Titel
"Am mutigsten waren immer wieder die Zeugen Jehovas". Verfolgung und Widerstand der Zeugen Jehovas im Nationalsozialismus


Herausgeber
Hesse, Hans
Erschienen
Bremen 1998: Edition Temmen
Anzahl Seiten
450 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Krenzer, Käthe-Kollwitz-Schule Recklinghausen

"Am mutigsten waren immer wieder die Zeugen Jehovas" - mit diesen Worten beschrieb die inhaftierte Kommunistin Gertrud Keen das Verhalten der Bibelforscherinnen (1) im Konzentrationslager Moringen. Herausgeber Hans Hesse hat dieses Zitat als Titel seiner Dokumentation der Verfolgung und des Widerstands der Zeugen Jehovas gewaehlt. Dies ist doppelt passend, da damit bereits zwei wesentliche Inhalte des Bandes transportiert werden:

Zum einen empfanden viele andere KZ-Opfer das Verhalten der inhaftierten Zeugen Jehovas ebenfalls als auffaellig und ungewoehnlich. Die Aussagen bewundern uebereinstimmend die Glaubensfestigkeit und innere Ausgeglichenheit, die Tapferkeit und Sturheit, sowie die Solidaritaet und Hilfsbereitschaft der Bibelforscher-Haeftlinge. Zuweilen mischt sich in diese Hochachtung auch so etwas wie Hilflosigkeit und Unverstaendnis darueber, wo die Wurzeln fuer diese unbeugsame Kraft liegen. Hanns Lilje, Landesbischof der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannover, stellte 1947 fest, dass "keine christliche Gemeinschaft ... sich mit der Zahl ihrer Blutzeugen auch nur von ferne messen" koenne.

Auf der anderen Seite fand diese Wuerdigung erstaunlicherweise lange Zeit keinerlei Widerhall in der historischen Forschung (2). Zeugen Jehovas wurden zu "Vergessenen Opfern". Im Herbst 1997 fanden in Deutschland erstmals wissenschaftliche Tagungen statt, um die bemerkenswerten Eigenheiten ihrer Verfolgungsgeschichte ihrer naeher zu beleuchten. Dem Wunsch nach Dokumentation der Vortraege entsprach Hesse nun durch den vorliegenden Sammelband. Die Vielzahl der dargestellten Einzelaspekte vermittelt dem Leser des Bandes ein umfassendes Bild des derzeitigen Forschungsstands. Den Schwerpunkt des ersten Teils bildet die Geschichte der Zeugen Jehovas in den NS-Konzentrationslagern. Teil B thematisiert die Kontroverse um die Video-dokumentation der Wachtturm-Gesellschaft "Standhaft trotz Verfolgung - Jehovas Zeugen unter dem NS-Regime".

Zeugen Jehovas wurden verfolgt, weil sie sich aufgrund ihrer religioesen Ueberzeugung im NS-System nicht gleichschalten liessen: sie verweigerten z.B. den "Hitler-Gruss", traten nicht in NS-Organisationen ein, lehnten den voelkischen Gedanken und den Antisemitismus ab und dienten nicht in der Wehrmacht. In dieser demonstrativen Bereitschaft, sich den Verhaltensanforderungen der "Volksgemeinschaft" zu widersetzen, sieht Hubert Roser den entscheidenden Konfliktfaktor. Wenn es auch "nur" aus dem Wunsch nach freier Religionsausuebung geschah, kollidierte dies mit dem Totalitaetsanspruch des Regimes und bedeutete eine Gefahr fuer den NS-Staat. Trotz Verbots und mehrerer Verhaftungswellen gelang es Zeugen Jehovas, das Gemeindeleben mehrfach im Untergrund zu reorganisieren, die Missionstaetigkeit aufrechtzuerhalten und die Bevoelkerung in reichsweiten Flugblattaktionen ueber den verbrecherischen Charakter des Regimes aufzuklaeren. Von den ca. 25.000 deutschen Zeugen Jehovas im Jahr 1933 wurden etwa 10.000 fuer eine unterschiedlich lange Dauer inhaftiert. Etwa 2.000 deutsche und etwa 1.000 auslaendische Bibelforscher kamen ins KZ. 1.200 starben oder wurden ermordet. Darunter waren ca. 250 Zeugen Jehovas, die wegen Kriegsdienstverweigerung hingerichtet wurden.

