Assmann, Aleida; Heidrun Friese (Hrsg.): Identitäten. . Frankfurt am Main 1998 : Suhrkamp Taschenbuch Verlag, ISBN 3-518-29004-5 461 S. € 15,00

: Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur. Reinbek b. Hamburg 2000 : Rowohlt Verlag, ISBN 3-499-55594-8 680 S. € 16,90

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Uffa Jensen, Technische Universitaet Berlin Institut fuer Geschichtswissenschaft

Keine "Identität" ohne Identitäter? Eine Sammelrezension

In dieser Sammelrezension geht es um einen omnipräsenten und ubiquitären Begriff: Identität. Innerhalb der Kultur- und Sozialwissenschaft hat sich der Siegeszug wiederholt, den der Begriff in politischen und gesellschaftlichen Debatten erfahren hatte. Für die historische Forschung gilt das inzwischen ebenfalls. Er schmückt unzählige Buchtitel, gibt vielen Konferenzen eine gemeinsame Perspektive und dient gar der Begründung von Sonderforschungsbereichen. Seine Allgegenwart auch innerhalb der Fachdebatten ist verdächtig, sie deutet kaum auf begriffliche Klarheit und Ausdrucksschärfe hin. Angesichts dessen stellt sich für Historiker die Frage, wie dienlich der Begriff für die Strukturierung von Forschungsprojekten und die innerwissenschaftlichen Debatten überhaupt ist oder zumindest sein könnte. Mit einem Blick auf zwei Neuerscheinungen, von denen die eine das Werk eines Historikers darstellt, die andere zumindest unter Mitwirkung einiger Historiker entstanden ist, soll hier dieser Frage nachgegangen werden.

Zuerst ist die Aufsatzsammlung "Identitäten" anzuzeigen, die von Aleida Assmann und Heidrun Friese herausgegeben wurde. Die Beiträge zu dem Band sind im Rahmen des von Jörn Rüsen geleiteten Forschungsprojektes "Historische Sinnbildung" am Bielefelder ZiF entstanden. Die Sammlung besteht neben einer zweiteiligen Einleitung aus einem eher theoretischen und einem eher praktischen Teil, wobei sich letzterer in jene drei grossen Bereiche unterteilt, die auch in der Forschungsdiskussion zu Identität eine bedeutende Rolle spielen: weibliche, ethnische und nationale Identität. Daß der Kategorie Klasse hier nicht gleichrangig behandelt, sondern nur in den Aufsätzen gelegentlich thematisiert wird, entspricht dem beklagenswerten Umstand, daß sie in der Debatte um Identitätskonstruktionen nur selten eine Rolle spielt.

In der Einleitung propagieren die beiden Herausgeberinnen die Diskursanalyse als beste Methode, um Identitätskonstruktionen zu untersuchen. Im Gegensatz zu älteren Formen der Ideologiekritik, die stets ein falsches Bewusstsein einem vorausgesetzten richtigen gegenüberstellten, sei es mit dieser Methode möglich, nach den Produktionsformen von kulturellem Wissen zu fragen. Sie halten fest, daß Identitäten über diskursive Formationen und kulturelle Symbole gefestigt würden. Hierbei gäbe es immer eine Tendenz zur Naturalisierung, die man mit Hilfe der Diskursanalyse aufbrechen könne. Identitätskonstruktionen würden durch eine solche Analyse als Produkte unablässigen Aushandelns offenbart.

Überhaupt zeichnen sich alle Aufsätze der Sammlung durch das Bemühen aus, Identitäten nicht als monolithische, unwandelbare Entitäten darzustellen. Sie konzentrieren sich stattdessen auf den Konstruktionsprozess, worin sich sicherlich die allgemeine Tendenz der Identitätsstudien der letzten Jahren spiegelt. Dies wird besonders an den Aufsätzen erkennbar, die verschiedene Identitätsressourcen gegeneinander stellen. So interessiert sich beispielsweise Ute Frevert in ihrem Aufsatz "Geschlechter-Identitäten im deutschen Bürgertum des 19. Jahrhunderts" für die Spannungen zwischen Klassen- und Geschlechteridentität, während Christian Geulen in "Die Metamorphose der Identität" die Langelebigkeit des Nationalismus durch die Verknüpfung von nationaler und ethnischer Identität zu erklären versucht. Damit wird Identität als plurales und konfliktträchtiges Forschungsfeld skizziert. Besonders drei Aufsätze der Sammlung scheinen jedoch für den Zweck dieser Sammelrezension interessant, da sie wichtige Aspekte der grundsätzlichen Problematik berühren.

