O. Blaschke u.a. (Hgg.): Religion im Kaiserreich

Titel
Religion im Kaiserreich. Milieus - Mentalitäten - Krisen


Herausgeber
Blaschke, Olaf; Frank-Michael Kuhlemann
Reihe
Religioese Kulturen der Moderne 2
Erschienen
Anzahl Seiten
542 S.
Preis
€ 76,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christoph Schank, Bergisch

Die vergleichende Betrachtung der Religion im deutschen Kaiserreich von 1871 ist Gegenstand des Sammelbandes, mit dem die Herausgeber die Absicht verfolgen, "die Religion zum einen als ein praegendes Element fuer die persoenliche Lebensfuehrung, als Deutungskultur und Orientierungsmacht, zum anderen auch ihre sozialen Funktionen in den Umbruechen der modernen Gesellschaft naeher zu betrachten" (S. 10). In der Einleitung des Bandes skizzieren Olaf Blaschke und Frank-Michael Kuhlemann mit Hilfe einer begriffsgeschichtlichen Erlaeuterung den theoretischen und methodischen Rahmen, innerhalb dessen die einzelnen Beitraege sich ansiedeln sollen. Zentrale Begriffe sind hierbei "Mentalitaet" sowie "Milieu" und die damit verbundenen Konzepte. "Die Mentalitaet als Disposition beschreibt den Rahmen des moeglichen Denkens und Handelns in einer gegebenen Situation sowie den vorgaengigen Interpretationshorizont, der die Auffassungsweise durch seine restriktiven Bedingungen einschraenkt" (S. 15). Neben der an dieser Stelle eher kurzen Darstellung des zugrunde liegenden Mentalitaetkonzeptes nimmt das Milieukonzept eine zentrale Rolle ein. Ein Milieu weist dabei nach Karl Rohe zwei Seiten auf: die kulturelle Seite mit einer Deutungskultur und die soziale Seite, die sich auf die Lebensweise bezieht. Die Abgrenzung nach aussen und der Zusammenhalt nach innen stellen konstituierende Elemente des Milieus dar. Die von den Herausgebern vorgeschlagene Zugangsweisen zum Milieukonzept sind a) das Modell konzentrischer Kreise (beim Katholizismus steht die katholische Lehre in der Mitte und das Zentrum am Rand; beim Protestantismus befinden sich die Pfarrer "als bildungsbuergerliche Meinungsmacher" (S. 46) in der Mitte, umgeben von den Kirchenparteien, lokalen Vereinen und dem uebergreifenden Verbandswesen, b) die vom Individuum eingenommene Perspektive und c) die Beachtung von Unterschieden in der raeumlichen und sozialen Dimension. Zur Untersuchung dieser Unterschiede werden drei Milieuebenen herausgearbeitet. Die Mikroebene wird durch einen unmittelbaren persoenlichen Kontakt charakterisiert. Im Unterschied dazu beziehen sich Mesomilieus raeumlich auf Regionen und sozial auf "Lebensstilmilieus" (in Abgrenzung zur traditionellen Einteilung in "Schichten" und "Klassen"). Die Makroebene schliesslich nimmt Bezug auf umfassende Untersuchungsgruppen, wie z.B. den Katholizismus, den Protestantismus oder die Arbeiterschaft insgesamt. Die theoretischen und konzeptionellen Ueberlegungen buendelnd, bieten die Herausgeber eine handhabbare, nicht auf eine Religion beschraenkte Milieudefinition als zukuenftige Forschungsgrundlage an:

"Unter einem religioesen Milieu laesst sich ein sozialer Kreis verstehen, in dem zahlreiche Strukturdimensionen koinzidieren, ein Kreis, der gleichzeitig die Divergenz soziooekonomischer Interessenlagen aushaelt, weil er im Kern konfessionell bestimmt ist, von dort aus durch Sozialisationsprozesse und Institutionen seine Geltung auf viele, im Idealfall alle Lebenssphaeren ausdehnt und so ein gesellschaftliches Konstrukt in der oder gegen die Moderne darstellt; (...)" (S. 53).

Mit Hilfe dieser untereinander verbundenen Konzepte Mentalitaet und Milieu werden in den nachfolgenden 16 Beitraegen verschiedene Personengruppen und ihre Funktionen in bezug auf die Bildung von Milieus und deren Aufrechterhaltung analysiert und reflektiert. Die grobe Gliederung nach den Religionsgemeinschaften Katholizismus, Protestantismus und Judentum sowie den "Transformationen der Religion" bildet nur den aeusseren Rahmen fuer die Untersuchung der Milieustrukturen mit ihren vielfaeltigen Verflechtungen. Aus diesem Grunde hebe ich die Trennung nach Konfessionen in der nachfolgenden Betrachtung weitgehend auf. Vielmehr werden thematisch-methodisch vergleichbare Beitraege gebuendelt und mit Blick auf die untersuchten Strukturen hin vorgestellt.

Die Herausbildung von tragfaehigen Milieus mit unterschiedlich weitreichenden Erfolgen wird fuer den Katholizismus von Siegfried Weichlein am Beispiel Fulda fuer den Zeitraum von 1830 bis 1914 vorgestellt. Fuer den Protestantismus untersuchen Dietmar von Reeken fuer Oldenburg und Frank-Michael Kuhlemann fuer Baden die Milieubildungsprozesse. Ein Vergleich der Ergebnisse beider Untersuchungen fuer den Protestantismus zeigt den moeglichen unterschiedlichen Verlauf: in Baden gelang es, regionale Milieus auszuformen, wohingegen in Oldenburg nur lokal bedeutsame Milieus entstanden.