Die Verfolgung der Zeugen Jehovas wies einige Besonderheiten auf:

sie gehoerten zu den ersten Verfolgtengruppen
sie widerstanden als Gruppe geschlossen und unbeugsam dem Nationalsozialismus
sie wurden in den KZ mit einem besonderen Zeichen stigmatisiert (lila Winkel)
sie stellten unter den abgeurteilten Kriegsdienstverweigerern mit Abstand die groesste Zahl
in den Frauen-KZ stellten die Zeuginnen Jehovas zeitweise die groesste Haeftlingszahl
sie bildeten in den KZ eine der festesten Solidargemeinschaften
Nach Henry Friedlander stieg der Anteil der Zeugen Jehovas an den KZ-Haeftlingen bis 1939 auf mindestens 10% an, in vielen Lagern erreichte er aber einen hoeheren Prozentsatz (3). Um den Willen der Bibelforscher zu brechen, machte die SS ihnen das meist vergebliche Angebot, aus dem KZ entlassen zu werden, sobald sie eine Erklaerung unterschrieben, mit der sie ihrem Glauben abschwoeren und Glaubensbrueder denunzieren wuerden. Der sozusagen "freiwillige" Verbleib im KZ ist eine weitere Singularitaet.

Christoph Daxelmueller zeigt in seiner Untersuchung des Verhaltens der Zeugen Jehovas in den KZ, dass Froemmigkeit und Religiositaet fuer sie zu einem treibenden, identifikationsstabilisierenden Faktor und damit zur wichtigen Ueberlebenshilfe wurden. Fuer die KZ Niederhagen-Wewelsburg und Sachsenhausen bestaetigen Kirsten John-Stucke und Antje Zeiger die besondere Rolle, die Zeugen Jehovas aufgrund ihrer solidarischen Haltung innerhalb der Haeftlingsgemeinschaft einnahmen. Fuer das Standhalten war der Rueckhalt in der Gruppe und die gegenseitige Hilfe von wesentlicher Bedeutung. Gemeinsame Bibellesungen gaben seelischen Halt und Trost. Die unter grosser persoenlicher Gefahr fortgefuehrte Missionstaetigkeit verlieh ihrem Haeftlingsdasein gewissermassen einen Sinn. Ihr gemeinsamer Glaube half ihnen, kollektive Ueberlebensstrategien zu entwickeln, die in der extremen Lagersituation Ueberlebens-chancen boten. Einbezogen wurden auch auslaendische Bibelforscher, deren Zahl Thomas Rahe auf etwa 200-250 Niederlaender, 200 Oesterreicher, 100 Polen schaetzt (4). Andere Haeftlingsgruppen entwickelten kaum solche gemeinsamen Verhaltensstrategien.

Obwohl die Bibelforscher aufgrund ihres Gehorsams und ihrer Ehrlichkeit oft fuer vertrauenswuerdige Arbeiten herangezogen wurden, sah die SS in ihrem nicht zu brechenden Bekennermut und den damit verbundenen Wertvorstellungen eine Gefahr. Sie avancierten daher als Haeftlingsgruppe zum bevorzugten Hassobjekt, das permanent dem Terror der SS ausgesetzt war. Trotz restriktiver Massnahmen vertraten sie mit religioeser Radikalitaet ihre Auffassungen und bewahrten dadurch ihre Selbstachtung.