Der Artikel "Fest-Stellungen. Beobachtungen zur sozialwissenschaftlichen Diskussion über Identität" des Soziologen Peter Wagner beginnt zunächst mit einer Infragestellung der Identitätsforschung. Wagners Beobachtung nach ist es möglich geworden, über Identität zu sprechen, ohne anzugeben, was mit was identisch ist. In der Diskussion werde versucht, konzeptuell etwas festzuschreiben, was man empirisch nicht genau benennen könne. Auch sei es nur selten ein Gespräch über einen identischen Gegenstand, da die Forschung aus vielen Disziplinen gespeist werde. Dabei äussert Wagner im weiteren die Überzeugung, daß der Identitätsbegriff doppelt bedeutsam sei: Personale und kollektive Identitäten seien zu einem zentralen Element der Gesellschaftstheorie und zu einem empirischen Gegenstand geworden. Gleichzeitig stecke in der Identitätsdiskussion erhebliches Irritationspotential für die Sozialwissenschaften. Wagner versucht dies im folgenden durch drei Antinomien der Identitätdiskussion zu erläutern, wobei er vermutet, 'Identität' werfe dabei jeweils eine andere, für die Sozialwissenschaften fundamentale Frage auf. Zunächst sei Identität als Wahl oder Schicksal eine oft erörterte Alternative, hinter der Wagner die Frage nach der individuellen oder kollektiven Handlungsfähigkeit des Menschen annimmt. Zweitens herrsche Uneinigkeit darüber, ob Identität Autonomie gegenüber oder Determinierung durch den Kontext der Sozialisierung bedeute. Damit setze Identität aber die Möglichkeit der Distanzierung zu einem Kontext, einem Nicht-Ich voraus, was wiederum die Sozialwissenschaften zu beschäftigen habe. Schliesslich werde die Alternative zwischen Konstruktion und Realität aufgeworfen, wobei Identität als ein Zeichen für die Stabilität der Welt und für die Verlässlichkeit unseres Wissens von ihr fungiere.

Die Verwendung des Identitätsbegriffes bleibt für Wagner, trotz erheblich Zweifel, sinnvoll, jedoch nur mit der Forderung nach einer "durchgehenden Entontologisierung und Entessentialisierung" (68). Das bedeute dann auch von einer Frage des Seins zur Frage nach dem Werden überzugehen, wie es Wagner in seinen abschliessenden Bemerkungen über das Verhältnis von Identität und Zeitlichkeit in jeder Identitätsvorstellung vormacht. Sowohl die Vorstellung eines kohärenten Ich, die sich in einem Lebenslauf verdichten läßt, als auch die Annahme eines Kollektivs mit einer gemeinsamen Geschichte verweise auf das Faktum, das jede Identität durch ihre Zeitlichkeit konstituiert werde. Damit möchte Wagner nicht zuletzt verhindern, daß die Gefahr jeder Identitatsstudie, ein Fest-Schreiben zu werden, in Vergessenheit gerate.

In seinem Aufsatz "Personale und kollektive Identität. Zur Analyse eines theoretischen Begriffs" orientiert sich der Psychologe Peter Straub an einer kritischen Reflexion von Erik Eriksons Identitätstheorien, um personale Identität beschreiben zu können. Er greift dabei besonders dessen Grundannahme auf, daß man den Horizont gelingender (individuelle) Identitätsbildung abstecken kann, wenn man Formen pathologischer Identitätsdiffusion in den Blick nimmt. Außerdem beschreibt Straub Identität als spezifisch modernes Subjektverhältnis, geformt durch die moderne Erfahrung, "daß nichts feststeht und niemals ein für allemal festgestellt werden kann, wer jemand ist, sein will, sein kann" (88). Angesichts des "dynamisierten Möglichkeitsraum(s)" (88) der Moderne ergibt sich für ihn die Frage, wie ein Subjekt als kommunikations- und handlungsfähige Person gedacht werden kann. An diesem Punkt stecke der Identitätsbegriff einen Horizont ab, der den Handlungen eines Menschen Bedeutung verleihe. Verhalten werde erst dadurch zu einem "orientierten Handeln", d.h. einem Handeln, das Prinzipien und Maximen folge. Identitätskrisen bezeichneten folglich den Verlust von Orientierung und resultierten damit in Handlungsunfähigkeit.