Die einflussreiche Rolle der Pfarrer bzw. Priester fuer die Vermittlung von Inhalten, der Repraesentation des Milieus und ihrer Aufrechterhaltung wird fuer beide Grosskonfessionen nachgewiesen. Oliver Janz beschaeftigt sich mit der Rolle und dem Selbstverstaendnis der protestantischen Pfarrer in Preussen, wohingegen Olaf Blaschke die Rolle der katholischen Priester als "Milieumanager" und Multifunktionaere herausstellt. Er erschliesst dabei den katholischen Literaturkalender als Quelle, um auf den Grad der Klerikalisierung schliessen zu koennen.

Ebenfalls den Blick nach innen, in die Milieustrukturen hinein, bieten Beitraege ueber die jeweiligen konfessionellen Vereine und Verbaende. Jochen-Christoph Kaiser weist fuer den Protestantismus ein nicht unbedeutendes Vereinswesen mit Regionen ueberschreitenden Verbaenden nach. Wesentlich eindrucksvoller gestaltet sich aber um 1900 das dichte Vereinsnetz auf katholischer Seite, das Josef Mooser fuer die Makroebene sehr ueberzeugend in religioese Vereine, caritative Vereine, Standes- und Berufsvereine sowie in Vereine fuer Bildung und Kultur typologisiert.

Der hervorragende Beitrag von Norbert Busch zeigt am Beispiel des Herz-Jesu-Kultes auf, welche Funktion ultramontane Froemmigkeit fuer die Konstituierung des katholischen Milieus einnimmt. Dieser Beschreibung des "religioesen Kitts" (S. 163) stehen bedauerlicherweise keine thematisch aehnlich ausgerichteten Aufsaetze fuer die anderen Religionsgemeinschaften gegenueber.

Betrachtungen der juedischen Gemeinde in Frankfurt am Main von Andrea Hopp oder des katholischen Milieus in Muenchen von Karl Heinrich Pohl richten weniger den Blick auf den Zusammenhalt nach innen oder auf die Milieubildungsprozesse, sondern vielmehr auf den Wandel innerhalb des Milieus (Frankfurt) bzw. das Verhaeltnis zum sozialdemokratischen Milieu (Muenchen). Die Beschreibung der Muenchener Verhaeltnisse stellt in diesem Rahmen einen aufschlussreichen Sonderfall dar, weil sich die Abgrenzung zwischen beiden Milieus nicht so klar wie an anderen Orten vollzog.

Loyalitaetskonflikte und Identitaetsfindung werden im Spannungsverhaeltnis zwischen Katholizismus und Buergertum (Thomas Mergel) und in der Situation der deutschen Juden im Kaiserreich (Till van Rahden) thematisiert. Hierbei liefert Till van Rahden in seinem Beitrag eine klare Abgrenzung zum Milieubegriff. Einleuchtend wendet er den aus dem angelsaechsischen Raum stammenden Begriff "Ethnizitaet" in Abgrenzung zum Milieubegriff an und spricht fuer die deutschen Juden von einer "situativen Ethnizitaet", die die Gebundenheit des Verhaltens an die konkrete soziale Situation ausdrueckt.

Nicht um eine Abgrenzung, sondern um eine Erweiterung des Milieukonzepts geht es Ursula Krey. Mit einem personenzentrierten Milieubegriff arbeitend, stellt sie die Bildung des protestantischen Milieus am Beispiel des Naumann-Kreises dar. Sie plaediert fuer eine ausdifferenzierte Anwendung des Milieubegriffes, um "von der konfessionellen Fixierung auf 'protestantische' versus 'katholische' Milieus" (S. 379) wegzukommen.

Die letzten drei Beitraege (Frank Simon-Ritz: "Freireligioese, Freidenker und Monisten", Norbert Schlossmacher: "Der Deutsche Verein fuer die Rheinprovinz", Peter Walkenhorst: "Nationalismus als 'politische Religion'?") komplettieren das religioes-gesellschaftliche Bild der behandelten Geschichtsepoche und stellen interessante Beitraege dar - auch wenn ihr Bezug zum Milieukonzept nur mittelbaren Charakter aufweist. Diese unter dem Begriff "religioese Transformationen" zusammengefassten Bewegungen und Erscheinungen sind als Teil des langfristigen religioesen Wandlungsprozesses anzusehen und tragen zum Verstaendnis desselben bei.

Die inhaltliche Zusammenschau unter vergleichendem Gesichtspunkt zeigt die Gefahr der Ueberdehnung des Milieukonzepts auf. Das Konzept bietet nicht fuer alle Beitraege aufgrund ihrer jeweiligen Forschungsgegenstaende einen sinnvollen Ansatz. So begruessenswert die weit gefasste Themenauswahl ist, so notwendig ist auch eine reflektierte Anwendung des Konzepts. Einigen wenigen Beitraegen ist anzumerken, dass das Milieukonzept - wohl aufgrund der Vorgabe der Herausgeber - als feste Groesse a priori angenommen und angewandt worden ist. Ein arbeitshypothetisches Vorgehen waere den Untersuchungsgegenstaenden in einigen wenigen Faellen angemessener gewesen. Insgesamt handelt es sich aber um 17 gute, inhaltlich aufeinander abgestimmte Beitraege, die neben einer Einleitung und Bilanzierung der Forschungslage interessante Einsichten ueber einen gewichtigen Faktor des gesellschaftlichen Lebens der damaligen Zeit vermitteln und die Anwendbarkeit der Milieutheorie sowie ihrer Grenzen weiter ausgelotet haben.

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