Zeuginnen Jehovas beteiligten sich weit mehr an Widerstandsaktivitaeten als Frauen anderer Gegnergruppen. Juergen Harder und Hans Hesse nennen als Einweisungsgruende ins Frauen-KZ Moringen u.a. Schriftenherstellung bzw. -verteilung, Treffen mit Glaubensgenossen, Reorganisation von Ortsgruppen, Grussverweigerung, Wehrkraftzersetzung und Luftschutzsabotage. Im KZ Moringen verhielten sich die Zeuginnen Jehovas diszipliniert und arbeiteten fleissig. Ab 1936 widersetzten sie sich aber kollektiv der Lagerleitung, wenn diese Arbeiten forderte, in denen die Frauen eine direkte Unterstuetzung des NS-Staates und seiner Kriegsvorbereitungen sahen.

Martin Guse zeigt, dass auch Kinder betroffen waren. Sie wurden nicht nur mit der Haft der Eltern oder zunehmender Entrechtung konfrontiert, sondern auch nationalsozialistischen Lehrplaenen, dem Druck von NS-Jugendorgani-sationen und der permanenten Einforderung von Loyalitaetskundgebungen gegenueber dem NS-Staat ausgesetzt. Den Muettern, die versuchten ihre Kinder vor den persoenlichkeitsdeformierenden Zumutungen zu bewahren, sie z.B. bestaerkten, den "Hitler-Gruss" zu verweigern, ging es um mehr als um Glaubensgebote: es ging um die Erziehung von integeren Menschen, deren Selbstachtung nicht gebrochen werden sollte. Weil sie sich dem System konsequent verweigerten, hatten Zeugen Jehovas nach Ursula Krause-Schmitt unter gegen ihre Familien gerichteten Zwangsmassnahmen staerker zu leiden als andere Gegnergruppen. Selbst "Kinderraub" wurde als Druckmittel eingesetzt, um den Widerstand der Zeugen Jehovas zu brechen. Bis 1974 waren etwa 860 Faelle bekannt, in denen Kinder in Nazi-Pflegefamilien oder Erziehungsheime verschleppt wurden, aber es ist davon auszugehen, dass die Zahl der Betroffenen noch weit hoeher liegt.

Sybil Milton beklagt, dass bis heute nur wenige Dokumente der NS-Verfolgung der Zeugen Jehovas veroeffentlicht sind, geschweige denn, dass sie systematisch gesammelt wuerden. Im vorliegenden Sammelband werden daher auch einige Quellen praesentiert. Es handelt sich zunaechst um einen eindrucksvollen Bilderzyklus ueber das KZ Buchenwald, den der Zeuge Jehovas Johannes Steyer nach seiner Befreiung anfertigte (Johannes Wrobel). Weitere Quellen sind NS-Erlasse und Urteile zur Verfolgung sowie eine 1938 von Zeugen Jehovas veroeffentlichte Dokumentation ueber das KZ Esterwegen (Sybil Milton). Erstmals veroeffentlicht wird auch eine Sammlung von 27 bewegenden Briefen des in KZ-Haft verstorbenen Zeugen Jehovas Hans Gaertner, die er aus den KZ Dachau und Mauthausen geschrieben hat (Angela Nerlich, Wolfram Slupina).

Zwei weitere Beitraege (Hans-Hermann Dirksen; Goeran Westphal) beschaeftigen sich mit dem noch sehr jungen Forschungsfeld der Verfolgung der Zeugen Jehovas in der DDR, wo die Opfer des Nationalsozialismus eine Fortsetzung ihrer Leiden hinnehmen mussten.

Der erste Teil des Sammelbandes schliesst mit zwei Artikeln, die aus der Sicht eines Historikers (Detlef Garbe) und aus der Sicht der Zeugen Jehovas (Wolfram Slupina) versuchen, den Gruenden fuer die spaete Aufarbeitung der Verfolgung der Zeugen Jehovas nachzugehen.