Für die kollektive Identität stellt Straub zunächst den fundamentalen Unterschied zur personalen heraus, der in der körperlichen Existenz der Person zu sehen sei. Auch wenn die Körperlichkeit zunächst nur eine "numerische Identität" (Tugendhat) darstelle und trotzdem mit Bedeutung gefüllt werden müsse, so sei jedoch der Aufwand an Metaphorisierungen im Falle des sozialen Körpers ungleich grösser und das Resultat stets prekärer. Auch wenn Straub diesen Schritt nicht vollzieht, wäre es hier sinnvoll, auf eine begriffliche Trennung zwischen kollektiver Identität und individuelle Selbstverständnis zu drängen. Zwei Überlegungen zur kollektiven Identität von Straub scheinen besonders wichtig: zum einen seine Unterscheidung zwischen einem normierenden und einem rekonstruierenden Typus der Begriffsverwendung. Während Normierung die Inszenierung eines für alle Mitglieder verbindlichen Kollektivs beabsichtige, schliesse man in rekonstruierender Absicht nur an eine vorhandene Praxis der Identifizierung unter den Mitgliedern an, um diese zu interpretieren. Ebenso erscheint seine Betonung direkter Kommunikation für die Ausbildung einer kollektiven Identität bedeutsam: Wir-Gruppen, die "in Verhältnissen direkter Kommunikation und Interaktion" (100) gewachsen seien, besässen eine ungleich stärkere Identifikation mit den Traditionen, Zielen und der Praxis der Gruppe, als dies bei Grossgruppen der Fall sein könne.

Modifizierend sollte man dem entgegenhalten, daß es die entscheidende Frage auch im Falle der anonymen Grossgruppen darstellt, wie erfolgreich sich diese in der direkten Kommunikation etablieren. Es verzerrt das Bild, wenn man, wie Straub das zu tun scheint, die Kommunikationsverhältnisse bei Grossgruppen nur unter dem Gesichtspunkt der Manipulation betrachtet. Der Grundgedanke, daß kollektive Identität in der kommunikativen Verständigung produziert und gefestigt wird - und zwar nach dem Grundsatz: je direkter die Kommunikation, desto gesicherter die Produktion -, ist jedoch wertvoll.

Die Anglistin Elisabeth Bronfen erörtert schliesslich in ihrem Aufsatz "Die Vorführung der Hysterie" das Repräsentationsproblem für die Identitätsdiskussion. Anhand photographischer Selbstbilder verweist sie auf die fundamentale Vieldeutigkeit dieser Repräsentationen. Photos untergraben die scheinbar objektiv präsentierte Einheit des abgebildeten Subjektes auf einer zweiten Ebene der Inszenierungen. Damit führen sie einen "Überschuss an Phantasmen ein in eine Welt, die es sich bequem gemacht hat in dem Glauben, die Identität des Selbst stehe fest" (234). Dies kann man auf die gesamte Identitätsdiskussion übertragen. Wenn man Identität analytisch begreifen und entsprechend in historischen Arbeiten darstellen will, wird man gleichzeitig immer wieder über diesen scheinbar sicheren Grund hinausgewiesen in eine Welt der Phantasmen und Inszenierungen, hinter denen vielleicht nicht jedes Mal ein Ich, sondern bisweilen ein Nichts steht. Dies ruft Unbehagen beim Betrachter hervor, wie Bronfen feststellt. Identität kann im besten Fall eine analytische Abstraktion sein, im Sinne einer Repräsentation von etwas viel Komplexeren, welche nicht selten ihre eigene Logik entwickeln. Wie viel sie mit dem ursprünglichen Gegenstand - in diesem Fall einem historischen Objekt - noch zu tun hat, ist eine legitime Frage.

Die generelle Tendenz dieser Aufsatzsammlung zur Differenzierung und Pluralisierung, ein Reflex auf Bronfens Unbehagen, ist sicher richtig. Nur bleibt der Eindruck, daß dies in vielen Fällen nicht radikal genug durchgeführt wurde. Dies wird besonders deutlich, wenn man die methodische Grundlegung des Bandes hinterfragt. Gegen den bisherigen vorwiegend diskursanalytischen Ansatz in der Identitätsforschung ist einzuwenden, daß dem Forscher, der an Identitätskonstruktionen interessiert ist, zunächst einmal nur unzählige Kommunikationsakte zur Verfügung stehen, die er so ordnen muss, daß aus der verwirrenden Vielfalt grundlegende Tendenzen der Identitätsbildung erkennbar werden. Eine Diskursanalyse - verstanden im klassischen Sinne Foucaults - kann sich leicht als viel zu starr erweisen, da ihre grossflächigen Tableaus dem stets prekären Prozess des Aushandelns und Aneignens von Strukturen nicht gerecht werden. Es wird dann eine Vorstellung kultureller Homogenität vorausgesetzt, die von den handelnden Subjekten abstrahiert, welchen Diskurse als anonyme Entitäten gegenüberstehen, die sich in sie einschreiben. In vielen Diskursanalysen gehen gerade widersprüchliche Quellenbefunde verloren, um die scheinbar allgemeinen Merkmale der Identitätskonstruktionen zu betonen. Hier läßt die Abstraktion, die in jeder sinnvollen Verwendung des Begriff vollzogen wird, die historische Komplexität zu weit hinter sich.

