A. Albrecht: Zigeuner in Altbayern 1871-1914

Titel
Zigeuner in Altbayern 1871-1914. Eine sozial-, wirtschafts- und verwaltungsgeschichtliche Untersuchung der byerischen Zigeunerpolitik


Autor(en)
Albrecht, Angelika
Reihe
Materialien zur bayerischen Landesgeschichte 15
Anzahl Seiten
426 S.
Preis
€ 24,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martin Holler, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

Bayern war im Kaiserreich eine treibende Kraft bei der polizeilichen „Bekämpfung des Zigeunerunwesens“. Spätestens mit der Gründung der „Zigeunerzentrale“ bei der Münchener Polizeidirektion im Jahre 1899 übernahm Bayern die führende Rolle, die bis dahin Preußen innegehabt hatte. Doch was hat man unter „Zigeunerunwesen“ zu verstehen? Und welcher Erfolg war dessen Bekämpfung beschieden? Mit diesen Fragen setzt sich Angelika Albrecht in ihrer umfangreichen Untersuchung über „Zigeuner in Altbayern 1871-1914“ auseinander. Die regionale Eingrenzung auf Altbayern begründet Albrecht mit der zusammenhängenden ländlich-bäuerlichen Struktur des bayerischen Kernlands, was wiederum eine günstige Quellenlage mit sich bringe (S. 6). Neben dem bayerischen Hauptstaatsarchiv wurden die Staatsarchive Amberg für die Oberpfalz, Landshut für Niederbayern und München für Oberbayern aufgesucht. Die Untersuchung basiert auf einer Dissertation, die 1998 an der Universität Regensburg angenommen wurde. Insofern verblüfft der Zeitraum von vier Jahren, der zwischen Fertigstellung und Drucklegung liegt. Zu bedauern ist dabei in erster Linie, dass der Text für die Veröffentlichung inhaltlich nicht aktualisiert wurde und damit den neuesten Forschungsstand 1 unberücksichtigt lässt.

Die Arbeit lässt sich in drei wesentliche Themenkomplexe einteilen. Ein einleitender Teil untersucht das „Zigeunerbild“, das Anthropologen, Kriminalbiologen und Beamte im 19. Jahrhundert entwarfen (S. 23-68). Den Schwerpunkt der Analyse bilden die konkreten Maßnahmen der Verwaltungs- und Polizeibehörden (S.69-285), während ein Perspektivenwechsel im letzten Teil die Lebensverhältnisse der betroffenen „Zigeuner“ ins Zentrum rückt (S. 286-372).

Albrechts ideologiekritische Auseinandersetzung mit dem wissenschaftlichen „Zigeunerdiskurs“ des 19. Jahrhunderts wirkt ein wenig losgelöst vom Gesamtkontext. Zwar räumt sie der Beschreibung anthropologischer und kriminalbiologischer Theorien einen relativ breiten Platz ein, doch finden ihre Ergebnisse im weiteren Verlauf der Untersuchung keine Verwendung. Abgesehen von neu entwickelten erkennungsdienstlichen Techniken wie Anthropometrie und Daktyloskopie sieht Albrecht nämlich das „Zigeunerbild“ der Beamten unbeeinflusst, da diese die vermeintliche „Zigeunerplage“ unter rein sicherheitspolitischen Aspekten betrachteten: „Der Zigeunerbegriff der bayerischen Behörden war also vorrangig nach sozialem Verhalten und nicht ethnisch definiert.“ (S. 37) Demnach seien in den überlieferten Dokumenten die Worte „Zigeuner“ und „Landstreicher“ durchweg synonym gebraucht worden.

In dieser Auffassung liegt der wunde Punkt der gesamten Darstellung. Albrecht übernimmt bedenkenlos den Standpunkt des Sozialwissenschaftlers Leo Lucassen. 2 Die Reduktion auf einen rein soziografischen „Zigeuner“-Begriff ist jedoch für die Zeit des Kaiserreichs unhaltbar und trübt den Blick für historische Kontinuitäten, wie etwa die repressive Minderheitenpolitik. 3 Kennzeichnend für die „Zigeunerpolitik“ nach 1871 wurde die Differenzierung zwischen „inländischen“ und „ausländischen Zigeunern“. Da letzteren der Aufenthalt in Bayern untersagt war, richtete sich die Stoßrichtung der bayerischen „Zigeunerpolitik“ ab 1885 gegen „inländische Zigeuner“, über deren Status lange debattiert wurde. Letztlich unterschied man ausdrücklich zwischen „Zigeunern“ und „nach Zigeunerart umherziehenden Personen“. Während im ersten Fall vorrangig das ethnische Kriterium für eine gesonderte Registrierung ausschlaggebend war, wurden „Nicht-Zigeuner“ im zweiten Fall nach rein sozioökonomischen Kriterien eingeteilt. Nach dem gleichen Einteilungsprinzip katalogisierte die Münchener „Zigeunerzentrale“ alle registrierten Personen. Für die Beamten brachte die Unterteilung einen zusätzlichen Arbeitsaufwand, doch wurden mehrere Anträge auf eine Vereinheitlichung abgelehnt. Das Festhalten an einer ethnischen Kategorie verweist auf die Lehren Cesare Lombrosos, der in Sinti und Roma schlicht eine „Rasse von Verbrechern“ sah. Ja, mehr noch. Die getrennte Buchführung nach rassischen und sozialen Kriterien wurde trotz aller Widersprüche maßgebend für das gesamte Reich und wirkte bis in die Zeit des Nationalsozialismus fort.