Garbe sieht den Hauptgrund fuer die langjaehrige Missachtung in Ressentiments gegenueber den mit dem Stigma "Sekte" belegten Zeugen Jehovas. Im Rueckblick muss das ausgepraegte Desinteresse der Geschichtswissenschaft an den Bibelforschern dennoch ueberraschen. Einen weiteren Grund fuer die Zurueckhaltung sieht er in der Wachtturm-Gesellschaft, die sich lange Zeit wenig kooperativ zeigte. Aber auch der sich hier vollziehende Prozess der Oeffnung stellt Garbe nicht zufrieden. Er vermutet, die Glaubensgemeinschaft beabsichtige die Verbesserung ihrer Reputation vor dem Hintergrund der gegenwaertigen "Sekten"-Debatte. Er beklagt aber auch, dass bis heute manche Kritiker der Zeugen Jehovas nicht an einer objektiven Analyse des historischen Befundes interessiert seien, sondern vorab ein abwertendes Urteil festgelegt haetten.

Die Aufarbeitung der Verfolgungsgeschichte durch die Wachtturm-Gesellschaft selbst begann nach Slupina bereits vor 1945 mit Publikationen, die ueber die Existenz von KZ und die Zustaende dort aufklaerten. Seit Kriegsende wurden etwa 250 Lebensberichte von Opfern in bis zu 128 Sprachen und in Auflagen von bis zu 22 Millionen Exemplaren veroeffentlicht. Da es unmittelbar nach der Befreiung galt, die Gemeinden und das Missionswerk neu zu organisieren, habe man jedoch gemeint, fuer eine weitergehende wissenschaftliche Aufarbeitung keine Zeit zu haben. Die Ueberlebenden haetten sie auch fuer unnoetig gehalten, da sie sich als Sieger fuehlten und die Gemeinschaft nicht wie andere Gruppen durch einen Rehabilitierungsprozess gehen musste. Aus Glaubensgruenden widerstrebte es ihnen zudem, sich selbst als Helden darzustellen oder Rachegefuehle zu hegen. Angesichts der schnellen Vergessens wirft Slupina jedoch die Frage nach heutiger Ausgrenzung, Diskriminierung und Stigmatisierung von Minderheiten auf und fuehrt nachdenklich stimmenden Beispiele von Benachteiligungen, Diskriminierungen bis hin zu Taetlichkeiten an, denen Zeugen Jehovas in den letzten Jahren in Deutschland ausgesetzt waren.

Der zweite Teil des Bandes wird durch zwei Beitraege eingeleitet und beendet, die sowohl Informationen ueber die Zeugen Jehovas heute (Walter Koebe) als auch eine Einschaetzung der NS-Verfolgung aus der Sicht des verantwortlichen Regisseurs der Videodokumentation "Standhaft trotz Verfolgung", James Pellechia, geben. In vier Beitraegen setzen sich Johannes Wrobel vom Geschichtsarchiv der Wachtturm-Gesellschaft, die Religionswissenschaftlerin Gabriele Yonan (5) und die Sektenbeauftragten Dietrich Hellmund und Lutz Lemhoefer mit der Frage auseinander, ob die Videodokumentation als zeitgeschichtliches Dokument oder Propaganda bewertet werden muss. Ergaenzt werden diese kontroversen Stellungnahmen durch eine Bi-lanz der Wanderausstellung "Standhaft trotz Verfolgung", in deren Rahmen die Vorfuehrung der Videodokumentation haeufig erfolgt (Wolfram Slupina).

Wie beurteilen die Autoren die Bedeutung der Verfolgung der Bibelforscher im "Dritten Reich"?

Die Untersuchungen ergeben den erstaunlichen Befund, dass es einer kleinen Gruppe von Menschen gelang, sich gestuetzt auf Glauben und eisernen Zusammenhalt dem totalitaeren Zugriff des NS-Regimes, wenn auch zu einem hohen Preis, zu entziehen. Wie immer man Motive und Verhalten im einzelnen bewertet, bleibt unzweifelhaft, dass Zeugen Jehovas im Unterschied zur grossen Mehrheit der deutschen Bevoelkerung die nationalsozialistische Herrschaft zu keinem Zeitpunkt mitgetragen haben.

