Titel
W.E.H. Lecky (1838-1903). Historisches Denken und politisches Urteilen eines anglo-irischen Gelehrten


Autor(en)
Stuchtey, Benedikt
Reihe
Veroeffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London, 41
Erschienen
Goettingen 1997: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
385 S.
Preis
€ 62,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Oliver Ramonat, Historisches Seminar, Johann Wolfgang von Goethe-Universität

"Historie und Politik" ist eines der grossen Themen der Historiographie- geschichte. Der politische Standpunkt der Historiker ist in der Regel schnell geklaert; deswegen konzentriert sich die Forschung auf die Frage, ob und wie Aenderungen der politischen Gegenwart Erkenntnisinteressen, Themen und Darstellung der Wissenschaftler modifizieren koennen. "Kulturgeschichte" ist ein weiteres Schlagwort gegenwaertiger Debatten; allerdings erscheint der reale Gehalt an Neuigkeiten oder gar wirklichen Aenderungen der leitenden Fragestellungen hier noch schwer abzusehen. Fuer beide Fragen ist William Edward Hartpole Lecky einschlaegig. Seine Kulturgeschichte hat sich mit Detailstudien einer eingeschraenkten, kleinen Welt, wie sie heute gelegentlich empfohlen werden, freilich nicht aufgehalten. "Kultur" hatte fuer ihn den klassischen Sinn Voltaires, den auch Jacob Burckhardt uebernehmen sollte, als Zusammenhang saemtlicher zivilisatorischer Leistungen der Menschheit, gipfelnd in Sitte und Kunst; folgerichtig spricht Lecky von einer "History of European Morals". Seine Position wuerde dieser Seite der Debatte neues Anschauungsmaterial liefern. Aber die Politik stand bei diesem "Geisteshistoriker" (Heinrich Ritter von Srbik) stets im Vordergrund, und so konzentriert sich Stuchtey in seiner wissenschaftsgeschichtlichen Studie ganz auf diesen Aspekt, der letzte Teil wird praktisch zu einer politischen Biographie, die Analyse der Werke Leckys tritt hier in den Hintergrund. Einen tiefen Einblick in die intellektuelle Entwicklung des "Leader of Public Opinion" Lecky gewinnt man durch die eingehende Analyse der Positionen und Reaktionen Leckys waehrend der Home Rule-Debatten. Die von Stuchtey gewaehlte Abfolge von Textinterpretationen der Werke und Reaktionen der Oeffentlichkeit macht das Neben- und Miteinander von Historie und Politik, von Wissenschaft und Leben Leckys deutlich. Lecky ist heute nur noch Spezialisten der englischen Geschichte bekannt, mit dem hier vorgelegten Band existiert nun eine intensive Detailstudie, die alle Veroeffentlichungen und den Nachlass Leckys chronologisch vorstellt und auswertet. Das Material wird in mehreren Uebersichten nachvollziehbar praesentiert, die Darstellung ist durchweg fluessig und konzis, sie ist spannend geschrieben und macht neugierig auf die Originaltexte. Ein Register erschliesst den Band. So verdienstvoll und schwierig es ist, die geistig-thematische Entwicklung eines praktisch unbekannten Historikers zu analysieren und vorzustellen, so wichtig erscheint eine klare, begrifflich pointierende Einordnung der Ergebnisse. Stuchtey vermeidet eine solche Gesamtdeutung und stoesst so oft auf "Ambivalenzen" und Unklarheiten in den Positionen Leckys. Versucht man dennoch, mit Stuchteys Material, eine solche zusammenfassende Interpretation von Leckys Positionen in ihrer Konsistenz, waere ein Bild der Art moeglich, wie es hier als Inhaltsangabe angeboten wird. Lecky entstammte einer protestantischen Gutsbesitzerfamilie und erlebte in seiner Jugend die Praxis einer altstaendischen Freiheit. Dieser jenseits blinder Partikularinteressen einer Allgemeinheit verpflichtete Umgang mit Eigentum und Verantwortung sollte ihn sein Leben lang praegen. Immer unterband Lecky den Versuch, ihn auf falsche Alternativen festlegen zu wollen. In seinen "Leaders of Public Opinion" favorisierte er einen formalen Begriff nationalen Selbstbewusstseins, der es Irland gestatten sollte, England gleichberechtigt, aber gerade deswegen versoehnlich gegenueberzutreten. Das genauere inhaltliche Ergebnis des anzustrengenden politischen Prozesses nahm er nicht vorweg. Jenseits von Nationalismus und Kolonialismus betrieb er eigentlich keine Vermittlung dieser