H. Korte: Der Spielfilm und das Ende der Weimarer Republik

Titel
Der Spielfilm und das Ende der Weimarer Republik. Ein rezeptionshistorischer Versuch


Autor(en)
Korte, Helmut
Erschienen
Göttingen 1998: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
504 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Stettner, Fachbereich Informations- und Kommunikationswesen, Fachhochschule Hannover

Die Weimarer Republik gilt hinsichtlich der Politik-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte als historisch gut untersuchter Zeitraum. Auch die deutsche Filmgeschichtsschreibung hat diese Zeit, in der nicht wenige "Klassiker des deutschen Films" entstanden sind, in zahlreichen Werken, wenngleich nicht flaechendeckend, thematisiert. Anders sieht es aus, wenn man auf die Schnittstelle zwischen Film- und Gesellschaftsgeschichte blickt. Die geschichtswissenschaftlich geleitete Quelleninterpretation der zeitgenoessischen Filme, gerade der Spielfilme als einem herausragenden Teil der damaligen Massenkultur, hat in Deutschland, anders als in den angloamerikanischen Laendern, nie so Recht Fuss fassen koennen. Die wenigen historiographischen Arbeiten, die sich in der Bundesrepublik Deutschland mit dem Spielfilm als einer historischen Quellen befassen, rekurrieren im wesentlichen auf einen Nicht-Geschichtswissenschaftler, den Filmtheoretiker und -historiker Siegfried Kracauer, der nach Adorno den Film als soziale Tatsache entdeckt und die Filmkritik in Deutschland "auf's Niveau" gebracht habe. Kracauer las die deutschen Spielfilme der 20er und 30er Jahre als Quellen fuer gesellschaftliche Stroemungen, psychische Dispositionen und Mentalitaeten, die er nach Emigration und Kriegsende im Jahre 1947 (Princeton) in einer ueberarbeiteten Zusammenschau: "Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films" veroeffentlichte. Eine Analyse der in den untersuchten Filmen vorherrschenden Motive brachte Kracauer zu dem Ergebnis, dass die autoritaeren und regressiven Dispositionen im damaligen Deutschland uebermaechtig waren, waehrend den antiautoritaeren und vernunftgeleiteten Filmen die Ueberzeugungskraft fehlte. Eine breitere Rezeption der krakauerschen Untersuchung in der Bundesrepublik setzte erst nach der vollstaendigen Neuausgabe (1979) ein, wobei sich vornehmlich Soziologen und Filmhistoriker zu Wort meldeten. 1 Bei grundsaetzlich positiver Resonanz kritisieren letztere gelegentlich - aus ihrer Sicht verstaendlich - das "a-posteriori-Urteil" Kracauers, das zu stark subsumiere und damit den Einzelfilmen zu wenig gerecht werde. Die etablierte Geschichtswissenschaft hat, bis auf wenige, eher randstaendige Versuche, Kracauer und den von ihm ausgehenden Untersuchungsansatz bisher kaum zur Kenntnis genommen.

Die hier zu besprechende Arbeit "Der Spielfilm und das Ende der Weimarer Republik" von Helmut Korte verweist gleich zu Beginn auf Kracauer und stellt dessen traditionsbildende Leistung fuer die Untersuchung von Filmen als Bedeutungstraeger politischer Botschaften heraus. Dabei setzt Korte allerdings andere Akzente als Kracauer 1947. Waehrend dieser die Filme selbst bzw. auffaellige Motive in den Filmen als Bedeutungstraeger liest, die im Sinne einer Wechselwirkung sowohl Ausdruck als auch Praegung von Bewusstsein spiegeln und damit als historischer Quellenfundus zur Verfuegung stehen, interessiert sich Korte vornehmlich fuer den zweiten Teil, also die Botschaft im Sinne einer Wirkung auf das zeitgenoessische Publikum. In diesem Zusammenhang legt er seine Studie als sozialgeschichtliche Rezeptionsforschung an. Im Vordergrund steht fuer ihn so die Frage, "welchen Beitrag die im deutschen Film von 1930-1933 angebotenen Handlungsmuster, vermittelten Aussagen, Gefuehle, Stimmungen, Mythen zur Vorbereitung des deutschen Faschismus geleistet haben." (40)

