Cover
Titel
Hitlers langer Schatten. Der mühevolle Weg zur Entschädigung der NS-Opfer


Autor(en)
Thonke, Christian
Erschienen
Anzahl Seiten
184 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan Surmann, Hamburg

Christian Thonke betrachtet in seiner Studie die materiellen Langzeitfolgen der NS-Diktatur. Er setzt sich in seiner als Guidebook verstandenen Arbeit die Aufgabe, nicht allein die „Genese einer zweiten Entschädigungswelle“ (S. 8) in den 1990er Jahren zu untersuchen, sondern auch die Entschädigungsauseinandersetzungen direkt nach 1945 zu beschreiben. Diese frühen Diskussionen um Entschädigung stellen für Thonke einen wichtigen Hintergrund dar, um die Auseinandersetzung um „Holocaust Era Assets“ nach dem Ende der bipolaren Weltordnung verstehen zu können. Dem liegt nicht zuletzt die Fragestellung nach den historischen Voraussetzungen der Debatten der 1990er Jahre zugrunde. Damit betritt Thonke mit seiner Untersuchung über offene Restitutions- und Entschädigungszahlungen in den 1990er Jahren ein Feld, das erst seit wenigen Jahren auch wissenschaftlich bearbeitet wird.

Christian Thonkes Buch ist in zwei thematische Abschnitte gegliedert. Im ersten Teil wird die entschädigungspolitische Haltung der Bundesrepublik, der DDR und Österreich in der Nachkriegszeit behandelt. Gemein ist ihnen eine grundlegende Abwehrhaltung, die sich jedoch unterschiedlich herleitete und begründete. Der zweite Teil des Buches beschäftigt sich dann mit der Thematik „Holocaust Era Assets“ im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, „kaum beackertes Neuland“ (S. 17), da die Forschungen zu diesem Bereich erst ganz am Anfang stehen. Es ist die Kombination dieser zwei Bereiche, die den Reiz des Buches ausmachen, da für die Entschädigungspolitik bis 1989 bereits eine Vielzahl von Einzelstudien vorliegen.

Der Verfasser eröffnet den ersten Teil seiner Arbeit mit einer kritisch-historischen Reflektion des Begriffs der „Wiedergutmachung“. Angesichts der Verbreitung dieses Begriffs auch in der wissenschaftlichen Literatur erscheinen diese Vorüberlegungen als sehr angebracht. Seine Darstellung beginnt dann mit dem Memorandum von Shalom Adler-Rudel aus dem Jahre 1939. Somit wird deutlich, dass die ersten Überlegungen über Entschädigungsforderungen nicht erst nach dem Krieg einsetzten, sondern „so alt wie die Verbrechen des Nazi-Regimes“ (S. 25) sind.

Schwerpunkt der Darstellung über die entschädigungspolitische Haltung der Bundesrepublik in der Nachkriegszeit sind die Verhandlungen mit Israel und der „Claims Conference“ in Wassenaar bei Den Haag. Damit wird ein zentraler Markstein der bundesdeutschen Entschädigungspolitik sehr detailliert beschrieben. Die weitere entschädigungspolitische Entwicklung wird jedoch lediglich auf einer halben Seite kurz gestreift. Somit greift dann auch die Feststellung, dass „jene NS-Verfolgte, die nach dem Krieg im kommunistischen Osteuropa lebten“ (S. 41), ausgeschlossen blieben, zu kurz. Erst im eigenen Fazit vier Seiten später werden auch die so genannten „vergessenen Opfer“ genannt. Ebenso geht Christian Thonke im ersten Teil seines Buches nicht auf die elf Globalabkommen zur Entschädigung ein, die Anfang der sechziger Jahre zwischen westeuropäischen Staaten und der Bundesrepublik abgeschlossen wurden; auch auf das Londoner Schuldenabkommen wird erst im zweiten Teil des Buches eingegangen. Gerade an diesem Abkommen, das als Moratorium für Restitutions- und Reparationsfragen fungierte und zum zentralen Argumentationsmuster wurde, um Entschädigungsforderungen aus dem Ausland abzuweisen, ließe sich sehr gut verdeutlichen, wie die Bundesrepublik im Kontext der Westintegration vom Feind zum Verbündeten wurde. Diese Auslassungen erstaunen um so mehr, als Thonke ausführlich auf das geheime „relief-in-transit“-Programm der Claims Conference für Osteuropa eingeht.

Nach einer kurzen Darstellung der Entschädigungspolitik der DDR und ihren Legitimationsmustern um materiellen Forderungen zu begegnen, beschäftigt sich der weitaus größte Teil des ersten Abschnitts mit der österreichischen „Wiedergutmachung“. Christian Thonke zeigt, wie die These, Österreich sei das erste Opfer der deutschen Angriffspolitik gewesen, auf einen breiten gesellschaftlichen Nachkriegskonsens in Österreich stieß. Es war dieses „historisch brüchige Fundament“ (S. 53) von dem aus Forderungen der Opfer in der Nachkriegszeit abgewiesen oder relativiert wurden. Christian Thonke kommt jedoch in Bezugnahme auf die Auseinandersetzungen der 1990er Jahre zu dem Schluss, dass die resoluten Abwehrstrategien langfristig ein „Phyrrhussieg“ der österreichischen Nachkriegs-Eliten darstellten.

