H.-J. Kühne: Der Tag, an dem Bielefeld unterging

Cover
Titel
Der Tag, an dem Bielefeld unterging. 30. September 1944


Autor(en)
Kühne, Hans-Jörg
Reihe
Deutsche Städte im Bombenkrieg
Erschienen
Gudensberg-Gleichen 2003: Wartberg Verlag
Anzahl Seiten
64 S.
Preis
€ 17,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ralf Blank, Stadtarchiv, Historisches Centrum Hagen

Der Wartberg-Verlag begründete 2003 unter dem Titel "Deutsche Städte im Bombenkrieg" eine Reihe von Buchpublikationen, die die Auswirkungen der alliierten Luftangriffe behandeln. In der Regel handelt es sich um großformatige Bände, die neben einer inhaltlichen Darstellung vor allem auch zahlreiche historische Fotografien umfassen. Die Bände stellen die allgemeine Entwicklung des Luftkriegs aus jeweils lokalgeschichtlicher Perspektive vor und enthalten Zeitzeugenberichte sowie auch Auszüge aus zeitgenössischen Quellen privater Provenienz. Die Publikationen der Reihe sind nicht als wissenschaftliche Studien zu bewerten, sondern sprechen eine allgemeine Leserschaft an.

Der von Hans-Jörg Kühne, der u.a. eine fundierte und empfehlenswerte Studie über den "Einsatz" von Zwangsarbeitern in Bielefeld vorgelegt hat1, erarbeitete Band "Der Tag, an dem Bielefeld unterging" fokussiert auf den 30. September 1944. An diesem Tag wurde die Innenstadt von Bielefeld durch einen US-amerikanischen Luftangriff nahezu vollständig zerstört. Es handelte sich um das schwerste und folgenreichste Bombardement, von dem die ostwestfälische Stadt während des Zweiten Weltkriegs betroffen wurde. Der thematische und inhaltliche Ansatz, einen Tag aus dem Kriegsgeschehen herauszugreifen und zu beschreiben, ist interessant und lohnenswert. Die Luftoperationen der Alliierten am 30. September 1939 u.a. auf Bielefeld waren eingebettet in ein Strategiekonzept, das im Zusammenhang mit den alliierten Unternehmen "Market" und "Garden" im Raum Arnheim und Nijmegen stand. Den Alliierten sollte damit der Weg in Richtung Rhein und Westdeutschland geebnet werden, was letztendlich jedoch Ende September 1944 aufgrund der von alliierter Seite unterschätzten deutschen Verteidigung scheiterte.2

Bereits in der Einleitung zum Band (S. 5) findet sich ein Fehler, der sich leider durch die gesamte folgende Darstellung zieht: Es war nicht die "2nd Air Division" (die Bezeichnung "Air Division" wurde übrigens erst im Januar 1945 bei der 8th Unitied State Army Air Force (8.USAAF) eingeführt) und ein "gemischter" Verband von B-24 und B-17, sondern B-17 der 3. Bomb Division, die am 30. September 1944 Bielefeld angriffen. Dieser und auch andere Sachfehler, die den Ablauf und die Organisation der Angriffsoperation betreffen, wären leicht zu vermeiden gewesen, wenn der Autor die einschlägige Literatur oder die im Internet abrufbare "USAAF Chronology" konsultiert hätte. Das bereits 1981 erschienene „Mighty Eighth War Diary“ von Roger Freeman verzeichnet für den 30. September 1944 den Einsatz von 266 B-17 der 3. Bomb Division gegen den Verschiebebahnhof Bielefeld, 255 B-24 der 2. Bomb Division, also der von Kühne Bielefeld zugeschriebene Verband, gegen den Verschiebebahnhof Hamm sowie 313 B-17 der 1. Bomb Division gegen den Fliegerhorst Münster-Handorf. 3 Alle diese Angriffe wurden mittels Radar und elektronischen Zielfindungsverfahren durchgeführt. Das britische Bomber Command unternahm am 30. September 1944 zwei radargesteuerte Tagesangriffe auf die Hydrierwerke in Bottrop und Oberhausen-Sterkrade.

