: Basel in the Age of Burckhardt. A Study in Unseasonable Ideas. Chicago 2000 : University of Chicago Press, ISBN 0-226-30498-1 608 S. $ 25.50

: Jacob Burckhardt and the Crisis of Modernity. . Montreal 2000 : McGill Queen's University Press, ISBN 0-7735-1027-3 327 S. £57.00

: Religion and the Rise of Historicism. W.M.L. de Wette, Jacob Burckhardt, and the Theological Origins of Nineteenth-Century Historical Consciousness. Cambridge 2000 : Cambridge University Press, ISBN 0-521-65022-4 250 S. £42.50

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Philipp Müller, HU-Geschichtswissenschaft

Leopold von Ranke mag als eine der dominierenden Figuren des Geschichtsdenkens des 19. Jahrhunderts gelten - kehrt man sich von der Frage der Wirkungsmächtigkeit ab und wendet sich statt dessen dem Interesse der wissenschaftsgeschichtlichen Forschung zu, wird Ranke bereits seit einiger Zeit von seinem Schüler Jacob Burckhardt tief in den Schatten gestellt. Während eine neue Burckhardt-Gesamtausgabe auf den Weg gebracht wird, scheint die Burckhardt-Literatur in ihrer Dynamik selbst zu einem Phänomen werden zu wollen, wie es der Gegenstand ihrer Betrachtung wohl gewesen sein muß: Denn wer nach Erklärungen für den Burckhardt-Boom der vergangenen Jahre sucht, wird letztlich immer wieder auf eine offenbar inkommensurable Seite des Basler Kultur- und Kunsthistorikers verwiesen. In gewissem Sinne haben eben hier drei Studien des vergangenen Jahres angesetzt. Die Ausnahmefigur des Schweizers Burckhardt soll durch die Rückbindung an seine heimischen Wurzeln Aufklärung finden: "Burckhardt was first and foremost a Basler," schreibt John Hinde in seiner Einleitung (Hinde, S. 6) und zielt damit auf eine Sonderstellung des Schweizer Stadt-Kantons in der Geschichte des 19. Jahrhunderts und seine prägende Wirkung auf Burckhardt ab. Ebenso sieht Lionel Gossman in Basel den Nährboden für "an original and perhaps unique perspective on the modern world", (Gossman, S. 8) die er in Burckhardts Schaffen wiederfindet. Schließlich geht auch Thomas Howard zumindest ähnlichen Spuren nach, wenn er die verdeckten Nebenwirkungen protestantisch-orthodoxer Theologie aus dem "frommen Basel" in Burckhardts Denken untersucht (Howard, S. 7).

Während Hinde und Howard letztlich ein bestimmtes Element in Burckhardts Schriften fokussieren, stellt Gossman vor allem das baslerische Residuum alteuropäischen Stadt-Staatentums und den Bürger Burckhardt in den Mittelpunkt seiner Darstellung. Wie von Philipp Sarasin in einer grundlegenden Untersuchung gezeigt worden ist, gelang es den alten Basler Eliten sich den umfassenden Veränderungen ihres Umfeldes anzupassen und ihre soziale und kulturelle Dominanz bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zu bewahren. 1 Gossman hat während seiner über zwanzigjährigen Auseinandersetzung mit dem Thema einen beeindrukkenden Wissensvorrat zusammengetragen, der nun in einer großen Untersuchung vorliegt. Auch wenn sich die ursprünglich anvisierte parallele Darstellung von vier unzeitgemäßen Baseler Denkern des 19. Jahrhunderts nicht realisieren ließ, bietet auch die reduzierte Fassung, die sich auf Johann Jacob Bachofen und vor allem auf Jacob Burckhardt konzentriert, Friedrich Nietzsche und Friedrich Oberbeck dagegen nur in einem kurzen Ausblick behandelt, eine Fülle an neuen Einsichten und interessanten Hinweisen.