Das zweite Buch, "Kollektive Identität" des Zeithistorikers Lutz Niethammers, ist auf eine ganze andere und wesentlich radikalere Weise eine Reaktion auf jenes Unbehagen, das Bronfen angedeutet hatte. Es läßt sich als eine Art ideologiekritische Begriffsgeschichte mit historistischem Unterbau verstehen. Wie schon in seiner "Posthistoire"-Studie unternimmt Niethammer auch hier eine Spurensuche, die ihn zunächst vor allem in die Zwischenkriegszeit führt. 1 Dort findet er "heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur", durch welche Identität, und insbesondere kollektive Identität, nach 1945 in aller Munde zu sein begann. Um die verschütteten Vorläufer dieses inflationären Sprachgebrauches aufzuklären, bezieht sich Niethammer auf eine vermeintliche Grundtendenz aller historischen Arbeit: nämlich,- wie er es allerdings aus einigem ironischen Sicherheitsabstand nennt - "daß wir [Historiker, U. J.] glauben, im Ursprung einer Sache sei schon ein Gutteil ihrer Geschichte, ihrer Bedeutung, ihrer Struktur und ihrer Wirkungen angelegt. Die Auffindung eines Entstehungszusammenhangs ersetzt uns (...) eine regelrechte Definition unserer Gegenstände." (71) Um es vorwegzunehmen: Niethammer selbst ist mit seinem voluminösen Band in diese historistische Falle getappt.

Das Werk enthält zunächst ein Einleitungskapitel, in dem Niethammer den Identitätsbegriff mit Hilfe der semantischen Analysen Uwe Pörksens als "Plastikwort" fasst. Damit hatte Pörksen Wörter zu fassen versucht, die sich an eine Wissenschaftssprache anlehnen, in sehr vielen verschiedenen Bereichen expansiv Verwendung finden können, zugleich jedoch erstaunlich inhaltsarm sind. Sie besitzen außerdem die Tendenz, recht unterschiedliche Phänomene gleich erscheinen zu lassen, wobei sie diese schliesslich als etwas naturhaft Gegebenes präsentieren. Hiervon ausgehend werden in den weiteren Analysen, die Niethammer unternimmt, immer wieder drei Aspekte auftauchen: Die Identitätssprache sei inhaltsleer, sie werde aber mit umso stärkerer Emphase benutzt, nicht zuletzt weil sie die eigentlichen Inhalte verbergen solle. In einem bemerkenswerten Seitenhieb gegen die meisten gegenwärtigen Identitätstheorien meint Niethammer den Unterschied zwischen konstruktivistischen und essentialistischen Identitätsvorstellungen für nichtig halten zu können. Diese Gegenüberstellung reduziere sich letztlich auf die "Betrachterperspektive": "Als essentialistisch erscheint dann ein Blick, der seinen Wahrnehmungen glaubt und naiv, mutwillig oder konventionell (...) mit der Wirklichkeit identifiziert, während jene Wesensaussagen als Konstrukte entlarvt werden, die man selbst für naiv und falsch hält." (43)

Niethammers Ziel ist die Destruktion der bisher üblichen Begriffsgeschichte des Identitätsbegriffs. Diese stellte stets zwei Quellen des Begriffes in das Zentrum: den symbolischen Interaktionismus (Mead, Strauss, Goffman) sowie die Ich-Psychologie Erik Eriksons. Beides schien ein Instrument anzubieten, mit dem man in diskontinuierlich gewordenen modernen Gesellschaften personale Kontinuität und die Vergesellschaftung des Individuums beschreiben konnte. Zudem schien es aus den demokratischen Traditionen Amerikas zu stammen, weshalb es sich gerade für die Rezeption in Westdeutschland nach 1945 anbot.

