S. Lindemann: Jüdisches Leben in Celle

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Titel
Jüdisches Leben in Celle. Vom ausgehenden 17. Jahrhundert bis zur Emanzipationsgesetzgebung 1848


Autor(en)
Lindemann, Silke
Reihe
Celler Beiträge zur Landes- und Kulturgeschichte
Erschienen
Anzahl Seiten
686 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andrea Brill, Historisches Institut, Universität der Bundeswehr München

Silke Lindemanns Studie ist die erste breite Darstellung der jüdischen Gemeinde in Celle unter Berücksichtigung von rechts-, wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Aspekten für die Zeit zwischen dem ausgehenden 17. Jahrhundert und der Emanzipationsgesetzgebung von 1848. Damit reiht sich die Arbeit in eine ganze Reihe von Studien über jüdische Gemeinden in deutschen Städten ein. 1 Lindemanns selbst definiertes Ziel ist es, die Juden nicht nur als Objekte der Gesetzgebung, sondern auch als handelnde Subjekte zu zeigen. Die Darstellung ist untergliedert in drei Phasen: 1. vom Ende des 17. bis Ende des 18. Jahrhunderts, 2. das Königreich Westfalen 1803-1813 und 3. das Königreich Hannover 1813-1848. Diese Einteilung überzeugt im Wesentlichen, auch wenn die mittlere Phase unvergleichlich kürzer ist als die erste und dritte; aber aufgrund der gesetzlichen Änderungen - es bestand eine vorübergehende rechtliche Gleichstellung - setzte sich diese Epoche deutlich von den anderen ab.

Lindemann beginnt mit den ersten Niederlassungen von jüdischen Familien Ende des 17. Jahrhunderts in Celle und den Anfängen einer jüdischen Gemeinde. Ausführlich beschreibt sie die rechtlichen Bedingungen der Juden in Celle anhand von Schutzbriefen der Zeit. Neben den Rechten und Pflichten beschäftigt sie sich mit den Schutzgeldern und anderen Abgaben sowie der Bedeutung des vor Gericht zu leistenden Eids. Die Schutzbriefe beinhalten detaillierte Bestimmungen zum Handel, Hausieren, Wohnrecht und Heiraten. In einem Erlass von 1718 beispielsweise wurde der Kauf von Häusern und Grundstücken verboten. Christen hatten Immobilienkaufsrecht vor den Juden, damit dieses Vorrecht zum Tragen kam, mussten Verkäufe öffentlich ausgeschrieben werden. Bestimmungen zum Handel fanden sich in den Edikten von 1723 unter König Georg I., von 1733 unter Georg II., in denen beispielsweise genau beschrieben war, mit welchen Stoffarten Juden handeln durften.

Beschwerden von Christen über Betteljuden und die vermeintliche Pestgefahr, die nach ihren Ansicht von diesen ausging, führte zur Einführung von Reisepässen für jüdische Handelsdiener mit genauer Routenbeschreibung und zu Anweisungen, von der Pest verseuchte Orte nicht zu passieren. Lindemann interpretiert die Rechtssituation der Juden in Celle im 18. Jahrhundert dahingehend, dass die Schutzbriefe und Judenverordnungen Zeichen eines permanenten Ausnahmezustands waren. Sie gewährten den Juden zwar Privilegien, die diesen aber erst eine Existenzberechtigung verschaffte. Juden hatten nur so lange Rechte, wie es von den Christen toleriert wurde. Es handelte sich also nicht um wirkliche Toleranz (S. 49).

Eine besondere Rolle für die Juden in Celle spielte der Hofagent Leffmann Behrens aus Hannover. Durch seine Förderung siedelten sich allmählich mehr und mehr einflussreichere Juden in Celle an. Leffmann Behrens nahm am Religionsgespräch von 1704 am kurfürstlichen Hof in Hannover teil, bei dem neben dem Kurfürsten, christlichen Würdenträgern und Rabbinern über die Wahrheit der Religion diskutierten. Anhand von verschiedenen Fällen beschreibt Lindemann, wie Leffmann Behrens immer wieder aufgrund seines Einflusses zwischen christlicher Regierung und jüdischer Gemeinde vermittelte.

Lindemann versucht so genau wie möglich das allmähliche Anwachsen der Gemeinde zu veranschaulichen, räumt aber quellenkritisch ein, dass genaue Zahlenangaben nicht möglich seien. Die jüdische Gemeinde machte etwa 2,6 Prozent an der Gesamtbevölkerung aus und war damit eine relativ große Gemeinde, verglichen mit anderen norddeutschen Städten dieser Größenordnung. Gründe dafür lagen darin, dass Celle Residenzstadt und wegen der Nähe zu Hannover für Juden besonders attraktiv war.

Ausführlich schildert die Autorin auch das Gemeindeleben, beschreibt Einrichtungen wie Friedhof und Synagoge und setzt sich mit der selbstgegebenen Verordnung der Juden vom 2. September 1738 auseinander, in der Bestimmungen zur Armen- und Krankenkasse, zur Synagoge, zum Gottesdienst und Landrabbinern in 27 Paragrafen ausgeführt waren. Hierbei geht sie auch auf spezielle Details ein, wie die allmähliche Anpassung der Kleidung der Jüdinnen an die Kleider der christlichen Frauen (S. 134).