Ausgangspunkt Gossmans ist seine These, daß "[f]or a good part of the nineteenth century, the ‚anachronistic' city-republic of Basel was a place where those whose ideas were ‚unzeitgemäss' - untimely or unseasonable - could feel, to some degree, at home […]." (Gossman, S. 8) Tatsächlich sieht Gossman dabei jedoch letztlich weder in Burckhardt noch in Bachofen bloße Re-Produzenten einer großbürgerlichen Ideologie des Basel ihrer Zeit. Beide hatten zeitlebens nicht viel Positives von den Geschehnissen in ihrer Heimatstadt zu berichten; ihr Verhältnis zu lokalen Zeitgenossen und besonders zur vornehmen Baseler Gesellschaft blieb distanziert, auch wenn sie der Stadt niemals gänzlich den Rücken kehrten. 2 In einer für die Argumentation des Buchs wichtigen Passage kommt Gossman daher zu dem Schluß: "[I]f the city was well placed to serve as an ‚refugium' or place of refuge for these men [Burckhardt, Bachofen, Nietzsche, Overbeck], it was at the same time an ‚exilium', a place of exile [...]. The connection between Basel as a society and the critics of modernism who came to be associated with it should probably not be thought of as causal (a certain society 'producing' a certain ideology) but rather as coincidental, a matter of converging interests." (Gossman, S. 102) Die von der konservativen Elite Basels gehegte "patrizische Struktur" traf laut Gossman mit der Ablehnung der Moderne durch Bachofen und Burckhardt zusammen, ohne daß damit das eine auf das andere reduziert werden könnte. 3

Das Fundament dieser Entwicklung liegt für Gossman in der Baseler Bildungspolitik des ersten Drittels des 19. Jahrhunderts: Neuhumanistisch-humboldtsches Ideengut und seine Betonung freier individueller Entwicklung paßte auf die Rechnung der städtischen Elite. Die Hervorhebung von Kultur statt Macht ging mit Vorstellungen der Stadtväter konform, denen die Autonomie ihres Herrschaftsbereichs innerhalb einer föderalen Struktur am Herzen lag; eine allgemeine Bildung entsprach den besonderen Ausbildungsbedürfnissen von Wirtschaftsunternehmersöhnen, die in der Regel erst am Ende einer erfolgreichen geschäftlichen Karriere in die Politik eintraten. "It is easy to understand that the authorities at Basel embraced and promoted with enthusiasm an educational and cultural ideal that was so well adapted to the ideas and interests of the post-Restoration liberal-conservative elite and to their vision of themselves as free citizens of a small polis," schreibt Gossman und zielt damit auf die Anstellung einer Reihe deutscher Akademiker an der Baseler Universität und am städtischen Pädagogium ab, die dann als Lehrer - laut seiner Darstellung - Burckhard und Bachofen entscheidend beeinflußten. (Gossman, S. 74-76) Gegen die Verwissenschaftlichungstendenzen ihrer Zeit und gegen die Transformation neuhumanistischer in nationalistische Ideen (wie in der Geschichtsschreibung der preußischen Schule) hielten Burckhardt und Bachofen an den alten Idealen fest, meint Gossman, und gelangten damit zu einem Konzept von Wissenschaft, das die individuelle Bildung der Persönlichkeit statt der bloßen Ansammlung positiven Wissens zum Zweck der Historie machte.

Indem Gossman den größeren Teil der Werke Bachofens und Burckhardts nacheinander abhandelt, gelingt es ihm immer wieder, seine These an einzelnen Textpassagen deutlich zu machen. Den Vorstellungen beider Gelehrter lag nach seiner Darstellung ein idealisiertes Bild der Stadt zugrunde. Burckhardt und Bachofen bezogen sich so nicht nur auf die außerbaslerische Welt, sondern hielten zugleich ihren eigenen Landsmännern (und deren modernen Bestrebungen in Handel und Wirtschaft) den mahnenden Spiegel vor. Besonders Burckhardt erfährt eine eingehende Analyse. Die Kontinuität und Einheit der Kultur des abendländischen Europa stellte für ihn einen moralischen Imperativ dar, der Basis jeder Praxis in Politik und Wirtschaft zu sein hatte, und den er durch seine Kulturgeschichte nachwachsenden Stadtherren vermitteln wollte, so Gossman. Besonders interessant gerät die Interpretation der "Griechischen Kulturgeschichte", denn hier hat Burckhardt sich gegen eine in seiner Zeit gängige neuhumanistische Idealisierung der griechischen Antike zur Wehr gesetzt und statt dessen eine Verfallsgeschichte geschildert, in der gerade erst der politische Niedergang der Polis den Aufstieg eines neuen Individualismus möglich machte. Dieser führte dann in Burckhardts Augen zur kulturellen Blüte des Hellenismus, durch den griechische Bildungswerte mit nachhaltiger Wirkung für das gesamte abendländische Europa verbreitet wurden. (Gossman, S. 329)