Im ersten Teil gelingt es dem Autor, einen Überblick über die generelle Entschädigungshaltung der BRD, der DDR und Österreich in der Nachkriegszeit zu vermitteln. Speziell für die Bundesrepublik wäre jedoch eine Darstellungsweise wünschenswert gewesen, die über das Bundesentschädigungsgesetz hinausgeht. Somit hat sich die sehr ausführliche Darstellung zu Österreich in einer gewissen Knappheit in Bezug auf die BRD und speziell die DDR niedergeschlagen. Dennoch veranschaulicht der Autor die Entschädigungsabwehr in allen drei Ländern sehr deutlich und schafft damit einen Hintergrund, um im zweiten Teil auf die Debatte um „unfinished business“ einzugehen.

Hintergrund der Auseinandersetzung um „unfinished business“ in den 1990er Jahren waren, so Thonke, die Entschädigungs-Versäumnisse der „ersten Entschädigungs-Debatte“ (S. 86). Eine große Bedeutung misst Thonke aber auch der „Amerikanisierung des Holocaust“ zu. Hier geht der Autor auf so wichtige Aspekte wie die mediale Vermittlung der Shoah in den USA oder die Debatten um das Holocaust Memorial Museum unter der Präsidentschaft von Jimmy Carter ein. Auch für Europa nimmt der Autor ein wachsendes Interesse am Holocaust wahr. Den Auslöser für die Krise der nationalen Nachkriegsmythen führt Christian Thonke auf die juristischen Klagen gegen europäische Unternehmen zurück. Durch diesen Fokus auf die Bedeutung der juristischen Ebene lässt Thonke jedoch den wichtigen Aspekt unbeachtet, dass die Clinton-Administration die entschädigungspolitischen Verfehlungen der Nachkriegszeit nicht allein materiell lösen wollte, sondern auch eine geschichtspolitische Aufarbeitung anstrebte. Hier wäre daher eine genauere Analyse der geschichtspolitischen Haltung der USA für die Untersuchung sinnvoll gewesen.

Der Autor umreißt ferner für die Wirksamkeit und das Zustandekommen der Debatte in den 1990er Jahren die Bedeutung der Sammelklagen und führt diese in Europa unübliche Form der juristischen Auseinandersetzung auf die Zeit der „Civil Rights Movements“ in den USA zurück. Die Sammelklagen verdeutlichten, wie es im Kontext einer globalisierten Wirtschaft und der Bedeutung des US-Marktes gelungen war, die wirtschaftlichen Interessen der beklagten Länder und Unternehmen in den 1990er Jahren so zu treffen, dass eine materielle Einigung fünfzig Jahre nach Kriegsende möglich wurde. Wie sich dieser Paradigmenwechsel auf die Bundesrepublik auswirkte, wird am Beispiel der Zwangsarbeiterentschädigung verdeutlicht, die bis dato mit Verweis auf das Londoner Schuldenabkommen immer abgewiesen worden ist.

Christian Thonke beendet seine Studie mit einem kurzen Überblick über neuere Literatur, die sich mit dem Thema „Verrechtlichung der Politik“ und „moralische Politik“ auseinandersetzt. Thonke resümiert diese Ansätze kritisch und betrachtet die Debatte über „Holocaust Era Assets“ mit ihren materiellen Konsequenzen als einzigartig, gerade da mit dem Ende der Amtszeit von Präsident Clinton das Engagement der USA deutlich abnahm und die Anschläge vom 11. September 2001 zu einem grundlegenden Paradigmenwechsel führten.

Der Autor benennt den Hauptunterschied zwischen der „ersten“ und der „zweiten“ Entschädigungsauseinandersetzung als Moment der „Entgrenzung“ (S. 154). Sind die einzelnen Gründe, die er für diese Argumentation anführt zwar auch plausibel – wie das Ende des Kalten Krieges, die Globalisierung der Weltwirtschaft, etc. – so ist der Begriff aber als analytische Kategorie schwammig und erläutert nur ungenau die eklatanten, und von Thonke richtig skizzierten Unterschiede zwischen den „Wiedergutmachungs“-Auseinandersetzungen vor 1989 und der Debatte um „Holocaust Era Assets“ nach der bipolaren Weltordnung. So stellen beispielsweise die osteuropäischen NS-Opfer und ihre Forderungen in den 90er Jahren weniger eine „Entgrenzung“ der Opfer dar, als vielmehr ein neugewonnenes politisches Gewicht, das ihre Ansprüche während des Kalten Krieges nicht hatten. Generell wäre daher eine genauere Betrachtung der geschichtspolitischen Intentionen der Akteure - speziell der Clinton-Administration - von großem Interesse gewesen, stellt sich doch die Frage, warum der Thematik „unfinished business“ so starker politischer Beistand gegeben worden ist. Trotz dieser terminologischen Schwäche bietet die Arbeit von Christian Thonke im Ganzen jedoch einen sehr interessanten und lesenswerten Einstieg in die Entschädigungsthematik. Gerade der Ansatz, die „Holocaust Era Assets“ Debatte der 1990er Jahre in die Untersuchung zu integrieren, sei dem Autor auf Grund der wenigen Forschungsliteratur hoch angerechnet.

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