H. James: Geschichte Europas im 20. Jahrhundert

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Titel
Geschichte Europas im 20. Jahrhundert. Fall und Aufstieg 1914-2001


Autor(en)
James, Harold
Erschienen
München 2004: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
576 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jost Dülffer, Historisches Seminar, Universität zu Köln

Zeitlich übergreifende Geschichten Europas im 20. Jahrhundert sind selten. Auf dem deutschen Büchermarkt waren Theodor Schieder und Karl Dietrich Bracher lange Zeit fast konkurrenzlos. Allerdings reichte Schieders buchlange Einleitung zu seinem „Europa im Zeitalter der Weltmächte“ von 1979 nur noch im letzten Ausblick in den „Kalten Krieg“ bis 1968, während Bracher „Die Krise Europas 1917–1975“ im Jahr 1975 relativ zeitnah abschloss.1 Den Anspruch einer Gesamtdarstellung erfüllt momentan eigentlich nur Mark Mazowers Großessay „Der dunkle Kontinent“.2 Harold James, in Princeton lehrend und besonders durch zahlreiche Bücher zur internationalen Wirtschaftsgeschichte ausgewiesen, begibt sich also auf einen schwer zu kategorisierenden und nur unvollkommen bestellten Acker – und lässt ihn als ein von zahlreichen Furchen durchpflügtes Feld zurück: erkenntnisreich, sprachlich oft brillant, mit einzelnen wenig bekannten Begebenheiten unauffällig prunkend, aber doch ohne übergreifende Gedanken und Entwürfe.

Eric Hobsbawm hat mit seiner „Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts“ klare zeitliche Zäsuren zur Diskussion gestellt und Begriffe geprägt.3 Bei James, der Europa ebenfalls weltweit einbettet, ist dies zumindest im deutschen Titel der gegenüber der Konvention umgedrehte Begriff „Fall und Aufstieg“ (engl.: „Europe Reborn“), mit dem die wechselnde Bewegungsrichtung von einem wie auch immer zu definierenden Oben und Unten her bestimmt wird. Walter Z. Laqueur hatte in seiner älteren Darstellung für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg mit „Phönix aus der Asche“ eine ähnliche Bewegung formuliert.4 Nur: Nach welchem Maßstab fällt und steigt Geschichte?

James schreibt eine sehr dichte Geschichte, die weniger auf Kategorien als vielmehr auf Anschauung, Differenzierung und Begriffe abhebt. Sie beginnt mit einem „stahlharten Gehäuse“, einer Darstellung von Modernisierung und Rationalisierung, aber „in ihrer einfachsten Form [...], ohne die Politik“ (S. 19). Sehr deutlich wird dabei der Wandel von Lebenswelten der Menschen – von der Demografie über die privaten Lebensverhältnisse, Mobilität, Individualismus und Religion bis zu den Städten und dem Landleben.

Die Politik liefern die im Wesentlichen chronologisch gegliederten weiteren zwölf Kapitel nach. Das wirft immer wieder darstellerische Probleme auf, werden die Gesamtentwicklungen doch vielfach nur in der Konkretion von Einzelstaaten bzw. in deren Interaktion deutlich. Im Fall der beiden Weltkriege sind dies etwa die inneren Fronten, die mentale und vor allem materielle Mobilisierung, aber auch die Staatenpolitik zwischen Frieden und Krieg. Wechselnde Perspektiven kreisen den Gegenstand also langsam ein. „Die unsichere Demokratie“ (Kap. 3) umfasst den größten Teil der 1920er-Jahre und gibt der Innenpolitik des Deutschen Reiches, Englands, Frankreichs und Italiens den ganzen Raum. Die Zusammenfassung „Demokratie, Gemeinschaft und Hass“ liefert eher impressionistisch einige Gemeinsamkeiten. Das folgende Kapitel „Europa und die Welt der Großen Depression“ bezieht die USA stark ein, ist eher handlungszentriert und hat dann auch andere Staaten im Visier. Dass die Türkei Kemal Atatürks fragend als „der starke Mann in Europa“ betrachtet wird, hat als Umkehrung älterer Deutungsmuster vom kranken Mann am Bosporus viel Charme.