Allerdings läßt sich damit zugleich auf eine Spannung in Gossmans Rekonstruktion hinweisen: Schließlich hat Burckhardt nicht nur eine neuhumanistisch-inspirierte Idealisierung der Polis-Welt abgelehnt, sondern in durchaus vergleichbarer Manier bildungsbürgerliche Blicke seiner Zeitgenossen auf die Renaissance verworfen, die er eben nicht als Wiederbelebung der Antike interpretierte. Auch wenn Burckhardt an überkommenen, neuhumanistischen Vorstellungen seiner Lehrer sowohl gegen deren Denaturierung im deutschen nationalstaatlichen Denken der Folgezeit als auch gegen die verdeckten Modernisierungsbestrebungen seiner Baseler Mitbürger festgehalten hat, wie Gossman meint, dürfte durch den veränderten Kontext zugleich auch Bedeutung und Gehalt dieser Vorstellungen selbst betroffen worden sein. Gossman weist wiederholt auf damit in Verbindung stehende Veränderungen etwa im Verhältnis von Burckhardt und Ranke hin - gelegentlich hätte man sich jedoch eine eingehendere Diskussion der Konsequenzen dieser Veränderungen auf die Grundlagen von Burckhardts Denken gewünscht. Daneben erscheint auch das Bild von Gossmans Baseler Unzeitgemäßen etwas zu harmonisch geraten. Im Gegensatz zu Burckhardt gehörte Bachofen - zumindest der Herkunft und seiner Finanzlage nach - zu den Baseler Patriziern; er war der konservativere der beiden und warf Burckhardt gegenüber Dritten sogar zu liberale Ansichten vor (wie Gossman selbst erwähnt). Bei allen fraglos bestehenden Gemeinsamkeiten zwischen Burckhardt und Bachofen fällt doch auch auf, daß beide jeden persönlichen Kontakt vermieden.

Ungeachtet dieser Bedenken bleibt die Studie in vielerlei Hinsicht anregend, nicht zuletzt, weil Gossman durch seine intime Kenntnis der französischen Historiographie eine Reihe von interessanten Verweisen auf Jules Michelet, Benjamin Constant und Augustin Thierry (u.a.) liefern kann.

Hindes Ausgangspunkt ist ebenfalls die Überlegung, daß Burckhardts Denken sich erst dann erschließen läßt, wenn man es auf seine Erfahrungen als Bürger Basels hin befragt. Im Gegensatz zu anderen Forschermeinungen (wie z.B. Jörn Rüsen) vertritt Hinde die Ansicht, daß Burckhardts "numerous books, lectures and essays reflected ideological commitments that did grant a ‚genuine political function to historical knowledge', albeit one that generally […] reflected the conservative ideals of the Basel elite, while being hopelessly out of tune with the optimistic views of his more famous contemporary German nationalist historians." (Hinde, S. 7) Allerdings sieht Hinde diese politische Dimension nicht als explizite, politische Theorie in Burckhardts Schriften formuliert, sondern findet sie vielmehr in dessen Privilegierung von Bildung und Kultur, die auch für Hinde neuhumanistische Charakterzüge trägt. Konkret macht Hinde dabei eine besondere Form wissenschaftlichen Denkens an Burckhardt aus, die diesen Bildungsgedanken widerspiegelt und von Hinde in der Einleitung als "aesthetics of existence" sowie als "new language of aesthetics" beschrieben wird. (Hinde, S. 28)

Für Hinde steckt in dieser neuen Sprache Burckhardts dabei mehr als die bloße Offenlegung ideologischer Grundlagen: Wenn der Hinweis auch erst zu Beginn des letzten Drittels seiner Untersuchung erfolgt, erkennt er in den Schriften des Baseler Kulturhistorikers doch die Vorwegnahme eines besonderen Konzepts historischer Repräsentation, das der niederländische Geschichtsphilosoph Frank Ankersmit vor einigen Jahren entworfen hat. Demnach soll Burckhardt in seiner Kulturgeschichte statt der Erklärung historischer Vorgänge eine Repräsentation historischer Zustände geliefert haben. Der Begriff der Repräsentation zielt dabei auf einen kreativen, ästhetischen Akt des geschichtlichen Betrachters, der ein subjektives Bild der Vergangenheit entwirft. (Hinde, S. 207)