Dem stellt Niethammer eine alternative Genese des Begriffes "kollektive Identität" gegenüber, geleitet von seinem Instinkt, daß alles, was im Nachkriegseuropa neu erschien, seinen Ursprung in der Zwischenkriegszeit hatte. Er stösst dabei auf sechs "Identitäter", die maßgeblich an der Übertragung des philosophischen Begriffs in den sozialen Raum beteiligt waren. Der Leser bekommt in den nachfolgenden begriffsgeschichtlichen Analysen zu Carl Schmitt, Georg Lukács, Sigmund Freud, C. G. Jung, Maurice Halbwachs und Aldous Huxley viel Wissenswertes geboten. Anhand dieser Autoren unterscheidet Niethammer drei grundsätzliche Argumentationsfiguren: Carl Schmitt und Georg Lukácz interessiert der Begriff, weil sie mit ihm Zuschreibungen unternehmen können, in denen Staat und Volk sowie Revolution und Proletariat in eins gesetzt werden. Heterogenes wird homogenisiert, um im allgemeinen Chaos handlungsfähige Grosssubjekte konstruieren zu können. Alles nicht Normierbare wird dabei konsequent ausgegrenzt, um die Kampfbereitschaft eines politisierten Kollektivs erhalten zu können. Sigmund Freud und Maurice Halbwachs versuchen demgegenüber, ein Kollektiv neu zu definieren, das nicht mehr religiös abgegrenzt ist und auch unter säkularisierten Bedingungen weiter existiert. Während Freud eine invariante jüdische Ethnizität postuliert, beschreibt Halbwachs die Kontinuität einer Gruppe, die sich in Erinnerungssymbolen und kulturellen Artefakten niederschlägt. Beide grenzen dabei die jeweilige Gruppe von anderen als besonders ab, was in letzter Konsequenz einen verzweifelten Rettungsversuch für vom Verfall bedrohte Gruppen darstellt. Bei Jung und Huxley schliesslich wird der Begriff "kollektive Identität" bemüht, um dem Verlust von Subjektivität und Individualität in einer technisierten Massenkultur Ausdruck zu verleihen. Während bei Jung die kollektive Identität im Massenzeitalter aus einer Regression ins Mythische besteht, wird sie bei Huxley durch soziale und genetische Konditionierung, durch absolute Stabilisierung der Gesellschaft produziert. Hier stellt sie somit eine Bedrohung für den Einzelnen dar, der nur Helden (Jung) oder Ironiker (Huxley) entfliehen können.

Die Analysen sind das Resultat einer tastenden Suche Niethammers. Sie folgen einer Ahnung und stossen auf vielfältige Begriffsverwendungen und Definitionsversuche um das thematische Feld "kollektive Identität", mit denen Niethammer jeweils einen nur auf den ersten Blick abwegig erscheinenden Zugang zu dem Werk der besprochenen Autoren ausleuchtet. Der tastende Charakter der Untersuchung läßt hier jedoch manchen Zweifel entstehen. An manchen Stellen führt ihn sein Grundverdacht gegen die Verwendung des Identitätskonzeptes auch zu weitgehenden Spekulationen, etwa wenn er versucht, den Ursprung von Erik Eriksons Identitätstheorie im Werk C.G. Jungs zu identifizieren. Obwohl er diese Verbindung nicht wirklich zeigen kann, wie er selbst zugibt, hält er an ihr fest, letztlich um die Identitätstheorie Eriksons mit Hilfe des mystischen Identitätskonzeptes Jungs kritisieren zu können. An seinem alternativen Vorschlag der Begriffsgeschichte fällt zudem auf, daß sie sich an Erikson reibt, während die andere Quelle der Konjunktur, der symbolische Interaktionismus, der mindestens ebenso einflussreich gewesen ist 2, nicht wieder aufgegriffen wird. Hier taucht der Verdacht auf, daß dieser nicht in sein Schema passte, Erikson hingegen mittels des Hinweises auf Jung diskreditiert werden konnte.

In einem letzten Teil verfolgt Niethammer seine Spur bis in die Gegenwart und untersucht verschiedene Begriffsverwendungen bei den unterschiedlichsten Autoren. Dabei geht er anfangs auf Debatten über die globale Situation ein und erörtert dabei z.B. Werke von Francis Fukuyama und Samuel Huntington. Darauf folgt die europäische Diskussion mit Kapiteln über Zygmunt Baumann, Ulrich Beck, Jürgen Habermas u.a. Schliesslich mündet dieser Teil in eine Analyse der Begriffsverwendung nach der deutschen Wiedervereinigung, wobei u.a. Peter Sloterdijk, Arnulf Baring und Friedrich Diekmann zur Sprache kommen. Auch hier ist sein Interesse stets darauf gerichtet, die politische Instrumentalisierung und gleichzeitige Inhaltsleere des Begriffes zu demonstrieren.