Die völlig abwegige Aussage, die Maschinen der "2nd Air Division" seien von (britischen) "Hurricane-Abfangjägern" gesichert worden (S. 23), wäre durch einen Blick in Freeman oder aber in die "USAAF Chronology" vermieden worden. Tatsächlich "sicherten" 240 P-47 "Thunderbolts" und P-51 "Mustangs" den für Bielefeld bestimmten Angriffsverband der 3. Bomb Division. Über den Einsatz und die verwendeten Flugzeuge hätte sich der Autor im Übrigen auch in der Studie von Horst Boog informieren können, die er in seinem Literaturverzeichnis zitiert. 4 Bei diesen Fehlern handelt es sich jedoch keineswegs um "Ungenauigkeiten", die ggf. als "Erbsenzählerei" abgetan werden könnten, sondern um Anzeichen unzureichender Recherche, die vom Rezensenten leider mehrfach und auch in anderen Zusammenhängen konstatiert werden müssen.

Auf S. 12 thematisiert der Autor den Bombenabwurf durch britische Maschinen am 18./19. September 1940 auf die Krankenanstalten in Bethel bei Bielefeld, bei dem 14 Menschen, darunter auch behinderte Kinder, getötet wurden. Es handelte sich zweifellos um einen zufälligen Bombenabwurf, der von der NS-Propaganda als "feige Mordtat" gegen Behinderte und Kindern in einer groß angelegten Propagandaaktion gebrandmarkt wurde.5 Kühne greift die These von einem absichtlichen Angriff ("Die Motive der Briten für den Abwurf von Sprengsätzen auf die deutlich mit dem Roten Kreuz gekennzeichneten Häuser sind bis heute nicht aufgedeckt.") auf, doch konstatiert er zumindest die Möglichkeit eines Irrtums bzw. Zielfehlers. Die zum Zeitpunkt des Bombenabwurfes laufende "Euthanasie" wird dagegen im Kontext des Luftangriffs auf Bethel als eine "Ironie der Geschichte" bezeichnet, was durchaus bedenklich wirkt.

Im Zusammenhang mit der Schilderung von Luftangriffen auf Bielefeld in den ersten Kriegsjahren verzichtet der Autor auf eine Auswertung der einschlägigen Literatur, wie z.B. die Bomber Command War Diaries6, die einige inhaltliche Korrekturen und Ergänzungen gebracht hätten. Der Angriff in der Nacht des 13. Juni 1941 (S. 12) erweist sich als Zielfehler des Bomber Command, der Angriff am 6./7. Juli 1941 wurde gezielt gegen Bielefeld geflogen. Ein "Abgleich" zwischen den tatsächlich erfolgten Luftangriffen auf Bielefeld und der Einsatzchronik des Bomber Command bietet einige interessante Details, auf die der Leser des Buches leider verzichten muss. Auf eine Auswertung von alliierten Quellen, die aus den National Archives in Washington und London problemlos beschafft werden können und über die Bielefelds Position in den britischen Zielplanungen bis 1942 beleuchtet werden kann7, sowie auch auf weiterführende Archivalien aus deutschen Archiven hat der Autor ebenfalls verzichtet. Für eine fundierte und seriöse Darstellung, die gerade auch bei den für eine breite Leserschaft bestimmten Veröffentlichungen von Historikern erforderlich sein sollte, sind solche Quellen unabdingbar. Das vom Autor in seiner Einleitung herausgestellte Buch von Jörg Friedrich sollte professionellen Historikern zumindest inhaltlich und methodisch kein Vorbild sein. Bei den Kapiteln zum Bunkerbau, Luftwarnwesen und zur Kinderlandverschickung (S. 17-21) wäre es sinnvoll gewesen, den aktuellen Forschungsstand zu berücksichtigen, der auch im Rahmen einer populärwissenschaftlichen Darstellung lohnend ist. Die Aussage, die Kinderlandverschickung sei 1943 von der NSV initiiert und getragen worden (S. 20), ist nur einer von vielen Fehlern in dem Band, die unverständlich wirken, da die entsprechende Literatur überall verfügbar ist.