Die Historiographie weiss den Widerstand, die Widerstaendigkeit oder die religioes-motivierte Resistenz der Zeugen Jehovas noch nicht abschliessend einzuordnen. Ihre Gegenwehr kann nicht mit einem politisch bestimmten Widerstandsbegriff verstanden werden. Sie wollten kein "Fanal" fuer andere setzen, sondern "Zeugnis" fuer ihren Glauben geben. Damit haben sie gezeigt, dass der Glaube Kraefte zu mobilisieren vermag, die selbst das NS-Regime mit seinen Machtmitteln nicht brechen konnte. Dies zwingt heute zum Umdenken, denn es besteht die Gefahr einer Hierarchisierung: politisch motivierter Widerstand wird zumeist hoeher bewertet als religioes motivierter Widerstand.

Ein weiteres Vermaechtnis der Opfer unter Zeugen Jehovas drueckt Roser wie folgt aus. Es sollte "fuer uns nachgeborene Generationen des 'Dritten Reiches' eine Verpflichtung sein, fuer die Zukunft sicherzustellen, dass es niemals mehr dazu kommen kann, dass Menschen, um ihrem Gewissen treu zu bleiben, in den Tod gehen muessen."

Anmerkungen:
(1) Die vormals als "Ernste Bibelforscher" bekannte Glaubensgemeinschaft benannte sich 1931 in "Zeugen Jehovas" um. Die nationalsozialistischen Machthaber benutzten allerdings weiterhin die alte Bezeichnung.
(2) Ein bis heute zentrales Standardwerk von Detlev Garbe erschien erst 1993:
Detlev Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium. Die Zeugen Jehovas im 'Dritten Reich', Oldenbourg Verlag, Muenchen 1993
(3) Im Frauen-KZ Moringen betrug der Anteil der Zeuginnen Jehovas zeitweise sogar 89%.
(4) Ausserdem kamen kleinere Gruppen aus Belgien, Frankreich, der UdSSR, der Tschechoslowakei und Ungarn.
(5) Dieser Beitrag ist auch im Internet abrufbar: http://209.41.46.106/archive/about/jhvh/zjstandhaft.htm

Kommentare

Von Bollmus, Reinhard20.07.2004

Kommentar von Dr. Reinhard Bollmus

Ich begruesse den Beitrag von Kollegen Krenzer sehr. Allenfalls haette man die Klage ueber die geringe Behandlung der Zeugen Jehovas in Geschichte und Sozialwissenschaften durch die Erwaehnung oder gar Wuerdigung des ersten Beitrages, der auf geschichtswissenschaftlicher Seite zum Thema ueberhaupt geleistet wurde, differenzieren koennen. Ich meine den grundlegenden Aufsatz ueber die "Ernsten Bibelforscher" des an der York University Toronto lehrenden deutsch-kanadischen Historikers Michael K a t e r in den Vierteljahrsheften fuer Zeitgeschichte, der ueber die Inhaltsverzeichnissen der Baende zwischen 1968 und 1972 leicht zu ermitteln ist. (Ich liefere die genaue Angabe des Jahrganges vielleicht noch nach.)

Die Nichterwaehnung in der Rezension Krenzers duerfte mit der geringen Rezeption zu tun haben, den der Beitrag Katers, wie ich bei der Vorbereitung einer Moderation einer von den Zeugen Jehovas getragenen und aber aus prinzipiellen wissenschaftlichen Gruenden von der Universitaet Trier uebernommenen Informationsveranstaltung im Mai 1998 bemerkt zu haben glaube, bei den heutigen Nachfahren der Opfer selbst gefunden zu haben scheint: Kater geht das Thema als Sozialgeschichtler an und nicht zuerst als bewundernder Glaeubiger. Allerdings steht diese geringe Beachtung als Phaenomen nicht isoliert dar: Die Forschung ueber die Opfer des NS-Terrors leidet ohnehin an einer Selbst-Isolation der Gruppen voneinander, und zwar offenbar nicht zuletzt aus dem Grunde, dass jede Relativierungen fuerchtet, die von "Fremden" ausgehen koennte und aufgrund ihres wissenschaftlichen Ansatzes im Verdacht steht, wesentliche Teile des erlebten Geschehens, die sich "rationaler" Betrachtungsweise zu entziehen scheinen, ungenuegend zu wuerdigen. Das ist in der Tat ein wichtiges Bedenken. Man wird sich an ein Wort Bruno Kreiskys ueber das Katastrophische im eigenen Erleben erinnern: Katastrophische Erfahrungen seien nicht an andere Personen zu vermitteln. Dennoch kennt fast jeder Wissenschaftler diese Einwaende. Er hat sich zu bemuehen, sie soweit als moeglich zu beachten und sei es, durch blosse Thematisierung.