An Vielfalt der Perspektiven hat Hindes Darstellung durch diese zusätzliche Komponente sicherlich gewonnen - ebenso zweifelsfrei aber hat die Systematik seiner Argumentation darunter gelitten. Die Untersuchung zerfällt in zwei Teile. Burckhardts Baseler Wurzeln finden tatsächlich nur im ersten Teil Berücksichtigung. Die einleitende Kurzfassung der Baseler Stadtgeschichte spielt in den anschließenden Kapiteln kaum eine Rolle; die Einordnung Burckhardts in den deutschen Konservativismus ist interessant, wird jedoch nirgendwo wieder aufgenommen. Der verbindende Steg zwischen Baseler Prägung und neuer Sprache der Ästhetik bleibt für Hinde der neuhumanistische Bildungsgedanke, der gemäß seiner Darstellung einerseits die konservative Ideologie der Baseler Elite repräsentiert, andererseits aber auch Burckhardts besonderer Wissenschaftskonzeption zugrunde gelegt wird. Die Frage, wie beides miteinander vermittelt werden kann, wird indes nicht restlos geklärt.

Der zweite Teil des Buchs beginnt mit einer Einordnung Burckhardts in den wissenschaftlichen Kontext seiner Zeit. Hindes Fazit lautet, für Burckhardt sei die Historie keine Wissenschaft, sondern Poesie gewesen: "The performative function of historians is thus of crucial importance to understand Burckhardt's work. History was not science, it was poetry." (Hinde, S. 197) Tatsächlich steht Hinde mit diesem Schluß in der Burckhardt-Forschung keineswegs allein: Auch Egon Flaig und Heinz Schlaffer etwa sind einer Ästhetisierung von Geschichte bei Burckhardt nachgegangen; auch sie haben darin wie Hinde ein besonderes Kompensationsmittel gesehen, daß Burckhardt gegen die Fragmentierung der Moderne ins Feld geführt haben soll. 4 Anders als diese sieht Hinde jedoch eben nicht nur eine ideologiekritisch bloßzustellende Mythologisierung von Geschichte, sondern ein besonderes, burckhardt'sches Modell von Geschichtskonstruktion, das seinen subjektiven Charakter offenlegt: Denn laut Hinde hat Burckhardt impressionistische Kulturgeschichte betrieben. "In impressionist art and Burckhardt's ‚impressionist' historiography, the content or object of study tends to recede in importance. Instead, the observer places the emphasis on the tone or the representation of the object as perceived by the artist/historian through the distortions of instant vision. The goal is not to create mimesis or exactitude […] but to reflect immediate (historical) impressions." (Hinde, S. 218) Hinde nimmt damit in gewisser Weise eine Formulierung Hayden Whites auf, der über Burckhardts "Kultur der Renaissance in Italien" einmal geschrieben hat, "der ‚Punkt' ist, daß es keinen ‚Punkt' gibt, auf den alles zustrebte" und damit das scheinbar unzusammenhängende Konglomerat von Beobachtungen zur Geschichte der Renaissance als poetischen Kern von Burckhardts Darstellungsweise herausstellen wollte. 5 Hinde weitet diesen Ansatz auf den Kunsthistoriker Burckhardt aus: Burckhardt sei es letztlich nicht um die Einbettung von Kunstwerken in ein historisches Umfeld gegangen (um ihre Entstehung und ihren Gehalt zu erklären), sondern vielmehr um den einzelnen Eindruck des Kunstwerks auf den Betrachter.

Die These überzeugt jedoch nicht. Zunächst fällt auf, daß dem Burckhardt von Hinde zugeschriebenen kulturgeschichtlichen Impressionismus folgend, eine Kontextualisierung von Kunstwerken als subjektive Konstruktion des Kunsthistorikers ohne Änderung der Herangehensweise möglich gewesen wäre: Durch den konstruktiven Charakter des kulturgeschichtlichen Bildes hätte auch hier der Eindruck des Kunstwerks auf den Kunsthistoriker als Betrachter im Vordergrund gestanden. Wie Hinde jedoch selbst referiert, sah Burckhardt sich genötigt, Kunstgeschichte und Kulturgeschichte voneinander zu trennen und für die Kunstgeschichte eine eigene Betrachtungsweise zu entwickeln. (Hinde, S. 280ff.) Wenn Burckhardt Kunstgeschichte und Kulturgeschichte jedoch voneinander trennte, und er damit seinen Begriff von Kunst explizit nur in der Kunstgeschichte verwenden konnte, erscheint Hindes Darstellung von Burckhardts einheitlichem, ästhetischen Blick auf Geschichte und Kunst zweifelhaft. Darüber hinaus ist das Burckhardt von Hinde zugeschriebene Kunstideal nur schwer mit dem neuhumanistischen Bildungsgedanken vereinbar, wenn man dessen Betonung individueller Aneignung objektiver Werte bedenkt. 6