Bei seiner Darstellung des Angriffs auf Bielefeld am 30. September 1944 (S. 22-29) geht der Autor von einem gezielten Angriff auf die Innenstadt aus. Kühne beschreibt den Angriff in seinem Ablauf analog zu einem britischen Flächenangriff. Zusätzlich hätte angeblich ein "Masterbomber" den Angriff geleitet, die Maschinen seien vor dem Angriff auf eine Flughöhe zwischen 3.600 bis 2.400 Metern gegangen, es sei ein Massenabwurf von Brandbomben erfolgt, der Angriff sei bei "strahlendem Sonnenschein" erfolgt und ähnliches mehr. Alle diese Aussagen müssen sehr kritisch bewertet werden und können zum Teil sogar widerlegt werden. Ein angeblich am 30. September 1944 aufgenommenes Foto (S. 22), das Bomberpulks und Zielmarkierungen zeigt, stützt – sofern das Aufnahmedatum und der Ort tatsächlich stimmen – die These von Bodensichtbedingungen am Angriffstag. Glaubt man hingegen alliierten Quellen, so lag über dem westdeutschen Raum am 30. September 1944 eine nahezu geschlossene Wolkendecke. Der etwa zeitgleich erfolgende Angriff auf das nur wenige Flugminuten von Bielefeld entfernte Hamm wurde z. B. unter einer fast geschlossenen Wolkendecke durchgeführt.8

Kühne unterstellt der 8. USAAF am 30. September 1944, einen gezielten Luftangriff auf die Innenstadt geflogen zu haben, um "einen Flächenbrand, einen Feuersturm auszulösen" (S. 25). Die Schilderung des Angriffs (S. 26-29) steht ganz im Zeichen dieser Feststellung, die allerdings offenbar nur durch Zeitzeugenerinnerungen untermauert wird.

Doch unternahmen die rund 260 "Fliegenden Festungen" der 3. Bomb Division tatsächlich einen gezielten bzw. geplanten Flächenangriff auf die Innenstadt und auf die Zivilbevölkerung in Bielefeld? Die Primärziele des Angriffs waren der Verschiebebahnhof Bielefeld und ein "Ordonance Depot“. Die Beschreibung des Luftangriffs und die Darstellungen des Autors kann der Rezensent nur staunend zur Kenntnis nehmen. Möglich ist, das sei vom Rezensenten lediglich angedeutet, dass der Angriff auf Bielefeld aufgrund ungünstiger Bodensichtbedingungen oder wegen Zielfehlern auf die Innenstadt streute - nach heutigem Sprachgebrauch hätte es sich um "Kollaterialschäden" gehandelt. Ähnliches erfolgte an diesem 30. September 1944 übrigens bei dem Angriff der 1. Bomb Division auf Münster. Dort war der Flughafen das eigentliche Ziel, dann aber wurden aufgrund der Wetterlage vor allem die Innenstadt und die nördlichen Stadtviertel getroffen. Die These des Autors von einem geplanten "Flächenangriff" auf Bielefeld ist jedoch völlig abwegig, seine Schilderung des Angriffsverlaufs ist unglaubwürdig.

Verdienstvoll ist dagegen die folgende Zusammenstellung der Zeitzeugenberichte, die zwar ohne quellenkritische Kommentierung, aber dennoch anschaulich und nachvollziehbar dargestellt werden. Ähnlich wie in den Büchern von Jörg Friedrich kreisen viele Überschriften sowie Erinnerungsberichte um Tod, Leichen und Sterben "unter Bomben". Auf S. 46ff. werden kursorisch auch nachfolgende Bombardierungen auf Bielefeld gestreift, wiederum ohne eine Berücksichtigung alliierter Quellen, das Kapitel "Zehn Männer und vier Särge" thematisiert den Einsatz des "Sicherheits- und Hilfsdienstes" (SHD), der 1944 in Luftschutzorten I. Ordnung (wie Bielefeld) allerdings in dieser Form nicht mehr existierte, sondern seit 1942 ein Teil der Feuerschutzpolizei war. Die Darstellung über die Bombardierung des Bahnviadukts in Bielefeld-Schildesche hätte durch eine ausführlichere Darstellung des historischen Zusammenhangs unter Berücksichtigung der allgemeinen Forschungsliteratur sicherlich inhaltlich gewonnen.9 Gewinnbringend ist das Kapitel "Bilanz des Krieges und Ausblick", das eine Darstellung der Kriegsschäden und Verluste enthält.