Standpunkte, wie Stuchtey annimmt, sondern versuchte ihnen ihre Grundlage zu entziehen. Die Zukunft sollte der Vergangenheit gleichen und Irland von einer grundbesitzenden, verantwortlichen Klasse von Landbesitzern regiert werden. Lecky machte es damit keiner Seite recht, war den einen nicht englisch, den andern nicht irisch genug, wurde laufend missverstanden von einer Zeit, die dieses Abwaegen einer Radikalisierung und Demokratisierung opferte. Seine Grundueberzeugung bleibt im Grunde auf dieser Ebene sein Leben lang die gleiche, wenn er sie auch in wechselnden Fragestellungen inhaltlich verschieden ausformulieren muss. Je aelter er wird, desto mehr Anlass sieht er, einer "Vermassung" seiner Ideale zu steuern. Sein von Buckle inspiriertes Geschichtskonzept steht epistemisch auf der Grundlage eines Dualismus, es ist mithin alles andere als ambivalent. Der Fortschritt naemlich wird ausser- und ueberhistorisch gedacht (vgl. die Passagen zur "History of Rationality"). Er legt eine gerade Linie durch die Zeiten, historische Einzelheiten "verfaelschen" und retardieren kurzfristig diese eigentliche Geschichte der "tendencies". Auf dieser Ebene ist auch eine Erklaerung fuer Leckys Alterspessimismus zu suchen. Es gelingt ihm und interessiert ihn nicht, neue Tendenzen des heraufziehenden Massenzeitalters verstehend zu interpretieren; sein rationalistisches, aufklaererisches Geschichtsdenken reagiert mit Enttaeuschung statt mit Hermeneutik. Die Gegenwart, so koennte man Leckys Geschichtsbild auf den Punkt bringen, wird eben von Tendenzen bestimmt, die der Historiker zu ermitteln hat, sie ist nur relativ zu diesen Tendenzen offen. Leckys Pessimismus ist ein direktes Pendant zu seinem Optimismus eines verfuegbaren, berechenbaren Fortschritts. So unerschuetterlich Lecky an seinem Geschichtsbild festhielt, so leicht ging die Zeit ueber ihn hinweg. Seinem hohem Anspruch einer Gegenwartswirkung durch Historie wird Lecky zunaechst wieder auf einer formalen Ebene gerecht: historisches Wissen selbst kann eine oeffentliche Meinung, ein nationales Selbstbewusstsein schaffen, das differenziert und informiert politische Sachverhalte der Gegenwart einordnet und bewertet. Lecky wehrt sich vehement gegen jegliche Form der Tendenzhistorie (z.B. Froudes "The English in Ireland in the Eighteenth Century") und gewinnt aus seinem politischen Standpunkt jenseits der Parteien, als irenfreundlicher Unionist, als toleranter, laizistischer Protestant, als standesbewusster Aufklaerer ein Konzept von historischer Objektivitaet, das die Forderung nach Unparteilichkeit in den Mittelpunkt stellt. Hier finden wir die vielleicht tiefste Entsprechung von Historie und Politik im Denken Leckys; sein epistemischer und der politischer Grundgedanke wurzeln in der Tat im 18. Jahrhundert. Diese Seite seiner Historiographie wird von den Zeitgenossen in der Regel gelobt und anerkannt, sein explizit politischer Standpunkt hingegen abgelehnt oder nicht verstanden. Aber, so Leckys Antwort, ein Blick in die Geschichte dieser politischen Auffassungen, die so dominant und mit dem Anspruch auf Ausschliesslichkeit auftreten, zeigt eben ihre Genese, ihre Bedingtheit. Dass das, obgleich vordergruendig rein historisch gedacht, selbst eine eminent politische Aussage darstellt, blieb den meisten Zeitgenossen verschlossen. Insofern ist es kein Widerspruch, wenn Lecky immer wieder seine eigenen historischen Schriften politisch interpretiert, oder Interpretationen anderer richtigstellt. Aus der objektiven, unparteilichen Historiographie Leckys kann man naturgemaess unterschiedlichste Auffassungen argumentativ munitionieren; Lecky stellt aber klar, dass er nicht so argumentiert habe und nicht so argumentieren wuerde. Stuchteys Darstellungen der Reaktionen auf Leckys Schriften stellen sehr dichte, exemplarische Miniaturen der Wechselwirkung eines politischen Historikers, der keine Tendenzhistorie schreibt, mit einem mehr und mehr politisierten Publikum dar. Lecky wurde zum Fossil, die ihm entgegengebrachte Achtung museal. Stuchteys Studie schafft alle Voraussetzungen, dass sich das bald aendern koennte.

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