Die großen diktatorischen Herausforderungen von Italien über Deutschland, Spanien und die Sowjetunion werden eher nacheinander abgehandelt. Die sowjetische Diktatur und die Formen ihrer Herrschaftsentfaltung beurteilt James vernichtend. Im Übrigen stehen die 1930er-Jahre bereits unter der Leitperspektive „Frieden und Krieg: Das Versagen der internationalen Ordnung“ – und schließen mit einem zupackenden systemischen Vergleich zwischen dem deutschen und sowjetischen Terror, der gerade hier erfreulicherweise nicht den Totalitarismustopos aufgreift. Der Charakter des Zweiten Weltkriegs als „Rassenkrieg“ wird zwar auf knapp zehn Seiten abgehandelt, doch dominieren die Ordnungs- und Gegenordnungsversuche. Kapitel 7 über den „Wiederaufbau Europas nach transatlantischem Muster“ in den 1950er-Jahren spricht nur den Westen an, hier aber knapp auch die kleineren Staaten – ebenso wie im nachfolgenden Kapitel über den Kommunismus. Das hat zuweilen handbuchartigen Charakter, macht jedoch die ganz unterschiedlichen Integrationswege in beiden Teilen Europas deutlich.

Die 1960er-Jahre erscheinen – in Anlehnung an Hobsbawm, der den Zeitraum allerdings länger fasst – als „goldenes Zeitalter“, was man in weiten Bevölkerungskreisen vermutlich schon damals anders sah. Hier kommen nun Jugendkultur und -revolte, das Vermächtnis von 1968, Frauenrechte und Homosexualität hinein. Dazu hätte man auch für die vorangegangenen 50 Jahre gern schon einiges gelesen. Für die 1970er-Jahre werden demgegenüber die „Grenzen des Wachstums“ betont, wobei das generelle Problem einer Kontrollierbarkeit von ablaufenden Ereignissen aufgeworfen wird. „Kybernetik“ oder „Regierung“ hatte man das einmal genannt – bei James richtet sich das Interesse auf die Beherrschbarkeit von sozialem Wandel insgesamt. Gerade zur westeuropäischen ökonomischen Integration im Rahmen des Weltwirtschaftssystems liefert James erhellende Beobachtungen. Ob es in den 1980er-Jahren wirklich über Margaret Thatcher hinaus in Europa einen „Rechtsruck“ gab, lässt sich hingegen auch bei zusätzlicher Anführung des bundesdeutschen Falls bezweifeln, steht das französische „zweijährige Experiment mit einer sozialistischen Politik“ (S. 394) doch deutlich dagegen – und war diese aus dem 19. Jahrhundert stammende Links-Rechts-Ausrichtung wirklich noch für ganz Europa dominierend?

Sehr gut arbeitet James das ökonomisch definierte Ende des Ostblocks heraus, aber auch die Rolle von Karol Wojtyła, Wojciech Jaruzelski und Michael Gorbatschow. Nach dem – als notwendig angesehenen – Ende des Sowjetkommunismus heißt Kapitel 13 ein wenig zu stromlinienförmig: „Die Rückkehr nach Europa. Die neue Politik und das Ende des Kalten Krieges“. Hatte James Europa nicht selbst konventionell und geografisch bis zum Ural und unter Einschluss der Türkei definiert sowie Nordafrika nur unter Bedenken ausgeklammert? Wie kann man zu etwas zurückkehren, zu dem man selbst gehörte? Und was in diesem Kapitel folgt, sind nicht nur die normalisierten Politiken und Demografien, sondern auch das, was sich als neue Unübersichtlichkeit beschreiben ließe. Das Buch endet mit fünf eloquenten und perspektivreichen Kurzessays unter dem jeweiligen Titel „Die neue Politik“, die neben Moral auch bedrohte Umwelt, Korruption und regionalen Nationalismus abhandeln – also doch eher die Folgen der kaum gesteuerten Globalisierung. Die hätte man gern mit der behaupteten „Rückkehr“ verrechnet gesehen.

