C. Wegeler: " ... wir sagen ab der internationalen Gelehrtenrepublik"

Titel
" ... wir sagen ab der internationalen Gelehrtenrepublik". Altertumswissenschaft und Nationalsozialismus. Das Göttinger Institut für Altertumskunde 1921-1962


Autor(en)
Wegeler, Cornelia
Erschienen
Anzahl Seiten
427 S.
Preis
€ 54,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Klaus-Peter Sommer, Institut für Wissenschaftsgeschichte, Georg-August Universität Göttingen

Im gegenwaertigen Disput ueber die Historiker im Nationalsozialismus spielen Althistoriker kaum einen Rolle. Es geht um die "Vaeter der Sozialgeschichte" wie W. Conze oder einer "Europaeisierung der deutschen Geschichtswissenschaft" wie Th. Schieder. Auf jeden Fall um Historiker, deren Schulen - wie auch die von K.D. Erdmann - noch heute einflussreich sind. Das ist aus zwei Gruenden bedauerlich. Einmal weil es das Thema verengt und zum anderen deswegen, weil einige gewiss meinen werden, es gehe in dem gegenwaertigen Disput nicht nur oder primaer um die Aufklaerung der Vergangenheit, sondern auch um die Attackierung dieser Schulen.

Zum Thema, aber zum Glueck ausserhalb der Gefahr, dass sich viele angegriffen fuehlen koennten, ist das Buch von Cornelia Wegeler. Vergleichbare Studien, deren Beschreibungseinheit nicht bloss ein Historiker, sondern eine ganze Schule bzw. ein ganzes Institut ist, gibt es kaum. Wegeler behandelt einerseits die Geschichte der Schule von Ulrich v. Wilamowitz-Moellendorff (1848-1931) und andererseits die des Goettinger Instituts fuer Altertumskunde. Letztere als eine Fallstudie eines Teils jener, da fast alle Goettinger Altphilologen Schueler oder Enkelschueler von Wilamowitz waren. Wilamowitz war zwar konservativ und im 1.Weltkrieg "alldeutsch", hatte aber dadurch, dass viele seiner Schueler Juden waren, nicht nur in Goettingen, sondern auch sonst im Deutschen Reich - in den Augen der Rassisten - fast schon eine "Verjudung" der klassischen Altertumswissenschaft herbeigefuehrt.

Goettingen hatte dagegen schon frueh politisch aktive, notorisch antisemitische und chauvinistische Altertumswissenschaftler. So nach dem Orientalisten Paul de Lagarde (1827-1891) den Althistoriker Hugo Willrich (1867-1950, Privatdozent seit 1896, spaeter Oberlehrer und Honorarprofessor, DNVP). Er gruendete 1919 einen "Bund zur Befreiung vom Judenjoch" und half dem Chemie-Studenten Achim Gercke, Sohn eines Klassischen Philologen, unter dem Tarnnamen "Archiv fuer berufsstaendische Rassenstatistik" eine "Judenkartei" aufzubauen, die rasch die reichsweit wichtigste Auskunftsstelle fuer Antisemiten wurde. Ohne sie als Basis haette, wie Wegeler entdeckte und in der internationalen Holocaust-Forschung kaum bekannt gewesen zu sein scheint, die Vertreibung juedischer Hochschullehrer von den deutschen Universitaeten aufgrund des "Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" vom 7.4.1933 nicht durchgefuehrt werden koennen.

1921 wurde auf Betreiben des Reformations-Historikers Karl Brandi (1868-1946, DVP) Ulrich Kahrstedt, Muensteraner Privatdozent und Lehrstuhlvertreter in Marburg und seit 1919 Fraktionsassistent der DNVP, Ordinarius fuer Alte Geschichte in Goettingen. Er hatte im Juni 1919 fuer die DNVP ein geheimes Propaganda-Strategie Papier verfasst, in dem er empfahl, auch nicht den Tatsachen Entsprechendes propagandistisch auszuschlachten. Nicht nur nahm er mit seinen Empfehlungen die spaetere Strategie Goebbels' vorweg, sondern gibt auch ein ungewoehnliches Beispiel dafuer, zu welchem Zynismus und Skrupellosigkeit nach ihrem Selbstverstaendnis und von Amts wegen zur Wahrheit verpflichtete Hochschullehrer faehig sind. Dieses schon 1969 von Annelise Thimme vorgestellte infame Papier ediert Wegeler dankenswerterweise in ihrer Arbeit.

