A. Hagen: Deutsche Direktinvestitionen in Grossbritannien

Titel
Deutsche Direktinvestitionen in Grossbritannien, 1871-1918.


Autor(en)
Hagen, Antje
Reihe
Beitraege zur Unternehmensgeschichte 97 Neue Folge 3
Erschienen
Stuttgart 1997: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
356 S.
Preis
€ 75,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Mark Spoerer, Fg. Wirtschafts- u. Sozialgeschichte, Universität Hohenheim

Wenn heute ueber die Globalisierung und deren Folgen diskutiert wird, so wird haeufig vergessen, dass die Weltwirtschaft schon einmal einen starken Integrationsschub erlebte. Zwischen 1870 und 1913 wuchs die Produktion der Industrielaender durchschnittlich um 2,5% p.a., der grenzueberschreitende Handel dagegen um 3,9%. Doch nicht nur die Warenstroeme nahmen Ausmasse an wie nie zuvor, sondern auch die internationalen Bewegungen der Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital: waehrend sich immer neue Schuebe europaeischer, chinesischer und indischer Auswanderer in die Neue Welt aufmachten, erlebte der weltweite Kapitalverkehr ein Ausmass, das er vermutlich erst in den 80er Jahren dieses Jahrhunderts wieder erreichte.

'Vermutlich' - denn gerade die Tatsache, dass der Verkehr von Kapital, erleichtert durch den Goldstandard, der feste Umtauschrelationen der wichtigsten Waehrungen garantierte, auf vergleichsweise wenig Hindernisse stiess, macht seine Erfassung so schwierig. Waehrend die Stroeme der Auswanderer und (physischer) Waren verhaeltnismaessig gut nachvollziehbar sind, wissen wir wohl etwas ueber die Richtung der wesentlichen Kapitalstroeme, nicht aber ihren Umfang. Auch ueber das Gewicht verschiedener Investitionsmotive ist wenig bekannt - a priori ist ja zunaechst einmal nicht einzusehen, weshalb ein Investor sein Kapital in einem fremden Land anlegt, dessen Sprache, Gesetze und Maerkte er nur unzureichend kennt, und mit dem sich sein Land vielleicht demnaechst im Krieg befinden koennte. Dies gilt umsomehr fuer Direktinvestitionen, die rueckgaengig zu machen weitaus schwieriger ist als Portfolioinvestitionen. (Waehrend letztere reine Geldanlagen sind, impliziert eine Direktinvestition die Kontrolle des investierten Kapitals durch den Kapitalgeber, d.h. er wird im Ausland unternehmerisch taetig. Diese Auslandstaetigkeit kann sich auf den Betrieb einer Vertriebs- oder Reparaturgesellschaft beschraenken, kann aber auch eine eigene Produktionsstaette umfassen.)

Die deutschen Portfolioinvestitionen zwischen 1870 und 1914 wurden kuerzlich von Karl Christian Schaefer untersucht.(1) Waehrend seine Dissertation von wirtschaftshistorischen Fragestellungen geleitet und methodisch stark quantitativ gepraegt ist, verfolgt Antje Hagen einen unternehmenshistorisch-deskriptiven Ansatz. Fuer den gleichen Zeitraum untersucht sie die Direktinvestitionen aus Deutschland, einer der am staerksten wachsenden Volkswirtschaften dieser Zeit, in Grossbritannien, der immer noch fuehrenden Welt(handels)macht. Hagen hat in nicht weniger als 34 Archiven fuer das Stichjahr 1914 179 britische Firmen mit deutschen Muttergesellschaften ausfindig machen koennen. Die gesamte darin investierte Summe veranschlagt sie auf eine knappe Viertelmilliarde Mark (zum Vergleich: der deutsche Kapitalstock betrug 1913 zwischen 250 und 300 Mrd. M, das Bruttoinlandsprodukt etwa 57 Mrd. M).

Als Untersuchungsziel hat sich Hagen einerseits die Beschreibung von Art und Umfang dieser Investitionen vorgenommen, andererseits wird "aus der Betrachtung der Beweggruende individueller Entscheidungen [...] unter Zuhilfenahme theoretischer Ansaetze zur Entstehung der multinationalen Unternehmung der Versuch unternommen, wiederkehrende Verhaltensmuster herauszustellen" (S. 20). Diese theoretischen Ansaetze werden im zweiten Kapitel kurz vorgestellt, dann aber weitgehend ausgeblendet, um erst in der Zusammenfassung wieder aufzutauchen und wirken mithin etwas aufgepfropft.

Die Staerke der vorliegenden Arbeit liegt vielmehr in dem geradezu enzyklopaedischen Bild, das die Verfasserin ausbreitet. Sie ist nicht den einfachen Weg gegangen und hat sich ein paar als repraesentativ behauptete, archivalisch gut dokumenterte Einzelfaelle herausgepickt, sondern hat tatsaechlich versucht, alle dokumentierten Faelle zusammenzutragen um erst aus der Gesamtschau auf die sich ergebenden Konturen hinzuweisen.