Im folgenden erlaeutert Korte recht ausfuehrlich Material und Methode seiner Untersuchung. Entsprechend der sozialgeschichtlich angelegten Rezeptionsforschung bezieht er zu Recht nicht nur die kanonisierten "Highlights" der Filmgeschichte, sondern auch die Massenproduktion in die Untersuchung ein: das heisst fuer den hier in Frage stehenden Zeitraum von 1930 - 1933 ca. 500 deutsche Spielfilme. Korte entwickelt in diesem Sinne ein "Idealmodell einer historischen Filmanalyse" das - hier nur grob wiedergegeben - drei Untersuchungskomplexe umfasst: die Kontextanalyse (zeitgenoess. Rezeptionshintergrund, historisch-gesellschaftliche Situation etc.), die Produktanalyse (Inhalt, Praesentationsstruktur der Filme) sowie die Rezeptionsanalyse (Dokumente, zeitgenoessische Quellen, gruppenspezifische Wirkungen), die schliesslich zu einer Synthese zusammengefasst werden sollen (41ff).

Da dieses Modell in Anbetracht von ca. 500 zu untersuchenden Spielfilmen und entsprechenden Kontextmaterialien im vorliegenden Rahmen nicht umfassend zu realisieren ist, hat Korte ein reduziertes, in mehreren Schritten durchzufuehrendes Verfahren entwickelt: Nach einer uebergeordneten Darstellung des historisch-gesellschaftlichen und filmhistorischen Kontextes "soll in zwei aufeinander aufbauenden Approximationsstufen zunaechst ein erster Annaeherungswert an die zeitgenoessische Rezeption aller Filme dieser Phase erreicht und - darauf aufbauend - durch exemplarische Fallstudien ausgewaehlter Filme und Filmgruppen diese Ergebnisse konkretisiert werden." (45) Die Gesamteinschaetzung wird hierbei in Form einer Datenerhebung auf Basis der schriftlichen Dokumente vorgenommen, waehrend in den exemplarischen Untersuchungen auch eine konkrete Inhalts- und Formanalyse stattfindet.

Entsprechend diesem Untersuchungsmodell stellt Korte zunaechst den uebergeordneten Kontext dar ("Die letzten Jahre der Republik von Weimar"), wobei es ihm gut gelingt, die Bezuege von politischer, wirtschaftlicher, sozialer und filmgeschichtlicher Entwicklung zu verdeutlichen.

Hieran schliesst sich die auf den filmischen Gesamtkomplex zielende, eher abstrakte Untersuchung an. Neben den Filmen der "Stammuntersuchung" (S-Filme), die alle deutschen Filme und deutsch-auslaendischen Gemeinschafts-produktionen ueber 1000 m Laenge umfasst, die eine Spielhandlung aufweisen, werden die insgesamt 76 "Erfolgsfilme" (Erf-Filme) in einer gesonderten Gruppe erfasst. Zur weiteren Einschaetzung nimmt Korte Kategorienbildungen vor, die sich an Gerd Albrecht 2 anlehnen, dessen kategoriale Vorgaben, nicht zuletzt wegen der unterschiedlichen Untersuchungszeitraeume, aber auch erweitern. Ausgehend von den drei Hauptkategorien "manifest/latente 'P-Filme' " (Propaganda-Filme im Sinne nationalistischer bzw. nationalsozialistischer Aussage), "nP-Filme" ("unpolitische" Unterhaltungsfilme) und "manifest-latente 'Psoz-Filme' " (sozialkritisch, sozialistisch, pazifistisch etc.) bildet Korte sieben Valenzgruppen, die fuer die folgende Untersuchung konstitutiv werden:

V1: Filme mit eindeutig feststellbarer humanistisch-demokratischer, pazifistisch-antimilitaristischer, sozialkritischer oder sozialistischer Aussage.
V2: Filme mit tendenziell humanistisch-demokratischer, pazifistisch-antimilitaristischer, sozialkritischer oder sozialistischer Aussage.
V3: Filme mit neutraler Aussage, das heisst solche Filme, bei denen eine sonstige Zuordnung nicht moeglich scheint.
V4: Filme mit offen ablenkender Aussage und Funktion (im zeitgenoessischen Kontext).
V5: Filme mit aufgesetzt optimistischer Aussage, mit offen eskapistischer Funktion.
V6: Filme mit tendenziell militaristischer, nationalistischer, nationalsozialistischer Aussage.
V7: Filme mit eindeutig militaristischer, nationalistischer, nationalsozialistischer Aussage.