Allgemein wird die Debatte von Niethammer an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Politik verortet, wobei erstere eigentlich nur als diffuses Ursprungsgebiet für den Siegeszug des Begriffes erscheint, der auf die politische Sphäre ausgerichtet ist. Niethammers Untersuchung der jeweiligen Bedürfnisse seiner "Identitäter" hebt zunächst biographische Skurrilitäeten hervor; seien ihre Antworten gemeingefährlich (Jung, Schmitt und Lukácz), zynisch-hilflos (Huxley), defensiv (Freud) oder irrelevant (Halbwachs). Daß ihr jeweiliges Interesse einer posttraditionellen und -religiösen Lebenssituation entsprang, beschreibt Niethammer zudem. Es bleibt jedoch rätselhaft, wieso er nicht einen Schritt weiter geht. Schliesslich gehen die meisten Identitätstheorien an diesem Punkt davon aus, daß gerade diese Situation der wesentliche Grund für die Konjunktur des Begriffes war. Eine neue Lebenslage verlangte nach einem neuen Begriff, der deshalb bis heute zur Gegenwartsanalyse relevant ist. Dies macht es auch erklärlich, warum die Begriffstransformationen bei Niethammers Identitätern fast immer mit dem Verhältnis von Juden und Nichtjuden in Verbindung standen, wie Niethammer feststellt. Viele Aspekte dieser Beziehungen lassen sich als die Identitätsproblematik moderner Gesellschaften avant la lettre verstehen.

Durch die Engführung auf die politischen Implikationen verliert Niethammer wesentliche Aspekte der Konjunktur des Identitätsbegriffs aus dem Blick. Diese sollte auch im Rahmen der wissenschaftlichen Debatten unter Kulturwissenschaftlern, Literaturwissenschaftlern, Historikern etc. gesehen werden. Dabei kommt man nicht umhin, auf die "kulturalistische" Wende in den entsprechenden Disziplinen hinzuweisen, mit der die kulturellen Differenzen zwischen Gruppen und die Schwierigkeiten interkultureller Kommunikation neu betont wurden. Hier finden sich wichtige Aspekte der Konjunktur des Begriffes, hinter der damit ein Bedürfnis deutlich wird, Gegenwart und Vergangenheit mit kulturgeschichtlichen Methoden beschreiben zu können. Die Frage der Identität ist auch eine Frage nach dem Stellenwert der Kulturgeschichte. Aber selbst wenn man sich auf Niethammers Argumentation einläßt und die politischen Implikationen der Identitätskonjunktur für die wesentlichen hält, bleibt doch festzuhalten, daß die politische Instrumentalisierung des Begriffes, die Niethammer eigentlich beklagen will, auch für ihn in bestimmten Konstellationen Sinn machen kann. So gerät seine Argumentation ins Stocken, wenn er über die Indienstnahme des Begriffes innerhalb der feministischen Theorie oder für politische Forderungen von Minderheiten referiert. Hier offenbaren sich Felder politischer Semantik, in denen der Identitätsbegriff nicht so leicht von der Tagesordnung zu wischen ist. Niethammer klingt daher auch am nachsichtigsten, wenn er über den Begriff einer jüdischen Identität bei Freud referiert.

Darüber hinaus ist die sprachliche Form der Studie aufschlussreich. Das Buch ist assoziationsreich und sehr dicht geschrieben. In ihm findet sich so manche offene und so manche versteckte Polemik, welche die Lektüre kurzweiliger machen. Und doch verrät sich Niethammer an einigen Stellen: So häufen sich gerade im ersten Teil des Buches Anspielungen, welche die Debatten um kollektive Identität direkt oder indirekt auf die diktatorische Vergangenheit(en) der Deutschen beziehen. Beispielsweise bezeichnet er kollektive Identität als einen Zug auf dem Sonderbahngleis der Zukunft, der "irgendwann unerwartet" "an der Rampe eines Lagers" enden wird (40). An solchen Stellen kann man der Studie unterstellen, Identität gegen den Identitätsbegriff stellen zu wollen. Man kann das noch stärker zuspitzen und in dem Motiv der Spurensuche selber eine Art Identitätsreflex auf die Thematik sehen. Der Begriff Identität läßt sich diskreditieren, wenn man nachweisen kann, daß er in der so problematischen Zwischenkriegszeit aufkam und zu welchen ominösen Zwecken er verwandt wurde.