Sie stellt die deutschen Direktinvestitionen in Grossbritannien nach Branchen gegliedert vor, wobei zunaechst eine allgemeine Beschreibung der Branchenentwicklung vorangestellt ist. Das ist schon deswegen sinnvoll, weil sich erst aus Kenntnis der Marktverhaeltnisse und der relativen Stellung deutscher Unternehmen Hypothesen ueber denkbare Motive und Strategien der Auslandsinvestition ableiten lassen. Diese werden in der Regel in einem zweiten Abschnitt ("Verhaltensannahmen") formuliert, ehe im Hauptabschnitt die einzelnen Investitionsprojekte vorgestellt werden. Dies wird, mit leichten Variationen, Branche fuer Branche durchexerziert und ist weiss Gott nicht leserfreundlich. Aber es ist inhaltlich ueberzeugend.

Das facettenreiche Bild, das die Verfasserin in der Zusammenfassung zeichnet, soll hier nicht im Einzelnen wiedergegeben werden. Entscheidend fuer Direktinvestitionen im industriellen Bereich waren in den meisten Faellen kompetitive Vorteile deutscher Unternehmen gegenueber der britischen Konkurrenz, also bessere Produkte oder patentgeschuetzte kostenguenstigere Produktionsverfahren, nicht etwa, wie heute oft, steuerliche Erwaegungen. Besonders stark waren die deutschen Unternehmen in den damals neuen Industrien, der Chemie und der Elektrotechnik, zum Teil auch im Maschinenbau. Vielfach sind es aber auch kleinere und unbedeutendere Unternehmen gewesen, die in bestimmten Marktnischen international erfolgreich waren und ihren Absatz in einem der groessten Maerkte der Welt selbst organisieren wollten: Klavierhersteller, Schokoladenproduzenten usw. Ueber solche Unternehmen und Branchen liest man sonst wenig in der zumeist auf (erfolgreiche) Grossunternehmen fixierten unternehmenshistorischen Literatur.

Ob und in welcher Form nun eine Direktinvestition erfolgte, hing von zwei Faktoren ab. In der Regel war die entscheidende Frage, ob mit der Herstellung des betreffenden Produkts Lohnkosten- oder Groessenvorteile entstanden, die die Transportkosten ueberkompensierten (verglichen mit Grossbritannien und v.a. den USA war Deutschland ein "Billiglohnland"). War dies der Fall, und war Eigenvertrieb guenstiger als Export ueber einen britischen Geschaeftspartner, reichte eine britische Vertriebsgesellschaft, ansonsten lohnte unter Umstaenden eine eigene britische Produktionsgesellschaft. Dafuer sprachen auch zwei weitere, nicht unmittelbar betriebswirtschaftliche Gruende: in Zeiten nachlassender britischer Exporte gingen "Buy British!"-Aufrufe durchs Land, und wer mit der britischen Regierung Geschaefte machen wollte, war ohnehin besser beraten, im Lande zu produzieren. Ein weiterer Aspekt kam mit dem Patentgesetz von 1907 hinzu, das einen Ausfuehrungszwang binnen vier Jahren vorsah, ansonsten verfiel das Patent. Tatsaechlich kann die Verfasserin nachweisen, dass 46% der 1914 existierenden britischen Toechter deutscher Unternehmen, deren Gruendungsdatum bekannt ist, 1907 und spaeter gegruendet wurden, dagegen nur 21% zwischen 1900 und 1906 (wobei allerdings ein survivor bias zu beruecksichtigen waere).

Direktinvestitionen im Dienstleistungsbereich hatten andere Gruende. Ihre Praesenz in Grossbritannien ist, so Hagen, im wesentlichen als Folge des stark expandierenden deutschen Aussenhandels zu sehen. Deutsche Ex- und Importeure verliessen sich haeufig lieber auf Landsleute, wenn es um Kredite, Versicherungen und den Warentransport ging. Auch nationale Motive werden von der Autorin geltend gemacht.

Dies ist kein Buch, das man mit gluehenden Ohren im Bett liest, nicht nur wegen der Materie und ihrer Strukturierung, sondern auch aus stilistischen Gruenden. Es beantwortet jedoch die eingangs gestellten Fragen umfassend und ueberzeugend und wird sicherlich schon wegen des relativ breiten (und breit angegangenen) Untersuchungsgegenstands zu einem unternehmens- und branchenhistorischen Nachschlagewerk.

Anmerkungen:

(1) Karl Christian Schaefer: Deutsche Portfolioinvestitionen im Ausland 1870-1914. Banken, Kapitalmaerkte und Wertpapierhandel im Zeitalter des Imperialismus (Muensteraner Beitraege zur Cliometrie und quantitativen Wirtschaftsgeschichte, Bd. 2), Muenster 1995.

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