Diese Valenzgruppen werden nun im Rahmen der 1. Approximationsstufe nach verschiedenen Kriterien befragt, wobei die wichtigsten Ergebnisse lauten: Die Masse der Filme liegt in den Gruppen V3-V5, bei den Erfolgsfilmen sind die relativ wenigen "Tendenzfilme" (V1,V7) deutlich ueberrepraesentiert. Die Jahreswende 1931/32 kann als Umschlagpunkt zu Ungunsten der V1, V2 Filme gelten, die zahlenmaessig allerdings auch vorher schon schwaecher als V6, V7 sind. In der Gesamtmenge ueberwiegen die "heiteren" Filme deutlich vor den "ernsten" und zwar mit nochmals zunehmender Tendenz ab 1931/32 ("Gluecksstrategie"). Die Masse der Filme spielt zwar in Zeit, Ort und Handlung im zeitgenoessischen Rahmen und knuepft an Alltagserfahrungen des Publikums an, der Bezug dient allerdings vornehmlich der Schilderung ueberzeitlicher, allgemein menschlicher Probleme.

Nach einem Abriss der dominierenden Themenbereiche und Handlungsmuster im Gesamtangebot der Filme beginnt Korte anschliessend mit der 2. Approximation, der exemplarischen Untersuchung "Rezeptionsangebote und zeitgenoessische Botschaft". Hier werden auf 230 Seiten verschiedene Fallbeispiele, sogenannte Schluesselfilme aus den jeweiligen Valenzgruppen V1 - V7 beschrieben, ueber die zeitgenoessische Rezeption in der Tages- und Filmfachpresse kontextualisiert und analysiert. Die Analyse stuetzt sich dabei auch auf "die Verfahren und Instrumente der systematischen Filmanalyse", deren Ergebnisse in Form von Sequenz- und Einstellungsgraphiken ausgewaehlter Filme praesentiert werden. Diese zweite Approximationsstufe umfasst ca. 50 Spielfilme, darunter die Klassiker des Untersuchungszeitraumes WESTFRONT 1918 und KUHLE WAMPE, MUTTER KRAUSENS FAHRT INS GLUECK (V1, V2), DER BLAUE ENGEL (V3), DREI TAGE MITTELARREST (V4), DIE DREI VON DER TANKSTELLE, DER KONGRESS TANZT, EIN BLONDER TRAUM (V5), KREUZER EMDEN, FRIDERICUS REX, DER CHORAL VON LEUTHEN und HITLERJUNGE QUEX (V6, 7).

Die ausgewaehlten Filme werden zum Teil sehr ausfuehrlich analysiert (Produktanalyse) und soweit moeglich in die zeitgenoessische Rezeption eingebettet, vor allem ueber die parteigebundene bzw. -orientierte Tages- und Filmfachpresse. Wenngleich sich hier keine bahnbrechenden neuen Erkenntnisse finden, so sind die Analysen und Kontextualisierungen gruendlich und kenntnisreich entwickelt. Und es gelingt Korte, das "zeitgenoessische dominante Wirkungsspektrum" zumindest annaeherungsweise zu bestimmen. Letztlich stoesst er aber an die Grenzen der historischen Rezeptionsforschung: denn wie das Publikum der Filme tatsaechlich strukturiert war (demographische und soziale Zusammensetzung, politisch Orientierung etc.), welchen Eindruck die Filme im Einzelfall hinterliessen, zu welchen Verhaltensweisen und Handlungen dieser Eindruck fuehrte, dies kann nur vermutet werden, da entsprechende Quellen nicht zur Verfuegung stehen! Korte selbst spricht dieses Problem explizit an (u.a. 433).

In einem Resuemee wertet der Autor als wichtigstes Ergebnis, dass aus filmpolitischer Perspektive nicht der Januar 1933, sondern die Jahreswende 1931/32 der entscheidende Umschlagpunkt zugunsten der "nationalen Revolution" gewesen sei, und zwar als sprunghafte Steigerung einer recht kontinuierlichen Entwicklung: Ab 1931 nehmen die sozialkritischen und linkssozialistisch-oppositionellen Filme deutlich ab, im Gegenzug nehmen die nationalistischen Filme sowohl zahlenmaessig als auch ihren Erfolg betreffend zu, begleitet von einem auffaelligen Anstieg der erfolgreichen Realitaetsmaerchen und Depressionskomoedien.