Inwieweit der anthropologische und kriminalbiologische Rassismus das „Zigeunerbild“ auf allen gesellschaftlichen Ebenen des Kaiserreichs beeinflusste, lässt sich überdies an ständig wiederkehrenden Argumentationsmustern beobachten. Um nur einige Beispiele zu nennen: in der Presse wurden „Zigeuner“ als geborene Straftäter und „Wilde“ mit „südländischer Abstammung“ diffamiert (S. 180); die klösterliche Rettungsstelle Ettmannsdorf lehnte die Überweisung von „Zigeunerkindern“ aufgrund ihres vermeintlich angeborenen Wandertriebes ab (S.202); schwäbische Behörden attestierten den Sinti und Roma einen „ethnologisch begründeten Nomadentrieb“ (S. 203); ein niederbayerischer Regierungsvertreter sprach von einem „Volksstamme [...], der unbekümmert um die fortschreitende Civilisation an seinen prähistorischen Gewohnheiten festhält“ (S. 337) usw. Solcherlei Beispiele sind Legion, werden allerdings von Albrecht ohne Verweis auf die ethnische bzw. antiziganistische Komponente angeführt.

Der zentrale Teil der Untersuchung widmet sich der konkreten bayerischen „Zigeunerpolitik“ sowie den damit betrauten Behörden. Albrecht durchleuchtet den Orientierungswandel der mittleren und oberen Instanzen zwischen den 1880er-Jahren und dem Beginn des 20. Jahrhunderts. Die bayerische Ministerialentschließung vom 11. April 1885 verfolgte zunächst das realitätsferne Ziel, durch die restriktive Reglementierung des Wandergewerbes und einen abschreckenden Strafenkatalog das angebliche „Problem“ der nichtsesshaften Lebensweise ganz aus der Welt zu schaffen. Im Jahre 1899 nahm dann das Ideal einer totalen Überwachung aller „Zigeuner“ und „nach Zigeunerart umherziehenden“ Personen konkrete Gestalt an. Die „Zigeunerzentrale“ der Polizeidirektion München systematisierte und zentralisierte die Ermittlungs- und Erfassungsarbeit ganz Bayerns sowie der süddeutschen Staaten. Albrecht beschreibt sehr anschaulich die allmähliche Ausweitung der sicherheitspolizeilichen Kompetenzen um einen staatsanwaltschaftlichen und schließlich auch standesamtlichen Nachrichtendienst. Bayern verstand sich selbst schließlich als Motor einer reichsweiten Koordinierung, wenn auch das Ziel, eine „Reichszigeunerzentrale“ mit Sitz in München zu gründen, auf der „Zigeunerkonferenz“ von 1911 am preußischen Widerstand scheiterte (S.179-182).

Doch auch die erwünschte Kontrolle über Bayern stieß in der Praxis auf deutliche Grenzen, wie aus wiederholten Klagen des Innenministeriums hervorgeht. Eine Schlüsselrolle kam hierbei den Bezirksämtern zu, da deren Vertreter „im Laufe ihrer Amtstätigkeit mit Reisenden direkt in Kontakt kamen“ (S. 9). Diesen wurde immer wieder vorgeworfen, zu großzügig Wandergewerbescheine und ähnliche Legitimationen an „inländische Zigeuner“ auszustellen. Und auch von der anempfohlenen Möglichkeit, „Zigeuner“ wegen Landstreicherei oder Bettelei in Arbeitshäuser einzuweisen, wurde aus ministerieller Sicht zu wenig Gebrauch gemacht. Den Grund für die lasche Amtspraxis in den Gemeinden sieht Albrecht mit gutem Recht im unüberwindbaren Dissens zwischen zentraler und lokaler Ebene (S.233). Letztere empfand die Ministerialverordnungen als kostenaufwändige Belastung und war daher tunlichst bemüht, „Zigeuner“ möglichst von ihrem Amtssprengel fernzuhalten oder zumindest deren Aufenthaltsdauer zu begrenzen. Aus dieser Motivation erklären sich auch die regelmäßigen Rügen an die örtliche Gendarmerie, die Meldepflicht zu umgehen, um eine langwierige Identitätsrecherche zu vermeiden.