Ungeachtet dieser Einwände wird deutlich, daß Hindes Darstellung auf einer breiten Kenntnis der Materie beruht, die auch einige neue, interessante Hinweise zu bieten hat, wie etwa der Vergleich von Burckhardts Frühschrift "Conrad von Hochstaden" mit Heinrich von Sybels zeitgleicher Studie zu demselben Thema. (Hinde, S. 182ff.) Zum Ende beeindruckt auch der umfassende Blick, den Hinde auf Burckhardt zu werfen versucht hat.

Einen originellen Ansatz hat Thomas Howard in seiner Studie verfolgt. In den Fußstapfen von Karl Löwith wird Burckhardts Geschichtssicht zu zeitgenössischen Diskussionen der Theologie in Beziehung gesetzt. Wie auch andere seiner Zunftgenossen begann Burckhardt seine akademische Laufbahn als Student der Theologie; sein Studium der historischen Bibelkritik des protestantischen Theologen Wilhelm de Wette führte ihn jedoch in eine religiöse Krise, sogar zum Abbruch des Studiums und schließlich zum Wechsel an die Berliner Universität, wo er bei Ranke Geschichte studierte. Howards Fragestellung birgt dabei mehr in sich, als ein erster Eindruck der Abfolge von de Wette (sprich Theologie) und Ranke (sprich Geschichtswissenschaft) vermitteln könnte. Denn wie dargelegt wird, war bereits die Theologie de Wettes tief von einem neuen Drang nach Wissenschaftlichkeit und von historischem Denken durchsetzt. Auf der anderen Seite, so Howards These, blieb Burckhardts Geschichtsdenken auch nach seiner Abkehr von der Theologie durch religiöse Kategorien geprägt, die weniger von de Wette als von der protestantisch-othodoxen Tradition seiner Heimatstadt herrührten. (Vgl. Howard, S. 7)

Das Verhältnis zwischen Burckhardt und de Wette wirft auch Licht auf eine Diskussion des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die in der Regel als Krise des Historismus bezeichnet und mit einem durch die Historisierung allen Denkens hervorgerufenen Werterelativismus verbunden wird. 7 Wie Howard andeutet, läßt sich Burckhardts Abkehr von der Theologie auch als erstes Durchleben einer Krise deuten, die dann später als Krise des Historismus u.a. Ernst Troeltsch zu seiner Strategie einer Kultursynthese anregte: "Simply put, in the 1830s Burckhardt experienced (as an emotional-religious crisis) precisely what Troeltsch described in the 1920s (as an intellectual inevitability)." (Howard, S. 13) Seine Untersuchung will Howard somit auch als Behandlung einer für die Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts zentralen Begegnung von Theologie und Geschichtsdenken verstanden wissen.