Dies läßt es dann auch logisch erscheinen, daß Niethammer zwei Dinge nicht akzeptiert: Er hält einerseits den posttraditionellen und -religiösen Entstehungszusammenhang des Begriffes bei seinen Identitätern nicht ausreichend für eine Rechtfertigung seiner Verwendung.

Andererseits sieht es auch nicht als sinnvoll an, den Begriff analytisch schärfer zu fassen. Hier liegt das grösste Problem der Studie Niethammers: Als Historiker drückt er sich um eine "regelrechte Definition seines Gegenstandes" (71). An diversen Stellen taucht unvermittelt ein "Wir" auf, das erst auf den letzten Seiten des Buches thematisiert wird, auf denen er ausführt, daß "Wir-Aussagen" (im Gegensatz zur Rede von der kollektiven Identität) für ihn durchaus Sinn machen, weil sie in ihrem subjektiven Charakter erkennbarer, daher diskussionsfähiger und weniger scheinwissenschaftlich seien. Man denke dann über reale Gruppen nach, in denen sich Individuen selbstbestimmt und verantwortlich organisieren. Ganz am Ende des Werkes beschleicht dann den Rezensenten die Furcht, daß er ein sehr ausführliches Buch gelesen hat, das viel Richtiges und Bedenkenswertes enthält, aber nur auf eine einzige Erkenntnis hinausläuft: Daß Forschungsfeld mag ja legitim sein, aber lassen wir doch den Begriff! Der Aufgabe, sich über den hinter den Begriffen - auch hinter dem "Wir" - verbergenden Fragekomplex Rechenschaft abzulegen, entzieht sich Niethammer in seinem Buch bedauerlicherweise.

In diesem Zusammenhang drückt Niethammers Unbehagen ebenfalls ein immer noch verbreitetes Unbehagen über die Möglichkeiten der Kulturgeschichte aus. Man betreibt die zwar selbst allseitig, über ihre Bedeutung als eigenständiges analytisches Erklärungsmodell hegt man aber ungebrochen Zweifel. Gilt hingegen das Interesse der Analyse der vielfältigen Bezüge, die im Bereich zwischen Individuum und Gruppe bestehen und die erst Handlungsfähigkeit ermöglichen, dann wird man einer rein destruktiven Begriffsgeschichte skeptisch gegenübertreten müssen. Man wird nach nüchternen Wegen suchen müssen, dem Feld Herr zu werden. Dabei sollte man nicht zu schnell ein Begriffsinstrumentarium über Bord werfen, das man auch analytischer schärfen kann. Niethammers gekonnte Provokation gehört aber insofern aufgegriffen, als daß das Ende der Reflexionslosigkeit, mit der in vielen Bereichen zu dem Begriff Identität gegriffen wird, eingeläutet werden sollte.

Identität als Begriff wird in vielen Kontexten verwendet. Es ist dabei nicht immer klar, welcher Status der Begriffsverwendung zukommt: Gelegentlich wird er diagnostisch, mitunter analytisch, manchmal sogar normativ eingesetzt. 3 Hier ist eine Klärung vonnöten, die allerdings nicht einfach ist. Es gibt zunächst gute Gründe, die Existenz von Selbst- und Gruppenbildern auch in der Forschung nicht zu ignorieren. Individuen verhalten sich zu Bildern über sich selbst und inkorporieren Bilder über die Gemeinschaften, in denen sie leben und die sie dadurch mit kreieren. Diese Identifikationen würden für eine Begriffsverwendung aus diagnostischem Interesse sprechen. Gleichzeitig abstrahiert man bei der Verwendung des Identitätskonzeptes, ähnlich wie im Falle des empirischen Kulturbegriffes, von einem wesentlich komplexeren Ganzen. Menschliche Handlungen sollen so auf einer analytischen Ebene zusammengefasst und damit verständlicher werden. Wie bei jedem analytischen Begriff läßt sich daher auch gegen die Verwendung des Identitätsbegriffes die Komplexität der analysierten Verhältnisse in Stellung bringen. Der Gewinn der analytischen Abstraktion kann sich nur im Einzelfall erweisen lassen, er wird aber desto geringer, je weiter sich die Darstellung von den diagnostizierten Konstruktionen entfernt.

