansen Kulturnationalismus wurde schließlich – so Marx in seinem Ausblick – seit den 1960er-Jahren ein Erinnern an die „weiße Schicksalsgemeinschaft“, deren Gegensätze untereinander damit überdeckt worden seien. Der Tag wurde jedoch auch zu einem Datum, das sich die Black-Conciousness-Bewegung aneignete und mit alternativen Deutungsmustern versah.

Aleida Assmann, deren pointiert geschriebener Beitrag den Sammelband beschließt, betont drei Funktionen von Jahrestagen: Interaktion und Partizipation, Wir-Inszenierungen sowie Anstöße zur Reflexion. In ihrer Auseinandersetzung mit Heinz Schlaffer, der die modernen Gedenkrituale infolge der Macht der Kulturindustrie als kontraproduktiv für eine ertragreiche Erinnerungspolitik ansieht, bestätigt Assmann zwar, dass eine „zunehmende Tendenz zur Selbsthistorisierung der Gesellschaft“ bestehe, die dazu führe, „dass Gegenwartserscheinungen in sporadischen Spotlights auf ihre Anfänge hin ausgeleuchtet werden“ (S. 314). Davon hebt sie aber „Jubiläen des kulturellen Gedächtnisses“ ab, „in denen sich eine Gesellschaft zentraler Wendepunkte und dauerhafter Impulse ihrer Geschichte versichert“ (ebd.). Assmann legitimiert das periodisch rhythmisierte Erinnern damit als eine eigenständige Zeitschiene, die zu pflegen sowohl für Individuen als auch für Gesellschaften notwendig sei. Öffentliche Erinnerungstage könnten als gesellschaftlicher Ausdruck eines „offenen Deutungshorizontes der kulturellen Gedächtnisbestände“ gelten (S. 313). Solche Gedächtnispraxis bedürfe einer „Öffentlichkeit, die nicht mit Markt und Medien gleichzusetzen“ sei, sondern der „Suche nach Orientierung und der Vergewisserung von Identität“ diene (S. 314). Bei der Wahrnehmung solcher Aufgaben sind, so kann ergänzt werden, HistorikerInnen besonders gefragt, doch ist es auch für sie schwierig, sich gegenüber der Sogkraft von Markt und Medien zu behaupten.

Der hauptsächliche Erkenntniswert dieses quantitativ und qualitativ ungleichgewichtigen Sammelbandes liegt darin, dass die AutorInnen jene Komponenten herausgearbeitet haben, welche in der Jahrhunderte alten Geschichte von Jubiläen in der einen oder anderen Weise immer wiederkehr(t)en. Als Charakteristika der Geschichte der Gedenkfeiern gelten, so das Fazit der Lektüre, die jeweiligen Dominanzansprüche der Akteursgruppen hinsichtlich der jubiläumsbezogenen Sinnsetzungen und deren Konkurrenzsituationen untereinander, die Vielfalt des Vergessens und Verdrängens, die Relevanz der Rituale, Symbole, Vexierbilder und Inszenierungen sowie die oftmals erstaunlichen Erfindungen, Umdeutungen und Neukontextualisierungen, die insbesondere im Rahmen der Nationalisierung der politischen Kultur vorgenommen wurden. Doch eine solche phasenübergreifende Sicht auf die Geschichte von Jubiläen hat auch ihren Preis: In den verschiedenen Längsschnittartikeln kommt die jeweilige gesellschaftspolitische Einbindung der Gedenktage zwangsläufig zu kurz. Das gilt vor allem für die „Streifzüge“ ins 20. Jahrhundert, die nur wenig zu einer vertieften Analyse von Gesellschaft und Politik der unterschiedlichen Herrschaftssysteme beitragen. Hier bleibt noch einiges zu tun.

Anmerkung:
1 Siehe auch thematisch ähnliche Neuerscheinungen wie Müller, Winfried; Flügel, Wolfgang; Loosen, Iris; Rousseaux, Ulrich (Hgg.), Das historische Jubiläum. Genese, Ordnungsleistung und Inszenierungsgeschichte eines institutionellen Mechanismus, Münster 2003 (rezensiert von Michael Mitterauer: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2005-2-206>); von Saldern, Adelheid (Hg.), Inszenierte Einigkeit. Herrschaftsrepräsentationen in DDR-Städten, Stuttgart 2003 (rezensiert von Thomas Wolfes: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2004-2-071); Dies. (Hg.), Inszenierter Stolz. Stadtrepräsentationen in drei deutschen Gesellschaften (1935-1975), Stuttgart 2005.

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