Howard konzentriert sich hauptsächlich auf de Wette und die theologischen Diskussionen seiner Zeit. De Wette sah sich selbst in der Kontinuität der historischen Bibelkritik der Aufklärung. Ziel seiner Bemühungen war es jedoch nicht, Texte der Bibel durch historische Forschung zugunsten eines wahren, verschütteten Gehalts zu reinigen, sondern vielmehr, einen besonderen Begriff des Glaubens unabhängig vom historisch rekonstruierbaren Gehalt der biblischen Geschichte zu etablieren. Unter Einfluß der romantischen Wertschätzung der poetischen Phantasie, entwickelte er eine neue theologische Betrachtungsweise, in der Mythos und ästhetischer Sinn zentrale Begriffe bildeten. Objekte ästhetischer Wahrnehmung galten de Wette (in Anlehnung an Schelling) als "lebendiges Sinnbild der Gottheit"; insofern historische Kritik den mythischen Charakter biblischer Texte zu Tage förderte, erhielten diese für de Wette zugleich den Status einer göttlich inspirierten Geschichte. Nicht der historische Gehalt christlicher Überlieferung war laut de Wette für den Glauben relevant, sondern vielmehr das religiöse Bewußtsein der biblischen Mythographen, in deren Erzählungen sich wahre Christlichkeit poetisch "erahnen" ließ. Howard faßt zusammen: "Thus, the aesthetic category of 'Ahnung' provides the key to de Wette's christology." (Howard, S. 89) De Wettes Begriff von Mythologie war u.a. Voraussetzung für David Friedrich Strauß' berühmtes Buch "Das Leben Jesu" von 1835. De Wettes Lösungsvorschlag blieb für die Zeitgenossen jedoch schwer nachvollziehbar - die sich in seinen Schriften äußernde Spannung zwischen Glauben und Wissen rief u.a. bei Jacob Burckhardt grundsätzliche religiöse Zweifel hervor.

Nachdem ein Trostbrief de Wettes an die Mutter des Mörders August von Kotzebues bekannt geworden war, wurde er von der Berliner Universität entlassen, wo er seit 1810 gelehrt hatte. Drei Jahre später fand er an der Universität von Basel eine neue Anstellung. Hier traf er auf ein Umfeld, das von den theologischen Diskussionen der Aufklärung nahezu unberührt geblieben war, und in dem durch den Pietismus die protestantische Orthodoxie neuen Auftrieb erhalten hatte. Auch Jacob Burckhardt entstammte diesem Milieu. Sein Vater war nicht nur Pfarrer, sondern entwickelte auch einen Katechismus, der den Vorstellungen konservativer christlicher Kreise entsprach und der aller Wahrscheinlichkeit nach auch Jacob Burckhardts religiöser Erziehung zugrunde lag. Durch die Konfrontation mit de Wettes Theologie lernte Burckhardt jedoch dessen kritische Bibel-Lektüre kennen, fand dabei allerdings nicht zu de Wettes ästhetisch vermittelten Christentum. In dem Jahr, als sein Vater Vorsteher der Baseler Kirche wurde, brach Burckhardt sein Theologiestudium ab, und wandte sich der Geschichte zu. Statt einer grundsätzlichen Abkehr von religiösen Belangen konstatiert Howard dazu: "Burckhardt's transition to history did not entail a wholesale break with theological concerns. Residual elements of his religious sensibilities and theological training appear throughout his subsequent historical writings." (Howard, S. 111)

Die Ausführung der These bleibt indes eigentümlich blaß. Auf den letzten dreißig Seiten will Howard zum einen verdeutlichen, daß Burckhardts Kulturpessimismus nicht aus einer Rezeption Schopenhauers resultierte, sondern tatsächlich der Betonung des Sündenfalls in der Baseler protestantischen Orthodoxie entstammte. Zum anderen meint Howard, Burckhardt habe seine persönliche religiöse Krise zum Anlaß genommen, sowohl im "Constantin" als auch in der "Kultur der Renaissance in Italien" religiöse Übergangszeiten zum Kern seiner kulturgeschichtlichen Darstellung zu machen. Der Gedanke von der menschlichen Sündhaftigkeit mag für Burckhardts Pessimismus verantwortlich gewesen sein, darin jedoch eine prägende Wirkung der Baseler Orthodoxie zu sehen, bedürfte weiterer Belege. Auch wenn die religiöse Dimension sicherlich einen wichtigen Aspekt in Burckhardts Betrachtung der mentalen Strukturen der ausgehenden Antike und der Renaissance spielt, ist es doch wohl kaum möglich den Kern seiner Darstellung hierauf zu reduzieren. Über Analogien zu seiner eigenen Lebensgeschichte läßt sich nur spekulieren.