Dennoch ist bei der Opfer-Forschung immer noch zu beobachten: Katholiken untersuchen Katholiken, Protestanten Protestanten, Zeugen Jehovas Zeugen Jehovas, Kommunisten Kommunisten (nicht nur in der Forschung aus der DDR vor 1989), sog. Homosexuelle sog. Homosexuelle, Sinti und vor allem Roma erforschten das erschuetternde Schicksal sogenannter "Zigeuner".

Andererseits ist anzuerkennen: Hohe Verdienste haben sich die wenigen Autoren erworben, die sich denen widmeten, die gar keine "Lobby" hatten: den sog. "Asozialen". Aber um "ganz gewoehnliche", moeglicherweise auf mehrere KZ-Haeftlingsgruppen verteilte Gefangene hat sich kaum jemand gekuemmert: Um Frauen, die wegen einer Beziehung zu Kriegsgefangenen eingeliefert worden waren (Tabu-Thema in manchen Doerfern), um Personen, die "Feindsender" abgehoert hatten u.a.m.

Durch das Bundesentschaedigungsgesetz hatte sich die Bildung einer Unheiligen Allianz zwischen zwischen den offiziellen politischen Gruppierungen Deutschlands verfestigt: "Entschaedigung" oder gar eine Art von Anerkennung konnten nur Haeftlinge erhalten, die aus "politischen" oder religioesen Gruenden ihrer Freiheit und ihrer Menschenrechte beraubt worden waren. "Asoziale", obengenannte Frauen, sog. Homosexuelle, lange Zeit auch die Sinti und Roma fielen nicht unter das Gesetz - viele von ihnen bis heute nicht (inwieweit die wohl hauptsaechlich von der Partei "Buendnis 90/Gruene" und der SPD initiierten Haertefonds wirklich funktionieren, ist mir im Moment unbekannt; auf die Verdienste der Bundeszentrale fuer politsche Bildung und der Landeszentralen Saarland und Thueringen bei der Organisation von Tagungen zum Schicksal und zur Nichtentschaedigung beispielsweise von Homosexuellen ist allerdings hinzuweisen; Tagungsbaende sind in Vorbereitung).

Eine Gruppe wurde meines Wissens ueberhaupt nicht erforscht und wohl kaum thematisiert: die der sogenannten "Kriminellen". Sicherlich waren darunter viele "Berufsverbrecher", wie die (diskriminierende) Bezeichnung im KZ lautete und es ist genuegend bekannt, dass manche von ihnen (aber nicht nur diese, im uebrigen fehlen repraesentativ verwendbare Erhebungen) ihr schreckliches Gebaren auch gegenueber Haeftlingen fortsetzten. Als einzige, aber einsam gebliebene Stimme ist mir hier die des damaligen Badischen Generalstaatsanwaltes Bauer - des Mannes, der spaeter den Frankfurter Auschwitz-Prozess zustande brachte - aus dem Jahre 1946 bekannt (ich vermag die Zitatstelle nicht zu nennen, vielleicht kann jemand behilflich sein). Er wies auf die sogenannten "BVer" in den Lagern hin. Ich erinnere mich an seine Begruendungen nicht im einzelnen. Aber einfache Ueberlegungen sagen einem: KZ-Haft stellte einen terroristischen Akt und keinen rechtlich zulaessigen Strafvollzug dar. Selbst ein Moerder war ein Opfer, wenn er in ein Lager der Nazis geriet .