Ich moechte ergaenzen, dass auch die Einzelfilmanalysen zahlreiche gute Beobachtungen und Erkenntnisse aufweisen, im Zuge der starken Formalisierung der Untersuchung allerdings recht versteckt. Und im Sinne der Haupt-Fragestellung ("Beitrag zur Vorbereitung des deutschen Faschismus") lassen sich die Ergebnisse der Detailanalysen empirisch-wissenschaftlich letztlich nicht verifizieren und quantifizieren.

So ergeben sich die Staerken und Schwaechen der Untersuchung vor allem aus dem Ansatz und dem methodischen Vorgehen. Die Orientierung an wissenschaftlichen Verfahren, wie sie in der Rezeptionsforschung bzw. in empirisch-soziologischen Untersuchungen ueblich sind - hier Quantifizierung, kategoriale Zuordnung, Valenzgruppenbildung, Operationalisierung usw. - finden ihre Grenzen, wenn sie mit historischen Quellenmaterial konfrontiert werden, das in Beziehung gesetzt wird zum vergangenen menschlichen Bewusstsein. Anstatt der angestrebten empirisch-wissenschaftlich abgesicherten Eindeutigkeit steht dann doch die (nachvollziehbare) Vermutung. Trotz der umfaenglichen und interessanten Einzelfallanalysen sind daher die Ergebnisse des ersten Annaeherungsschrittes wichtiger, auch gerade im Verhaeltnis zu den selbst gesetzten Zielen: Hier wird zum ersten Mal das Gesamtkonvolut deutscher Spielfilme am Ende der Weimarer Republik strukturiert aufgearbeitet und nachvollziehbar bewertet. In diesem Teil schlaegt auch die von Korte selbstkritisch konstatierte "Entsinnlichung" des Materials nicht negativ zu Buche. Nicht zuletzt der Anhang ist in diesem Zusammenhang nuetzlich, der neben einem Register eine Liste der nationalen bzw. nationalsozialistischen Propagandafilme umfasst, eine Auflistung aller 500 Stammfilme sowie der "Erfolgsfilme" der Untersuchung mit Valenzgruppen-Zuordnung sowie Uebersichtstabellen zu den Handlungsmerkmalen und Handlungsmustern der Stammgruppen-Filme.

Die konkrete und detaillierte Beschaeftigung mit den Einzelfilmen, ihre Kontextualisierung und Analyse als historische Quellen wird jedoch eine interpretative Annaeherung, wie sie bei hermeneutischen Verfahren ueblich ist, nicht ueberschreiten koennen. Und wenn es fuer eine uebergreifende Strukturierung des filmischen Gesamtschaffens sinnvoll ist, die Filme nach ihrer "Gesamtaussage", wie eskapistisch, nationalistisch-propagandistisch etc. einzuordnen und zu bewerten, so gilt dies nicht ohne weiteres fuer die detailliertere Analyse. Denn hier zeigen sich haeufig ambivalente und widerspruechliche Momente. Im Anschluss an Kracauer ist es dann sinnvoller, einzelne filmische Motive, die sich in auffaelliger Weise wiederholen, abgewandelt werden usw. ins Zentrum zu stellen und zwar sowohl die Einzelfilme als auch die Kategorien und Valenzgruppen uebergreifend. Auf diese Weise distanziert man sich staerker von ideologiekritischen Betrachtungen und Schablonen (verkuerzt: die Schubladen rechte, "neutrale", linke Filme) und blickt eher auf tiefer liegende, zeitgenoessisch oft selbstverstaendliche Wertungen und Sichtweisen, die fuer Mentalitaeten stehen koennen. Beispiele hierfuer waeren "Frauenbilder", nicht zuletzt die Berufstaetigkeit der Frau im Zusammenhang von Rationalisierung und Massenarbeitslosigkeit, "Maennerbilder", vor allem in Bezug auf Autoritaet und autoritaeres Verhalten, die Ueberhoehung der Jugend, die "blosse Vitalitaet", sowie die haeufige Verdraengung des Alters. Entsprechende Motive finden sich praktisch im gesamten Spektrum der zeitgenoessischen Filmproduktion.

Anmerkungen:
1 Siegfried Kracauer, Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films (Erste vollstaendige Ausgabe), hg. von Karsten Witte, Frankfurt/M. 1979.
2 Gerd Albrecht, Nationalsozialistische Filmpolitik - Eine soziologische Untersuchung ueber die Spielfilme des Dritten Reiches, Stuttgart 1969.

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