Eine Bilanz gibt James nicht. Man könnte seine Bemerkungen über das einheitliche Europa, das nicht mehr ideologisch gespalten sei wie vor 1789 oder gar vor 1648, als eine solche Summa ansehen; wirklich hergeleitet sind sie gerade durch seine grundskeptischen Essays am Ende nicht. Damit ist auch ein Einwand gegen dieses sehr lesenswerte Buch formuliert: Schon die Unterkapitel springen hin und her, gefallen vielfach in sich durch Informationsreichtum, fassen die Kapitelaussagen aber kaum zusammen. Jede derartige Gesamtdarstellung für ein größeres Publikum muss wohl neben analytischen auch exemplarische und narrative Passagen haben, aber diese Passagen wirken hier etwas beliebig. Warum erfahren wir bei der Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges mehr als eine Seite über den Mörder von Sarajewo – wenig aber über die Motivation und Verantwortung der Mächte? Warum wird Verdun in wenigen Zeilen auf die Wechselwirkung von West- und Ostfront reduziert? Erhellend schildert James etwa Bulgariens Situation im Zweiten Weltkrieg, als es sich wenige Tage gleichzeitig im Krieg mit der Sowjetunion, dem Deutschen Reich, den USA und Großbritannien befand (S. 214). Aber gäbe es nicht ein wenig mehr über die deutschen Einsatzgruppen zu sagen? Über die Einrichtung von Auschwitz erfahren wir einiges, hätten vielleicht aber gern mehr zur Funktion dieses Lagers und anderer Lager im Massenmord gewusst.

Solche Einwände lassen sich gewiss bei jedem Buch dieser Art anbringen, scheinen hier aber bis zu einem gewissen Grad symptomatisch zu sein. Wilsons 14 Punkte werden vollständig auf zwei Seiten abgedruckt, die europäische Menschenrechtserklärung und die Genozidkonvention ebenfalls weitgehend im Wortlaut. Warum allein diese menschenfreundlichen Grundquellen – oder ist die Frage schon die Erklärung? Recht problematisch sind ferner viele der ca. 20 meist ganzseitigen „Definitionskästen“. Einige zur Wirtschaft – etwa über Bretton Woods – sind erhellend. Aber schon die Auswahl (Modernismus, Marxismus, Leninismus, Trotzkismus, Wilsonianismus, Realismus, Korporatismus, Faschismus, Totalitarismus, Nationalsozialismus, „Schachtismus“ – um nur die ersten zu nennen) hat viel mit Birnen und Äpfeln zu tun, die zu einem Mus der Ismen verkocht werden. Und die Ausführungen selbst zeugen eher von munterem Plaudern als von begrifflicher Strenge. Dass Modernismus eklektisch sei – so James zu Beginn des Artikels –, hätte schon zum Ausschluss des Begriffs führen können. Wenn es dann am Schluss dieses Kastens für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg heißt, „die künstlerische Innovation vereinzelte sich und die kreative Gärung schwächte sich ab“ (S. 35), dann mag manchem der Hut hoch gehen – andere werden nur vorsichtig fragen: Woher weiß der Autor das denn?

James ist ein ausgewiesener Analytiker für ökonomische Zusammenhänge und vermag gerade auf diesem Sektor immer wieder knapp und packend zu berichten. Sozialstatistische Daten werden häufig überzeugend zur Erklärung von Gesellschaftsstrukturen und deren Wandel eingebracht. Die Erzählungen zur innen- oder außenpolitischen Entwicklung sind jedoch häufig konventionell und lediglich in den Beispielen überraschend. Die Herausforderung, europäische Geschichte im 20. Jahrhundert zwischen Erklärung und Erzählung zu schreiben, bleibt also auch nach diesem sehr beachtlichen Werk weiterhin bestehen.

Anmerkungen:
1 Schieder, Theodor (Hg.), Handbuch der europäischen Geschichte, Bd. 7: Europa im Zeitalter der Weltmächte, Stuttgart 1979; Bracher, Karl Dietrich, Die Krise Europas 1917–1975 (Propyläen Geschichte Europas, Bd. 6), Berlin 1976, gesondert: Europa in der Krise. Innengeschichte und Weltpolitik seit 1917, Frankfurt am Main 1979.
2 Mazower, Mark, Der dunkle Kontinent. Europa im 20. Jahrhundert, Berlin 2000.
3 Hobsbawm, Eric J., Age of Extremes. The Short Twentieth Century 1914–1991, London 1994, dt. Ausg. u.d.T.: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1995.
4 Laqueur, Walther Z., Europa aus der Asche. Geschichte seit 1945, München 1970, erweiterte Neuausg.: Europa auf dem Weg zur Weltmacht 1945–1992, München 1992.

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