Man verzeihe es mir, wenn ich mich, wie das H-Net erlaubt oder wohl geradezu hervorrufen soll, etwas spontan und nicht abgesichert durch Fussnoten geaeussert habe und wenn manche wissenschaftliche oder publizistische Leistung dabei uebersehen worden sein sollte. Es ist mir darauf angekommen, diese Gedanken einmal in einfacher Form und sehr direkt aeussern und reproduzierbar darstellen zu koennen, nicht zuletzt vielleicht auch als Anregung fuer eine weitere Diskussion.

Dr. Reinhard Bollmus, Tel./Fax 0651-34611, e-mail: rbt@uni-trier.de


Von Opfermann, Charlotte20.07.2004

Ergänzung von Charlotte Guthmann Opfermann

<< aber einsam gebliebene Stimme ist mir hier die des damaligen Badischen Generalstaatsanwaltes Bauer - des Mannes, der spaeter den Frankfurter Auschwitz-Prozess zustande brachte - aus dem Jahre 1946 bekannt (ich vermag die Zitatstelle nicht zu nennen, vielleicht kann jemand behilflich sein). >>

Das war Fritz Bauer.
Evtl koennte das Fritz Bauer Institut in Frankfurt da helfen.

Charlotte Guthmann Opfermann
College of the Mainland, Texas City-Houston TX
and
internet course 'Hitler, Heydrich, Himmler, Eichmann and Co on the
Holodeck' at Nicolaus Copernicus University Torun/Poland


Von Groh, Christian20.07.2004

Meines Wissens handelt es sich bei dem von Reinhard Bollmus erwaehnten Beitrag des bad. Generalstaatsanwalts, Karl Siegfried Bader (nicht Bauer) um folgenden Artikel:

Bader, Karl Siegfried: Der kriminelle KZ-Haeftling. Ein kriminologisches Gegenwartsproblem. In: Die Gegenwart 1 (1945/46), Nr. 14/15, 18-21.

Die nur kurz anhaltende Debatte, die Bader 1946 ueber "Berufsverbrecher" in KZ's angestossen hatte, findet auch Erwaehnung im folgenden Buch:

Wagner, Patrick: Volksgemeinschaft ohne Verbrecher. Konzeptionen und Praxis der Kriminalpolizei in der Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus. Hamburg 1996 (Hamburger Beitraege zur Sozial- und Zeitgeschichte. Herausgegeben von der Forschungsstelle fuer die Geschichte des Nationalsozialismus in Hamburg. Band 34), S.406.


Von Woll, Johannes F.20.07.2004

Kommentar von Johannes F.Woll

Der Beitrag von Michael H. Kater "Die Ernsten Bibelforscher im Dritten Reich" ist erschienen als Aufsatz in den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte Jahrgang 17 (1969), 181-218.

Ergänzend möchte ich noch auf die Arbeit von Detlef Garbe (Leiter der Gedenkstätte Neuengamme und Lehrbeauftragter für Zeitgeschichte an der Univ. Hamburg) "Zwischen Widerstand und Martyrium. Die Zeugen Jehovas im 'Dritten Reich'", Studien zur Zeitgeschichte, Band 42, 4. Auflage 1999, München sowie die Neuerscheinung von Uwe Werner (unter Mitwirkung von Christoph Lindenberg), "Anthroposophen in der Zeit des Nationalsozialismus (1933-1945). 1999. München. aufmerksam machen.

Sehr interessant die Ausführungen zu den "Kriminellen" im "Lageralltag" in Hans Reichmann, "Deutscher Bürger und verfolgter Jude. Novemberpogrom und KZ Sachsenhausen 1937 bis 1939" in der Bearbeitung von Michael Wildt. Biographische Quellen zur Zeitgeschichte, Band 21.1998. München.

Johannes F. Woll
Oldenbourg Wissenschaftsverlag
- Lektorat GW -
089-45051-379
(Fax: -266)
lektorat-w@verlag.oldenbourg.de
http://www.oldenbourg-verlag.de


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