Man legt das Buch so doch etwas enttäuscht aus der Hand. Schon die Proportionen der Untersuchung (zwei Drittel de Wette, ein Drittel Burckhardt) werden der Ausgangsfrage nicht wirklich gerecht. Die informative Darstellung von de Wettes intellektueller Entwicklung ist für die Thesen zu Burckhardts Geschichtsdenken inhaltlich nicht mehr von Bedeutung - obwohl man anläßlich der neueren Untersuchungen zu Burckhardts ästhetischem Denken versucht wäre, Vergleiche mit de Wettes Verwendung eines ästhetischen Begriffs der Ahnung anzustellen. Die von Howard angesprochenen Zusammenhänge hätten durch eine stärkere Berücksichtigung Rankes auch eine überaus interessante Erweiterung erfahren können, wenn man bedenkt, daß Burckhardt nach Abbruch seines Theologiestudiums just bei dem Historiker in die Lehre ging, dessen Geschichtskonzeption in der Forschung als "Geschichtstheologie" bezeichnet worden ist. 8

Insgesamt zeigt sich die Burckhardt-Forschung dieser Tage recht munter - für einen Rückgang der Bücherflut gibt es vorerst keine Anzeichen. Wenn Burckhardts Denken dabei auf bestimmte Begriffe und Kontexte hin untersucht wird, dürfte auch derjenige noch zur Lektüre angeregt werden, der den Bericht über manches Detail aus Burckhardts intellektuellem Lebenslauf nur noch murrend erträgt. Die drei vorliegenden Untersuchungen haben hier die Richtung vorgegeben.

Anmerkungen
1 Vgl. Sarasin, Philipp, Stadt der Bürger. Bürgerliche Macht und städtische Gesellschaft. Basel 1846-1914, 2. erweiterte Auflage, Göttingen 1997, S. 117-119.
2 Bachofen gab nach 1845 alle öffentlichen Tätigkeiten für die Stadt auf und zog sich in das zurückgezogene Leben eines Privatgelehrten zurück. Burckhardt beschwerte sich Zeit seines Lebens über die "kontrollierende Krähwinckelei" in seiner Heimatstadt. Vgl. Gossman, Basel in the Age of Burckhardt, S. 122-124 u. S. 232ff.
3 Wie Gossman selbst an anderer Stelle ausgeführt hat, ist diese Fassung des Verhältnisses zwischen Stadt und Intellektuellen das Ergebnis einer Modifikation eigener, früherer Überlegungen, die auf Anregungen Carl Schorskes zurückgeht. Denn zunächst hatte Gossman angenommen, die altbürgerliche Elite Basels habe die Zusammenarbeit mit Kritikern des modernen Fortschritts wie Burckhardt und Bachofen gesucht, weil sie selbst sich durch diesen Fortschritt vom wirtschaftlichen Niedergang bedroht gesehen habe. Tatsächlich hatten Baseler Unternehmer jedoch unter Beibehaltung traditioneller Kommunikationsmuster Anteil an den wirtschaftlichen und technischen Entwicklungen ihrer Zeit. Vgl. Gossman, Lionel, "The Rationality of History", in: ders., Between History and Literature, Cambridge/Mass. u.a. 1990, S. 308-309.
4 Vgl. Flaig, Egon, Angeschaute Geschichte: Zu Jacob Burckhardts Griechischer Kulturgeschichte, Rheinfelden 1987, S. 266ff. sowie Schlaffer, Heinz, "Jacob Burckhardt oder das Asyl der Kulturgeschichte", in: ders./ Hannelore Schlaffer, Studien zum ästhetischen Historismus, Frankfurt/Main 1975, S. 76 u. S. 83; schon 1927 hat Walter Rehm "das Dichterische bei Burckhardts Geschichtsauffassung" untersuchen wollen. Rehm, Walter, "Jacob Burckhardt und das Dichterische", in: Euphorion 28 (1927), S. 97-98.
5 White, Hayden, Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt/Main 1994, S. 329-330.
6 Wie von Christine Tauber kürzlich herausgearbeitet worden ist, läßt sich Burckhardts Kunstbegriff als Verbildlichung eines objektiven Ideals beschreiben, das für den Betrachter von Kunstwerken mittels des sinnlichen Genusses harmonischer Geschlossenheit faßbar werden sollte. Hindes Betonung des subjektiven Aspekts der Betrachterperspektive ist davon zu weit entfernt. Vgl. Tauber, Christine, Tauber, Christine, Jacob Burckhardts Cicerone. Eine Aufgabe zum Genießen, Tübingen 2000, S. 156 u. S. 176.
7 Vgl. hierzu Wittkau, Annette, Historismus. Zur Geschichte des Begriffs und des Problems, Göttingen 1992.
8 Vgl. Hinrichs, Carl, Ranke und die Geschichtstheologe der Goethezeit, Frankfurt u.a. 1954, S. 161ff.

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