Goettingen hatte durch Felix Klein, David Hilbert, James Franck, Max Born, Richard Courant, Emmy Noether und viele andere ab der Jahrhundertwende Weltgeltung in Mathematik und Naturwissenschaften errungen. Deren Zerstoerung 1933 wurde von vielen Kollegen der historisch-philologischen Wissenschaften, nachdem sie Jahrzehnte im Schatten der Naturwissenschaftler gestanden hatten, begruesst und z.T. oeffentlich umgehend verteidigt: So von Kahrstedt in London, vom Vorsitzenden des deutschen Historikerverbandes Brandi in Kopenhagen und dem Mittelalterhistoriker Percy Ernst Schramm (1894-1970) in Princeton. Als Brandi aber nach langwierigen Verhandlungen den Besuch des internationalen Historikertages 1933 in Warschau durch eine deutsche Delegation - zu der auch Schramm gehoerte - gesichert und diese dort auch geleitet hatte, forderte Kahrstedt die Studenten in seiner Rede zur Reichsgruendungsfeier der Universitaet Goettingen vom 18.1.1934 indirekt, aber unverkennbar, zum Totschlag Brandis und Schramms auf, da sie, statt der "internationalen Gelehrtenrepublik" abzusagen, wie es jetzt geboten sei (und Wegelers Buch den Titel gibt), sie gepflegt und damit die deutsche Ehre verletzt haetten. Brandi und Schramm forderten Kahrstedt zum Duell, erreichten aber nichts anderes als ein Ehrengericht und das Eingestaendnis Kahrstedts, nicht gewusst zu haben, dass Brandis Engagement durch die Reichsleitung gedeckt war, seine geforderte "Absage" also im Widerspruch zur Politik der Nationalsozialisten gestanden habe. Das kam ihm, der waehrend der ganzen Weimarer Republik und bis zum Verbot der "Eisernen Blaetter" seines Freundes Gottfried Traub 1939 deren staendiger aussenpolitischer Kolumnist war, dann bei seiner Entnazifizierung sehr zustatten, konnte er sich doch so als frueher Oppositioneller der Nazis stilisieren.

Wegelers Arbeit ist nur auf den ersten Blick eine Fallstudie der Geschichte des Instituts fuer Altertumskunde der Universitaet Goettingen in der Zeit des Nationalsozialismus mitsamt ihrer Vor- und Nachgeschichte in Form von halbherziger Entnazifizierung und Wiedergutmachung, die eindruecklich belegt, dass von "unpolitischen Geisteswissenschaftlern", die deswegen von nichts haben wissen koennen, wie es nach 1945 immer wieder hiess, nicht im mindesten die Rede sein kann. Indem sie den "reichsweiten" Kontext der Altphilologie in Deutschland seit W. v. Humboldt, F.A. Wolf und A. Boeckh und dann insbesondere das Schicksal der haeufig nur im Sinne von Rassisten "juedischen" Schueler von Wilamowitz rekonstruiert, versucht sie den Verlust zu belegen und den Rueckstand zu erklaeren, den deren Vertreibung, Emigration und Ermordung fuer die Inhalte und Methoden der Philologie in Deutschland bis auf den heutigen Tag bedeute, da diese bis in die 70er Jahre durch die auch Bruno Snells Meinung nach zwiespaeltige Dominanz des wenn auch persoenlich integeren, selber in die Emigration gegangenen Werner Jaeger (1888-1961) und seiner Schule gepraegt worden sei. Wegelers Buch ist daher auch eine Darstellung der Vertreibung von Altphilologen aus dem gesamten deutschsprachigen Raum (wozu auch eine sehr nuetzliche Tabelle im Anhang dient). Ihr Gesamtueberblick erlaubt ihr gleichzeitig einen Vergleich der Schulen von Hermann Usener (1834-1905), Wilamowitz und Jaeger. Etwas Aehnliches hat Wegelers Ansicht nach bisher nur Hans-Joachim Mette in seinem "Nekrolog einer Epoche" 1980 versucht. Er lasse aber den Neuaufschwung der klassischen Philologie mit Hermann Usener beginnen, was nach Wegelers Ansicht nicht nur der historisch ueberragenden Bedeutung von Wilamowitz nicht gerecht wird, sondern auch ein Versuch sei, den durch den "Exodus des groessten Teils der Wilamowitzschule" - waehrend die Enkelschueler Useners und Schueler Jaegers "in der Mehrheit hierblieben und sich z.T. den Nationalsozialisten andienten" (S.185, 183) - erzeugten kardinalen Bruch in der Geschichte der Altphilologie in Deutschland zu vertuschen.

Wegelers Buch ist daher nicht nur eine sehr gelungene Fallstudie eines Instituts und der Schicksale seiner Mitglieder, wobei sie - was in der von Professoren geschriebenen Professoren-Geschichte viel zu selten geschieht - bis herab zum wissenschaftlichen Nachwuchs und den Niederungen des studentischen Alltags geht, sondern enthaelt gleichzeitig auch noch provokante Thesen zur Beurteilung der klassischen Philologie dieses Jahrhunderts in Deutschland, an der die Forschung nicht wird vorbeigehen koennen.

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