Hinterlässt das Buch von Hans-Jörg Kühne beim Rezensenten aufgrund der zahlreichen inhaltlichen Ungenauigkeiten und fachlichen Fehlern einen zwiespältigen Eindruck, so überzeugt der ebenfalls im Wartberg-Verlag publizierte Band des Journalisten Olaf Steinacker über den Bombenangriff auf die Stadt Düsseldorf, der auf einer Serie in den Düsseldorfer Nachrichten (Westdeutsche Zeitung) basiert. Der Band enthält eine nachvollziehbare Gliederung in einzelnen Kapiteln, denen eine kommentierende Einführung durch den Autor vorangestellt wird.

Es handelt sich hauptsächlich um Erinnerungsberichte von Zeitzeugen, die sorgfältig ausgewählt und in den Kontext der einzelnen Darstellungen gesetzt sind. Der Band besticht vor allem durch zahlreiche Farbaufnahmen (S. 33-40), die 1943 entstanden und aus Gründen der historischen Bildforschung eine besondere Erwähnung verdienen. Es fällt dem Rezensenten schwer, angesichts der Zielgruppe einzelne Unzulänglichkeiten in den Kommentaren zu nennen, insgesamt überwiegt ein durchaus positiver Eindruck.

Die vorgestellten, im Wartberg-Verlag publizierten Bände dokumentieren, dass innerhalb einer Reihe durchaus qualitative und inhaltliche Unterschiede vorhanden sind. Es scheint aus diesem Grunde durchaus ratsam, jeden Band einzeln zu bewerten.

Anmerkungen:
1 Kühne, Hans-Jörg, Kriegsbeute Arbeit. Der "Fremdarbeitereinsatz" in der Bielefelder Wirtschaft 1939-1945 (Bielefelder Beiträge zur Stadt- und Regionalgeschichte 17), Bielefeld 2003.
2 Vgl. hierzu Vogel, Detlef, Deutsche und alliierte Kriegsführung im Westen, in: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 7: Das Deutsche Reich in der Defensive, Stuttgart 2001, S. 418-638, hier S. 606-611.
3 Freeman, Roger A., Mighty Eighth War Diary, London 1981, S. 356-357; USAAF Chronology (Rutgers University), Eintrag v. 30.9.1944, URL: http://paul.rutgers.edu/~mcgrew/wwii/usaf/html/Sep.44.html (letzter Zugriff am 6.6.2004).
4 Boog, Horst, Strategischer Luftkrieg in Europa und Reichsluftverteidigung 1943-1944, in: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 7: Das Deutsche Reich in der Defensive, Stuttgart 2001, S. 3-415.
5 Die Wehrmachtsberichte, Bde. 1-3, Köln 1989, Bd. 1, S. 307 (19.9.1940); Mehner, Kurt (Hg.), Die geheimen Tagesberichte der deutschen Wehrmachtführung im Zweiten Weltkrieg 1939-1945, Bd. 1-12 (Veröffentlichung deutschen Quellenmaterials zum Zweiten Weltkrieg, Reihe III), Osnabrück 1992, Bd. 2, S. 212. Ein zeitgenössisches Beispiel für die Rezeption des Angriffs in Reipert, Fritz, Kriegsmethoden und Kriegsverbrechen. Dokumente über die Kriegsführung der Plutokraten, Berlin 1941, S. 169.
6 Middlebrook, Martin; Everitt, Chris, The Bomber Command War Diaries, Harmondsworth 1985.
7 Für den 30. September 1944 sind in diesem Zusammenhang wichtig: Public Record Office, Air 40/750 – Operation 655. Dort "Eight Air Force Narrative of Operations", "Intops Summary, 30.9.1944" sowie die zugehörigen Fotoauswertungsberichte. Für Bielefeld ebenfalls interessant ist der USSBS-Report No. 181 über den Bahnviadukt sowie auch eine Auswertung der in den National Archives in Washington verwahrten Referenzmaterialien.
8 Interpretation Report S.A. 2773; PRO, AIR 40/750.
9 Golücke, Friedhelm, Der Zusammenbruch Deutschlands - eine Transportfrage? Der Altenbekener Eisenbahnviadukt im Bombenkrieg 1944/45, Paderborn 1990; Mierzejewski, Alfred C., Bomben auf die Reichsbahn. Der Zusammenbruch der deutschen Kriegswirtschaft 1944-1945, Freiburg 1993.

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