Albrechts Thesen zu den Widersprüchen bayerischer „Zigeunerpolitik“ sind in der einen oder anderen Form bereits in früheren, allgemeineren Veröffentlichungen formuliert worden 4, doch besticht ihre Regionalstudie durch gründliche Quellenarbeit und stichhaltige Argumentation. Die wissenschaftlich exakte Arbeitsweise der Autorin äußert sich ferner in der auffallend häufigen Korrektur fehlerhafter Zahlenangaben ihrer Vorgänger.

Nebenbei gelingt es Albrecht immer wieder, gängige Vorurteile durch nüchterne Fakten und Zahlen zu widerlegen. Allen voran ist hier das politische Schlagwort „Zigeunerplage“ zu nennen. Die damit suggerierte Überflutung der Länder hält keiner statistischen Erhebung stand, was den polizeilichen Aufwand als vollkommen unverhältnismäßig entlarvt (S. 287). Ähnlich verhält es sich mit dem häufig wiederkehrenden Vorwurf der Brandstiftung durch bettelnde „Zigeuner“, den Albrecht durch kriminalistische Statistiken entwaffnet: für den gesamten Untersuchungszeitraum ist ein einzelner Prozess gegen wandernde „Zigeuner“ überliefert (S. 261-263). In mentalitätsgeschichtlicher Interpretation verweist Albrecht hierbei auf den traditionellen Aberglauben der ländlichen Bevölkerung, wonach „Zigeuner“ über magische Kräfte über das Feuer verfügten. Auch hier haben wir es unterdessen mit einem ethnisch orientierten „Zigeuner-Mythos“ zu tun.

Methodisch und inhaltlich weniger überzeugend ist der letzte Hauptteil über „Die Lebensumstände der Zigeuner“. Der statistischen Auswertung (Familienstand, Berufsstruktur, Staatsangehörigkeit und Vorstrafen) von Dillmanns „Zigeunerbuch“ (1905) werden erneut die Akten der Bezirksämter und Regionalregierungen gegenübergestellt. Dabei kommt es zu auffallenden Wiederholungen umfangreicher Zitate und ganzer Gedankengänge der vorhergehenden Kapitel. Darüber hinaus erscheinen Zweifel über die Aussagekraft der Akten für die konkrete Fragestellung angebracht. Der gelegentliche Rückgriff auf Spekulationen und allgemeingültige Feststellungen (Argument für ehrlichen Pferdehandel: „Wer einen Bauern mit einem schlechten Pferd betrog, hatte sich seinen Ruf verdorben und damit für die Zukunft gute Kunden verloren.“ (S. 328)) unterstreicht die Schwierigkeit, aus Polizeiakten einen „Normalfall“ abzuleiten. Dass laut Albrecht die „nomadische Lebensweise für die Zigeuner selber identitätsstiftende Funktion“ (S. 338) gehabt haben soll, ist wohl wiederum ihrem soziografischen „Zigeuner“-Begriff geschuldet. Die Mehrzahl der Sinti und Roma jedenfalls war im 19. Jahrhundert sesshaft. 5

Festzuhalten bleibt, dass Angelika Albrecht insgesamt gesehen eine wertvolle Arbeit vorgelegt hat, welche die „Zigeunerpolitik“ in Altbayern innerhalb des gewählten historischen Zeitrahmens offenbar erschöpfend behandelt. Die souveräne und detaillierte Erläuterung verwaltungsgeschichtlicher Entwicklungen gestattet einen tiefen Einblick in die Intentionen, Strukturen und Handlungsspielräume der mit „Zigeunern“ beschäftigten bayerischen Verwaltungsbehörden. Weniger souverän ist die Ableitung des „Zigeunerbildes“, da Albrecht trotz ihrer intensiven Quellenarbeit an einer einseitigen soziografischen Definition von „Zigeuner“ festhält und es sich damit zu leicht macht. Kommende Regionalstudien werden sich dieser Problematik mit größerer Offenheit stellen müssen.

Anmerkungen
1 Ein Jahr vor Albrecht erschien Bonillo, Marion, „Zigeunerpolitik“ im Deutschen Kaiserreich 1871-1918, Frankfurt am Main 2001.
2 Lucassen, Leo, Zigeuner. Die Geschichte eines polizeilichen Ordnungsbegriffes in Deutschland, 1700-1945, Köln 1996.
3 vgl. Bonillo (wie Anm. 1); erstmals bei Wippermann, Wolfgang, Das „ius sanguinis“ und die Minderheiten im Deutschen Kaiserreich, in: Hahn, Hans Henning (Hg.), Nationale Minderheiten und staatliche Minderheitenpolitik in Deutschland im 19. Jahrhundert, Berlin 1999, S.133-143.
4 Neben den bereits erwähnten Autoren ist hier vor allem zu nennen Hehemann, Rainer,: Die „Bekämpfung des Zigeunerunwesens“ im Wilhelminischen Deutschland und in der Weimarer Republik, 1871-1933, Frankfurt am Main 1987.
5 Dies ergab zumindest eine preußische „Zigeunererhebung“ von 1886, vgl. Bonillo (wie Anm. 1), S.107-114.

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