Ein weiteres wichtiges Kapitel ist das Niederlassungesrecht. Lindemann kommt zu dem Ergebnis, dass die Stadt nur dann Genehmigungen zur Niederlassung von Juden erteilte, wenn ein Nutzen für diese abzusehen war, wie zum Beispiel die Aufwertung von unbebauten Gebieten oder die Niederlassung von wohlhabenden, wirtschaftsfördernden Juden. Quellengestützt beschreibt die Autorin die Altenceller Vorstadt, das einzige Gebiet, in dem Juden Häuser kaufen durften. Dies war eine minderwertige Wohngegend weit ab vor den Toren der Stadt, isoliert vom christlich-bürgerlichen Leben. Bei der Darstellung der Erwerbszweige der Juden zeigt sich, dass die Celler Juden überwiegend arm und nur wenige vermögend waren. Nur wenige handelten mit wertvolleren Waren, wie beispielsweise mit Seide und Seife. Die meisten lebten an der Armutsgrenze und sammelten alte Kleider, die sie wieder verkauften.

Eine rechtliche Gleichstellung erfuhren die in Celle lebenden Juden dann für kurze Zeit mit der Gründung des Königreich Westfalen unter Napoleon Jérôme. In dem Dekret vom 27. Januar 1808 wurden ihnen freie Heiratserlaubnis, Erziehungsrecht, Gewerbefreiheit und freie Wahl des Wohnorts gewährt. Interessanterweise war der Aufklärer Christian Wilhelm Dohm, der Autor des Werkes "Über die bürgerliche Verbesserung der Juden", in der Ministerialbürokratie im Königreich Westfalen beschäftigt. Hier schildert Lindemann sehr spannend das Aufeinandertreffen der Ideale Dohms - die Erziehung der Juden zum Aufgehen in der bürgerlichen Gesellschaft - mit der tatsächlichen politischen Verwirklichung. Ausführlich geht sie auch auf Israel Jacobson ein, den Braunschweiger Bankier und Hofagenten, Präsident des Konsistoriums der Israeliten in Kassel, an dessen Gründung er maßgeblich beteiligt war. Das Konsistorium wurde zur Verwaltung der jüdischen Gemeinden im Königreich geschaffen, damit diese - nach dem Vorbild der christlichen Konfessionen - systematisch verwaltet werden konnten. Lindemann berichtet detailliert über die einzelnen Anordnungen und die umfassende Religions- und Erziehungsreform. Interessanterweise stießen die Reformen und Leistungen des Konsistoriums auf vehementen Widerstand der jüdischen Gemeinden. Die Ideale des Konsistoriums, nämlich die Emanzipation der Juden in Verbindung mit der Aufgabe der traditionellen Lebensweise stieß unter den Juden nicht auf Zustimmung. Jacobson wurde gar vorgeworfen, dass er die Religion seiner Väter verrate. Hier macht die Autorin eine wichtige Beobachtung: Die Ideale der Haskala fanden in der ländlichen jüdischen Bevölkerung erst verzögert Zustimmung. Im frühen 19. Jahrhundert war die Bereitschaft zur Akkulturation bei der breiten Basis der kleineren jüdischen Gemeinden erst schwach ausgeprägt (S. 264).

Mit dem Ende des Königgreichs Westfalen und dem Beginn der Restauration wurden die Juden in Celle wieder auf ihre alten Rechte zurückgeworfen. Lindemann schildert ausführlich die Verhandlungen über die Judenfrage auf dem Wiener Kongress, auf dem sich der christliche Anwalt Carl August Buchholz aus Lübeck für die Judenfrage einsetzte.

Ein wichtiges Kapitel bildet die Diskussion um die Entwicklung des Gesetzes über die Rechtsverhältnisse der Juden: Bis 1842 zogen sich die Debatten hin; Lindemann zitiert ausführlich aus Berichten und Stellungnahmen des Magistrats, der Burgvogtei, aus Berichten der Landdrosteien, aus dem Kabinettsministerium in Hannover der Jahre 1829 bis 1831 sowie der Ständeversammlung und den Stellungnahmen aus den einzelnen jüdischen Gemeinden. Hier wird klar, wie schwierig und langwierig der Weg zur rechtlichen Gleichstellung der deutschen Juden war. Aber auch das Gesetz von 1842 gewährte noch keine vollständige Gleichstellung, die erst mit Revolution von 1848/49 erreicht wurde. An dieser Stelle wäre ein Vergleich mit analogen Edikten in Preußen, Bayern und Baden zu Beginn des 19. Jahrhunderts wünschenswert. Neben den rechtlichen Entwicklungen im Königreich Hannover nach 1813 geht Lindemann auch ausführlich auf die Lebensbedingungen der Juden in Celle ein und berichtet über die Niederlassungen der Juden, ihre Handels- und Gewerbetätigkeit, das Gemeindeleben und das Schulwesen.

Insgesamt ist die Studie von Silke Lindemann ein wichtiger Beitrag zur jüdischen Geschichte in Deutschland in der Frühen Neuzeit. Die Studie überzeugt durch eine sachliche und differenzierte Argumentation sowie ausführliche Quellenzitate. Damit bietet die Arbeit zugleich eine Edition wichtiger Quellen für die jüdische Geschichtsschreibung.

Anmerkungen:
1 z.B.: Barlev, Jehuda, Juden und jüdische Gemeinde in Gütersloh 1671-1943, Gütersloh 1988; Hendrijke Kilian, Die jüdische Gemeinde in München 1813-1871. Eine Großstadtgemeinde im Zeitalter der Emanzipation (Miscellanea Bavarica Monacensia 145), München 1989; Schneider, Jörg, Die jüdische Gemeinde in Hildesheim 1871-1942 (Schriftenreihe des Stadtarchivs und der Stadtbibliothek Hildesheim 31), Hildesheim 2003; Wilhelm, Peter, Die jüdische Gemeinde in der Stadt Göttingen von den Anfängen bis zur Emanzipation (Studien zur Geschichte der Stadt Göttingen 10), Göttingen 1973.

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