Darüber hinaus ist der Sinn einer analytischen Abstraktion mittels des Identitätsbegriffes auch deshalb immer stärker Zweifeln ausgesetzt, weil hier in der Tat ein sehr weites Feld mit einem einzigen Begriff erfasst werden soll. Zwar gibt es auch analoge Prozesse auf der individuellen und der kollektiven Ebene, aus analytischen Gründen wäre jedoch eine begrifflich Trennung sinnvoll. Es sollte daher für das Individuum der ungleich konkretere Begriff des Selbstverständnisses gewählt werden, um damit die geringere Abstraktionsstufe zu kennzeichnen. Das Fremdwort "Identität" sollte demgegenüber allein auf die kollektive Ebene verweisen und damit von vorneherein die hier notwendige Komplexitätsreduktion klarstellen.

Gegen die untertheoretische Situation in der Identitätsforschung sollte man schliesslich eine kommunikative Wende einläuten. Der grösste Vorteil der Diskursanalyse für die Untersuchung von Identitätskonstruktionen, das besondere Augenmerk für sprachliche Figurationen, kann beibehalten werden, wenn man statt diskurs- kommunikationsanalytische Methoden anwendet. Dies hätte zudem zwei weitere Vorteile. Man wäre nicht nur an narrative Elemente bei der Beobachtung von Identitätskonstruktionen gebunden, sondern könnte ein ganzes Spektrum von Kommunikationssignalen betrachten. So kann man beispielsweise nur bei einer solchen kommunikativen Erweiterung Ereignisse wie Feste und Rituale, die gerade zur Analyse kollektiver Identitäten sehr bedeutsam sein können, aber auch Teile eines Habitus wie Kleidung, die einiges über individuelle Identitäten ausdrücken können, berücksichtigen. Dies sind aussersprachliche Signale, die nicht leicht in einen Diskurs zu pressen sind, aber trotzdem etwas kommunizieren - und Selbstverständnis und Identität präsentieren. Mit der Erweiterung zu einer kommunikativen Identitätsanalyse erscheint auch der prozesshafte Charakter integrierbar, wie er sich in dem Band von Assmann und Friese an vielen Stellen andeutet. Kommunikation - im Gegensatz zum Diskurs - ist handlungsnäher. Während ein Diskurs gerade von den jeweiligen Handlungen der Subjekte zugunsten der weiter gefassten Tableaus abstrahiert, thematisiert Kommunikation diese einzelnen Handlungen.

Niethammers kategorische Feststellung, daß die Nation "keine Erfahrungskohorte, sondern ein pluraler Handlungsraum" sei 4, - man darf davon ausgehen, daß er dies auch für andere Formen kollektiver Identität als der nationalen sagen würde - erweist sich letztlich als richtig und falsch zugleich. Sie ist richtig, weil die kommunikativen Verhältensweisen in der kleinsten Gruppe sich niemals nur auf die Konstruktion dieser Gruppe beschränken, ja gelegentlich eine solche Konstruktion unterlaufen. Gleichzeitig ist Niethammers These insofern falsch, als sie die Pluralität des Handlungsraumes überbetont und die Reichweite kollektiver Identitätskonstruktionen ignoriert. Zukünftige historische Studien, die mit dem Identitätsbegriff arbeiten wollen, werden hier einen Mittelweg suchen müssen.

Anmerkungen:
1 Lutz Niethammer: Posthistoire. Ist die Geschichte zu Ende, Reinbek b. Hamburg 1989.
2 Um stellvertretend für viele nur ein Beispiel in der westdeutschen Rezeption zu nennen: Jürgen Habermas: Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a. M. 1984, S. 187 ff.
3 Vgl. Alexander C. T. Geppert, Exponierte Identitäten? Imperiale Ausstellungen, ihre Besucher und die Frage der Wahrnehmung, 1876-1937, in: U. v. Hirschhausen/ J. Leonhard (Hgg.), "Nation-building" und nationale Identitäten im 19. Jahrhundert: West- und Osteuropa im Vergleich, voraussichtl. Göttingen 2001.
4 Ursprünglich in: Lutz Niethammer: Konjunkturen und Konkurrenzen kollektiver Identität. Ideologie, Infrastruktur und Gedächtnis in der Zeitgeschichte, in: M. Werner (Hrsg.): Identität und Geschichte. Jenaer Beiträge zur Geschichte, Weimar 1997, S. 175-203., hier: S. 200. In dem hier besprochenen Werk vgl. S. 365.

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